- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Reiner Kunze kannte Ost- und Westdeutschland wie wenige andere. In der DDR war er zu einem von vielen Menschen intensiv gelesenen, aber vom Regime bösartig verfolgten Dichter geworden. 1977 musste er dieses Land verlassen und zog in die Bundesrepublik.
1993 wurde er gefragt, woher die erschreckende Gewalt auf deutschen Straßen käme. antwortete:
„Sie hat viele Ursachen und im Osten zum Teil andere als im Westen. Hier ist es u.a. die Tendenz, alle tradierten Werte und jede gewachsene Bindung in Frage zu stellen, was zu innerer Haltlosigkeit führt. Im Osten haben sich die Gruppen, in denen man eingebunden war, aufgelöst. Die große orientierungslose Freiheit ist ausgebrochen. Hinzu kommen Arbeitslosigkeit, soziale Ängste usw. Die wenigsten sind Rechtsradikale, aber der Rechtsradikalismus nutzt natürlich die Stunde.“
Auf die Folgefrage, was denn zu tun sei, erklärte er:
„Versuchen, Halt zu geben und Gewalt mit rechtsstaatlicher Gewalt zu brechen.“
Ein Jahr zuvor sollte Kunze Stellung nehmen zum wachsenden Rechtsextremismus bei den Deutschen. Er bemerkte:
„Ich werde niemals von den Deutschen sprechen, wie ich nie von den Serben sprechen werde. Die letzten vierzig Jahre hier in der Bundesrepublik haben doch gezeigt, dass die Menschen in der Mehrheit nicht ausländerfeindlich sind.“
Aber: „Das Gewaltmonopol muss beim Staat bleiben, und dieser muss es so einsetzen, dass er seinen Bürgern höchstmöglichen Schutz bietet.“
Um das Problem der Ausländerfeindlichkeit, zu lösen, reichen aber keine polizeilichen Maßnahmen, vielmehr müsse man, so Kunze 1993, am Verständnis von „Volk“ arbeiten:
„Solange sich die Nationalität ethnisch oder religiös definiert und nicht politisch, und zwar demokratisch-politisch, werden andere in dieser Nation lebende ethnische und religiöse Gruppen nie die volle Gleichberechtigung erhalten können.“
Lesetipp: Wie die DDR noch immer das Leben von Menschen prägt
Als Kern der politischen Polarisierung in Deutschland nahm Kunze schon 1991 eine Entfremdung zwischen Ost und West wahr:
„Nach dem Fall der Mauer haben sich der Westen und der Osten in Deutschland erst einmal gründlich abgestoßen, und zwar bei durch Maßlosigkeit. Der Westen den Osten durch partielle ruchlose Profitgier. Und der Osten den Westen durch sofortige Einforderung aller Vorzüge der Marktwirtschaft und des Sozialstaates bei Beibehaltung der alten Denk- und Lebensgewohnheiten. Wir haben einander gegenseitig überfordert.“
Mich sprechen Kunzes politische Bemerkungen an, weil er tastend, mit mehr Frage- als Ausrufezeigen formuliert, keine vollständigen Erklärungen, sondern Ansätze anbietet, seine Rolle als Schriftsteller genau bedenkt, Interesse für die jeweils andere Seite weckt, auf Verständigung zielt, dabei aber an seinen ethischen Prinzipien festhält. (Darin erscheint er mir wie ein im besten Sinne evangelischer Zeitdeuter.) Am wichtigsten ist ihm, dem in der DDR verfolgten Dichter, die Freiheit:
„Diejenigen, die in der DDR nahezu erstickt sind, werden die Freiheit stets als den Wert empfinden. Aber hat denn die Mehrheit der Menschen tatsächlich die Freiheit gewollt? Die Menschen in der DDR haben nicht wissen können, was das ist, die Freiheit zu wollen. Sie haben geglaubt – nicht alle, ich weiß –, Freiheit sei etwas, das man ohne Gegenleistung erhalten kann. Sie haben eine Freiheit ohne Risiko erwartet. Eine Freiheit, die man abheben kann bei Bedarf. Eine verwaltete Freiheit. Eine bequeme Freiheit. Da kann ich nur sagen: Nichts ist unbequemer als die Freiheit. Aber auch nichts ist begehrenswerter. Frei sein heißt, sich entscheiden müssen.“
Wer es selbst nachlesen möchte, suche eine antiquarische Ausgabe von „Wo Freiheit ist… Gespräch 1977-1993“ (Frankfurt/Main 1994).
P.S.: Seit 2005 reist Jörg Lüer, Geschäftsführer des katholischen think tank „Jusiticia et Pax“, in die Ukraine. In meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ spreche ich mit ihm über seine aktuellen Erfahrungen und ihre langen Vorgeschichten