Die italienische Dichterin Alda Merini
"Ich kann keine Heilige werden"
Wie macht man eine literarische Entdeckung? Wie findet man in diesen Gebirgen aus Büchern die eine Perle, für die man alle anderen Werke vergisst? Oder: Wie bin ich ausgerechnet auf Alda Merini gestoßen?
Alda Merini, wie so oft, mit Zigarette
Alda Merini war eine leidenschaftliche Raucherin....
Effigie, Leemage / picture alliance
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
25.10.2024
3Min

Die Antwort ist leicht. Es war bei mir – wie bei vielen – der Hinweis eines anderen Menschen, von Mund zu Ohr, der dazu führte, dass ich die Verse einer der bedeutendsten italienischen Dichterinnen – in Deutschland bisher vollkommen unbekannt – zu lesen begann.

Allerdings erreichte mich dieser Hinweis auf unerwartetem Wege, nämlich vermittelt durch eine Examensarbeit.

Als Zweitkorrektor hatte ich die Examensarbeit der damaligen Berliner Theologiestudentin Magdalena Bredendiek zu begutachten. Sie hatte eine Zeitlang in Italien studiert und dort Alda Merini kennengelernt. Auch Milva, die Vertonungen ihrer Gedichte populär gemacht hatte, hatte sie neugierig gemacht.

Als Theologin waren Bredendiek die starken, irritierenden und inspirierenden religiösen Motive in Merinis Werk aufgefallen. Also hatte sie sich die Übersetzung und Deutung zur Examensaufgabe gemacht.

Lesetipp: Was man heute aus 30 Jahren alten Interviews lernen kann

Alda Merini (1931 bis 2009) ist in Italien ungefähr das, was Ingeborg Bachmann für die deutschsprachige und Sylvia Plath für die englischsprachige Welt sind: eine große Lyrikerin, eine mutig aufbegehrende Frau, eine psychisch prekäre Person, ein Opfer des alten Psychiatrie-Regimes. Ihr Werk zerfällt in einen frühen und späten Teil. Dazwischen liegen Jahre des Verstummtseins.

Diese musste Merini in der Psychiatrie verbringen. Ihre Erkrankung damals lässt sich nicht leicht mit heutigen Begriffen fassen, vielleicht ist "bipolare Störung" am passendsten. Psychiatrie vor den Reformen der 1970er Jahre hieß: Inhaftierung, Überdosierung, Elektroschocks, Gewalt, sexualisierte Gewalt, Kindesentzug.

Lesetipp: Wie es kranken Menschen vor der Psychiatriereform erging

In ihren Gedichten begegnet man dem Überalltäglichen, auch Wahnhaften, großem Schmerz, zugleich einer überwältigenden Lebenslust. Die Begierde spielt eine immense Rolle ("Ich kann keine Heilige werden, denn in den Händen halte ich immer das Gewehr der Begierde"), ebenso wie das Religiöse, in christlich-katholischer Ausprägung. Es ist nicht leicht zu fassen. Denn Merinis Religion ist nah am Wahn – und das ist nicht als Kritik gemeint –, zudem ist sie hin- und hergerissen zwischen Klage, Anklage und Hinwendung, Hingabe.

Wer jetzt neugierig geworden ist, sollte sich das einstündige Feature "Die Pistole an meiner Schläfe heißt Poesie" auf WDR1 anhören, das der Radio-Essayist Burkhard Reinartz gemacht hat. Kundig führt er durch Merinis Leben und Werk, in ihrer Heimatstadt Mailand hat er wunderbare Aussagen von Weggefährten und Familienmitgliedern eingesammelt, gesungen und gelesen, italienisch und deutsch gibt er ihren Versen einen wunderbaren Auftritt. Eine Sternstunde des deutschen Radios.

Pünktlich zur gerade beendeten Buchmesse gibt jetzt endlich auch einen zweisprachigen Auswahlband mit dem Titel "Die schönsten Gedichte schreibt man auf Steine" (übersetzt von Christoph Ferber). Während ich eine Examensarbeit brauchte, können Interessierte jetzt einfach zur Buchhandlung ihres Vertrauens gehen und Gedichte wie diese entdecken:

Ich war ein Vogel,

mein Unterleib weiß und zart,

und jemand hat mir die Kehle

entzweigeschnitten,

um, ich weiß nicht,

darüber zu lachen.

Ich war ein mächtiger Albatros

und kreiste über den Meeren.

Jemand hat meine Reise

ohne jegliches Mitleid

klang- und sanglos beendet.

Doch auch am Boden liegend

sing ich für dich

meine Lieder der Liebe.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur