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In diesen Wochen und Tagen vor der Bundestagswahl ist oft zu hören, dass nur wir in Deutschland den Sonderweg mit den Erneuerbaren beschreiten würden, während andere auch auf die Atomkraft setzen. Stimmt das?
Christoph Pistner: Nein! Wir sehen keine Renaissance der Kernenergie, sondern eine Renaissance der Diskussionen über die Kernenergie. Wenn wir uns ansehen, was auf der Welt in die Atomenergie investiert oder was wirklich an Anlagen gebaut wird, kann von einem Comeback keine Rede sein. Die Anzahl der Kernkraftwerke auf der Welt ist mit etwa 400 Anlagen im Großen und Ganzen in den vergangenen Jahrzehnten konstant geblieben. Aber ihr Anteil an der Stromproduktion sinkt.
Warum ist das so?
Der Stromhunger ist gewachsen. Wir brauchen mehr Energie. Es wurden also viele Energiequellen zugebaut, zuletzt besonders auch Windenergieanlagen und die Photovoltaik. Ende der 90er Jahre betrug der Anteil der Kernenergie am weltweiten Stromverbrauch 17 Prozent, heute sind es unter zehn Prozent. Es gibt aber auch eine Ausnahme, was Neubauten angeht.
Und die wäre?
China ist das einzige Land, das die Atomenergie in der jüngeren Zeit nennenswert ausgebaut hat. Aber auch die Erneuerbaren legen dort ein rasantes Tempo an den Tag. Und Kohle spielt leider noch immer die größte Rolle.
Erneuerbare Energien schwanken in ihrer Leistung. Je nach Jahres- und Tageszeit sowie den Wind- und Wetterverhältnissen liefern sie mal mehr, mal weniger Strom. Im Winter ist die Windenergie stärker, im Sommer die Photovoltaik. Strom aus Kernenergieanlagen fließt dagegen stetig, Tag und Nacht, und ist schwer regelbar – es gibt überwiegend An oder Aus. Wie sollen diese beiden Energiequellen in ein System passen?
Hinter Ihrer Frage verbirgt sich eine weitere Frage: Ist ein System mit 100 Prozent erneuerbaren Energien überhaupt machbar und bezahlbar?
Genau! Was meinen Sie?
Ja, es ist machbar. Durch eine Kombination der Erneuerbaren Energien, Speichertechnologien, sehr flexible Spitzenlastkraftwerke im Zusammenspiel mit einem Netzausbau und einer Steuerung auch auf der Nachfrageseite geht das. Offen ist, ob in manchen Ländern Grundlastkraftwerke in Zukunft noch eine Rolle spielen.
Dr. Christoph Pistner
Und könnten das in Zukunft Kernkraftwerke sein?
Das hängt zunächst davon ab, wie teuer Strom aus Kernenergie ist. Wenn man sie dann bei einem Überangebot an Strom beispielsweise dazu nutzen würde, Wasserstoff zu produzieren, müsste man davon weniger importieren.
Und kann das gelingen?
Die Kosten von Neubauten sind sehr hoch, die Kosten für Strom aus Wind und Sonne sind deutlich niedriger. Die wenigen Kernenergieanlagen, die in westlichen Ländern zuletzt gebaut worden sind, waren alle viel teurer als gedacht. Der Bau des AKW Flamanville, in Frankreich am Ärmelkanal gelegen, dauerte 17 Jahre. Es sollte etwa drei Milliarden kosten – es wurden aber über 14 Milliarden. Hinzu kommen ungelöste Probleme wie die Endlagerung und das Risiko schwerer Unfälle. Deshalb glaube ich: Selbst wenn Grundlastkraftwerke gewisse Vorteile bieten könnten, werden das keine Kernkraftwerke sein. Sie sind schlicht zu teuer.
Lesetipp: Ist die Forderung nach Atomenergie Teil der sogenannten "Verzögerungsstrategien"?
Die Debatte um die Kernenergie nahm in Deutschland auch Fahrt auf, weil Internetriesen wie Google ankündigten, auf kleine Nuklearanlagen zu setzen. Was halten Sie davon?
Da werden verschiedene Dinge in einen Topf geworfen, die aber jeweils unterschiedlich zu bewerten sind. Grundsätzlich ist es so: Heute werden praktisch ausschließlich große Kernenergieanlagen gebaut mit einer Leistung von einem bis 1,6 Gigawatt. Vor etwa 25 Jahren setzte in den USA, dem Land mit der weltweit größten Kernkraftflotte, die Diskussion ein: Unsere Anlagen kommen in die Jahre, sie werden nicht unendlich weiterlaufen, und sie immer wieder zu ertüchtigen, wird teuer. Also wurde geplant, bis zu zehn neue Anlagen zu fördern. Zwei davon ging man letztlich konkret an. Eine davon wurde wieder aus Kostengründen eingestellt, nur eine Großanlage ging voriges Jahr ans Netz, nach über zehn Jahren Bauzeit und einem Kostenanstieg um den Faktor 2,5. Und nun sagt natürlich jeder Industriekunde: Das dauert uns viel zu lange, das ist uns zu teuer, so große Anlagen sind nicht attraktiv.
Und was ist die Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung?
Zunächst: dass alte Anlagen noch länger laufen, mit allen Sicherheitsrisiken. Und zeitgleich kam der Ruf nach kleineren Anlagen auf. Und hier muss man wieder unterscheiden. Es gibt die Idee der Small Modular Reactors, das sind kleine Anlagen, die wassergekühlt sind. Und die Hoffnung ist: Wenn man sie in großen Stückzahlen produziert, werden sie günstiger. Es ist aber vollkommen unklar, ob das klappt. Bisherige Prototypen sind - bezogen auf ihre Leistung - nochmal wesentlich teurer als große Kraftwerke. Es ist aber denkbar, dass sie sicherer wären als große Reaktoren. Allerdings bleibt das Problem radioaktiver Abfälle und des Dual Use.
Was ist das, Dual Use?
Dass bei diesen Small Modular Reactors Materialien und Technologien verwendet werden, die man auch für Atomwaffen nutzen kann.
Small Modular Reactors sind die eine Idee – gibt es noch weitere Ideen?
Die sogenannte "Generation-4-Initiative". Den Begriff halte ich für irreführend, weil er den Eindruck erweckt, es handele sich um etwas ganz Neues. Dabei gehen auch diese Konzepte bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts zurück.
Was ist der Unterschied zu den Small Modular Reactors?
Zunächst mal können das auch große Anlagen sein. Der Unterschied ist: Es wird mit anderen Kühlmitteln geplant, mit Gasen oder Flüssigmetallen wie Blei oder Natrium. Zwei natriumgekühlte Reaktoren sind in Russland in Betrieb, zwei sind in China und einer in Indien in Bau– aber sie sind ökonomisch bis heute nicht konkurrenzfähig. In der Bundesrepublik war der Schnelle Brüter von Kalkar im Bau, der auf ähnlichen Überlegungen basierte – und ging nie ans Netz.
Dennoch machten die Ankündigungen großer Unternehmen aus den USA in Deutschland Schlagzeilen, den Strom für die Rechenzentren und Server aus solchen kleinen Nuklearanlagen zu beziehen. Wie kann das sein?
Manche Kunden sagen: Wenn ihr bis Mitte der 2030er günstigen Strom aus solchen Anlagen liefern könnt, werden wir ihn euch abnehmen. So ein Vertrag ist im Prinzip nicht viel wert und für Unternehmen wie Microsoft risikolos, es spricht aber wenig dafür, dass solche Anlagen in zehn Jahren preiswerten Strom liefern können. Andere wie Google investieren selbst in solche Anlagen, sie gehen hier sehr stark ins Risiko.
Also müssen es doch die Erneuerbaren richten?
Damit rechne ich. Die Erneuerbaren sind nicht das Problem. Sie sind kostengünstig und lassen sich schnell bauen. Die Herausforderung besteht in der Infrastruktur, also in gut ausgebauten Stromnetzen und in Möglichkeiten, Strom zu speichern. Aber diese Probleme werden gelöst. Zusätzlich braucht es Kraftwerke für kurze Zeiträume mit hohem Stromverbrauch, die schnell anspringen. Sie können mit Wasserstoff betrieben werden. Diese Kraftwerke sind noch nicht da, aber der Weg in dieses System ist skizziert.