Kriminalität
"Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik"
Nicht erst seit der Terrorattacke von Solingen geht in Deutschland die Angst um. Der Kriminologe Martin Thüne erklärt, welchen Nutzen Messerverbotszonen haben und ob Ausländer besonders kriminell sind
Die Bundespolizei hat zusammen mit der Landespolizei, DB Sicherheit und der Hochbahn am Hamburger Hauptbahnhof in der Samstagnacht die Waffenkontrollzone kontrolliert. Diverse Waffen wurden sichergestellt.
"Waffen verboten" - eine eindeutige Beschilderung im Hamburger Hauptbahnhof
Imago Images
Tim Wegner
28.08.2024
6Min

Helfen Messerverbotszonen, wie sie nun nach dem Attentat von Solingen gefordert werden?

Martin Thüne: Die Einrichtung von Messerverbotszonen wirkt oft eher aktionistisch, aber ich bin kein pauschaler Gegner dieser Maßnahme. Sie hat eine Symbolkraft: Wir kümmern uns als Staat um ein Problem. Und das kann ein wichtiges Symbol sein. Aber solche Zonen widmen sich eben nicht den Ursachen von Kriminalität: Warum tragen manche Menschen ein Messer und andere nicht? Warum setzen einige von ihnen Messer ein und andere wiederum tun genau dies nicht?

Martin Thüne

Prof. Dr. Martin Thüne ist Kriminologe und Polizeiwissenschaftler. Er forscht und lehrt unter anderem an verschiedenen Polizeihochschulen in Deutschland, ist aber auch im Rahmen der Fortbildung von erfahrenen Polizeikräften tätig.

Wissen Sie eine Antwort?

Wenn übermäßig viel über Kriminalität gesprochen und berichtet wird, kann das ungünstige Effekte haben. Ist immer der rote Alarmknopf gedrückt, entstehen übersteigerte Kriminalitätsängste. Manche Leute bewaffnen sich zu ihrem eigenen Schutz, weil sie sich sagen: "Ich höre permanent von den Politikern und den Medien, dass alles immer schlimmer wird und alle mit Pfefferspray und Messer herumlaufen." Und dann rüsten sie auch auf. Und wir wissen aus der Kriminologie: Wenn Waffen im Umlauf sind, werden sie leider auch eingesetzt. Ich würde mir wünschen, dass wir die Dinge mit einer gewissen Professionalität und Nüchternheit besprechen – und eben primär orientiert an wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Kriminalitätslage.

Aus unserem Archiv: der Kriminologe Jörg Kinzig im Interview zur Frage, ob die Kriminalität zunimmt

Nimmt die Messerkriminalität überhaupt zu?

Es gibt Indizien, die darauf hindeuten, dass es in der jüngeren Vergangenheit - also in den letzten zwei, drei Jahren - zu einer Zunahme kam. Allerdings haben wir keine guten Daten. Angriffe mit Messern werden erst seit 2020 erfasst. Man kann davon ausgehen, dass die Zahlen nicht sofort mit Einführung der Statistik belastbar sind. Wahrscheinlich lassen sie sich erst ab 2022, wahrscheinlich sogar erst ab 2023 sinnvoll auswerten. Auch weil wir eine Pandemie hatten.

Was hat Corona mit Kriminalität zu tun?

2020 und 2021 fanden viele öffentliche, aber auch private Veranstaltungen gar nicht erst statt. Bei vielen Delikten hatten wir in dieser Zeit einen absoluten Tiefstand, weil die Rahmenbedingungen zur Begehung bestimmter Delikte überhaupt nicht gegeben waren. Danach sieht man nun logischerweise: Die Zahlen steigen an. Außerdem vergleicht man oft zu kurze Zeitabschnitte miteinander, so dass der Anstieg wirkt, als erfolge er schnell und sei sehr groß. Längerfristige Daten speziell zur Messerkriminalität fehlen uns aber.

2023 gab es eine Messerattacke in Brokstedt, nun den Terrorakt in Solingen: Die Medien sind voll mit schlimmen Vorkommnissen …

Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Krisen überlagern: die Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise, die auch wieder zu einer erhöhten Zuwanderung führt, die Wirtschaftskrise, die Inflation, ein Teil der Bevölkerung wird ärmer, ein anderer, sehr kleiner Teil reicher ... Wer ohnehin schon in einer schwierigen Lebenslage war, ist von solchen Entwicklungen meistens doppelt und dreifach betroffen. Dies wiederum kann anfällig machen für Radikalisierung und die Ansprechbarkeit durch kriminelle oder gar terroristische Akteure. Insgesamt rumpelt es in der Gesellschaft aktuell an verschiedenen Stellen. Das sehen wir nicht nur an polizeilichen Statistiken, sondern hören es auch aus dem medizinischen Bereich.

Zum Beispiel?

In der Berliner Charité sind im ersten Halbjahr 2024 wohl so viele Stichverletzungen behandelt worden wie im gesamten Jahr 2023. Auch in der Sicherheitsszene, etwa von Türstehern, hört man, dass mehr Leute ein Messer dabeihaben. Wir haben kein Gesamtbild, sondern nur einzelne Puzzlesteine, aber diese Steine deuten darauf hin, dass wir tatsächlich einen realen Anstieg verzeichnen. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass es verschiedene Wahrheiten gleichzeitig gibt. Das Glas ist sowohl halbvoll als auch halbleer, beides stimmt.

Das müssen Sie bitte erklären!

Wir hatten über viele Jahre, etwa seit 2007, einen erheblichen Rückgang von Gewaltstraftaten, sowohl im Jugendbereich als auch insgesamt. Wenn man lange Zeit einen Rückgang hat, kommt irgendwann der Punkt, an dem es wieder hochgeht. Mein Eindruck ist, diesen Moment erleben wir gerade. Das ist nicht schön und man muss etwas dagegen machen. Aber nach allem, was wir wissen, sind wir immer noch unterhalb der Zahlen, die wir früher bei Gewaltverbrechen hatten.

Ginge die Zahl der Messerstraftaten zurück, wenn es weniger Migration gäbe?

Einen solchen Kausalschluss geben die Daten nicht her. Weder bei der Messer- noch insgesamt bei der Gewaltkriminalität. In allen Deliktsbereichen werden teils weit über 50 Prozent aller registrierten Taten von Deutschen begangen. Eine interessante Frage ist ja: Wieso sprechen wir immer über eher kleine Gruppen wie Jugendliche oder Zugewanderte, wenn es um Kriminalität geht?

Lesen Sie hier: Sollte die Polizei die Nationalität von Tatverdächtigen nennen?

Was meinen Sie?

Es hat etwas mit Psychologie, mit Ingroup-/Outgroup-Prozessen zu tun. Es ist immer einfacher, auf die anderen zu zeigen und sich an Sündenböcken abzuarbeiten. Man könnte sich ja auch fragen: Wieso sprechen wir nicht über die Gruppen, die in absoluten Zahlen den größten Anteil an Gewaltdelikten begehen, darunter häusliche Gewalt und auch Tötungsdelikte, zum Beispiel in Partnerschaft und Ehe? Und das sind statistisch betrachtet nun mal überwiegend Deutsche. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Diskussion um Zuwanderungskriminalität untrennbar mit Rassismus verbunden ist. Dafür spricht auch, dass ein Befund aus der Kriminologie und Migrationsforschung immer hinten runterfällt.

Der da wäre?

Die erste Generation an Zuwanderern ist – in der Fachsprache ausgedrückt –deliktisch häufig weniger auffällig als die Vergleichsgruppe in der deutschen Bevölkerung. Das gilt auch für junge Männer, auf die ein besonders kritischer Blick lastet. Allerdings ist die zweite und dritte Generation dann häufig überrepräsentiert.

Warum?

Dass die erste Generation weniger auffällig ist, erscheint einleuchtend, weil diese Menschen erst mal ankommen und sich ganz überwiegend ein gutes und straffreies Leben aufbauen wollen. Dass es in folgenden Generationen schlechter aussieht, hat offenbar mit mangelnder Integration und Fehlern in der Migrations- und Sozialpolitik zu tun. Es lohnt sich, hier genau hinzusehen: Was passiert da, warum passiert dieser negative Shift von erster zu folgender Generation so häufig? Und liegt das wirklich allein an den betroffenen Menschen oder eher an ungünstigen Rahmenbedingungen hierzulande?

Was hilft also unter dem Strich aus Ihrer Sicht, um Kriminalität zu verhindern?

Zuvorderst gute und vor allem gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Nicht alle haben ein gutes Leben. Dazu gibt es laufend neue Daten, Stichwort Kinderarmut in Deutschland: Mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Deutschland waren 2023 armutsgefährdet. Wir sprechen regelmäßig über Jugendgewalt. Aber diese Entwicklung wird selten in Verbindung gebracht mit den Zahlen zur Kinderarmut. Welche Institutionen für Jugendliche haben wir eigentlich im ländlichen Raum, was ist mit Jugendclubs, mit Hilfsangeboten? Es gibt diesen sehr alten Spruch, der nach wie vor gilt: Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik.

Lesetipp: Ein Interview mit dem Psychiater Tobias Renner über junge Menschen und ihre Probleme

Das bedeutet?

In der Forschung besteht Einigkeit, dass es eher die weicheren, die sozialpolitischen Maßnahmen sind, die helfen - die aber auch Geld kosten und deren Nutzen man nicht unmittelbar am nächsten Tag sieht.

Sie dozieren vor angehenden Polizistinnen und Polizisten. Folgen die jungen Menschen Ihrer differenzierten Sichtweise? Schließlich hört man häufiger die Befürchtung, dass die Polizei eher rechtsgerichtete Menschen mit einem Drang zu "Law and Order" anzieht …

Ich erlebe die jungen angehenden Beamtinnen und Beamten in der Regel als sehr aufgeschlossen, interessiert und konstruktiv-kritisch. Das sind Menschen, die helfen und sich einbringen wollen. Ich bin allerdings bundesweit in der Aus- und Fortbildung tätig und da erkenne ich regional auch Unterschiede in der Polizeikultur. Teilweise hängen die mit unterschiedlichen personellen Zusammensetzungen der Polizeien zusammen. Ein Stichwort ist hier: Heterogenität versus Homogenität des Personalbestands – sowohl von der Herkunft her, aber auch mit Blick auf andere Kriterien, etwa die aktive Einbeziehung unterschiedlicher Professionen, die miteinander arbeiten – oder eben auch nicht. Es gibt also nicht die eine Polizeikultur, manchmal nicht einmal eine einheitliche polizeiinterne Landeskultur. Mitunter verselbstständigen sich Probleme in einzelnen Dienststellen oder sogar nur in einzelnen Dienstgruppen. Die Beschäftigung mit unterschiedlichen Polizeikulturen und deren praktischen Auswirkungen ist ein lohnendes, aber meines Erachtens zu wenig beachtetes Themenfeld.

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Also das Füllhorn über alle ausleeren, bis nichts mehr drin ist, und dann sehen was passiert? So funktioniert Staatsbankrott. Sozialpolitik heißt lernen, Bildung anwenden und säen, das politische "braune Unkraut" bekämpfen und dann ernten und den Erfolg zusammen feiern.