Schuldige findet man schnell – für alles Mögliche: Die Religionen und ihre Vertreter sollen schuld sein an Krieg und Gewalt, Zuwanderer an der Ausländerfeindlichkeit und Juden am Antisemitismus. Schon seit alters erfinden Menschen für jede nur erdenkliche Störung die absurdesten Schuldzuweisungen. An der Infektion ist der Kranke schuld, weil er sich angeblich zu leichtsinnig verhielt. Oder die Chinesen oder die Hexen. Das 3. Buch Mose, Kapitel 14, fordert sogar, Schuld zu tilgen, wenn ein Haus von Schimmel befallen ist – wessen Schuld auch immer. Eine biblische Vorschrift aus einer uralten fremden Welt.
Burkhard Weitz
Die Bibel dokumentiert aber auch, wie die Menschheit die Schuldfrage einzuhegen versuchte: Strafe soll nur den treffen, der sich versündigt hat, fordert das 5. Buch Mose 24,16. Grundsätze wie dieser bestimmen bis heute das Recht. Noch weiter ging Jesus von Nazareth: "Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?" (Matthäus 7) Sein Motto: Schluss mit Schuldzuweisungen, Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung! Ja, man soll sich schuldig fühlen – aber nur für das, was man sich wirklich zuschulden kommen ließ. Gesunde Selbsterkenntnis ist gefordert, nicht krankhaftes Schuldgefühl, auch nicht neurotische Skrupel. Niemand soll sich die Schuld an etwas einreden, das er nie getan hat.
Von sich auf andere schließen
Doch eine realistische Selbsterkenntnis ist gar nicht so einfach. Selbst der gemütlose Psychopath weiß, was Unrecht ist, wenn es ihm selbst widerfährt. Aber "wir sind sehr dünnhäutig, wenn wir Opfer sind, und sehr schwachsichtig, wenn wir Täter sind", sagt der österreichische Psychiater Raphael M. Bonelli: Schuldig zu sein, tue weh. Diesen Schmerz wolle man vermeiden, verdränge die Schuld und schlüpfe lieber in die Opferrolle. Männer, die ihre Frauen verprügeln, hört man oft sagen: Der prügelnde Vater sei schuld am eigenen Jähzorn, oder die Gesellschaft – oder die Nerven.
Der erste Schritt zum Eingeständnis eigener Schuld ist die Bereitschaft, von sich auf andere zu schließen. "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu", sagt die goldene Regel. Die Eltern oder die eigenen Kinder im Stich lassen, andere verletzen, betrügen, beklauen, belügen: Bei allen anderen ist der Verstoß gegen eines der Zehn Gebote schnell erkannt. Besser, man ginge auch mit sich selbst so streng ins Gericht.
"Schuld" bezeichnet nicht nur, was man anderen angetan hat. Man kann anderen auch etwas "schuldig" bleiben: Geld, Dank, Respekt, eine Erklärung, den gebotenen Abstand während einer Pandemie – und dies aus der Perspektive dessen betrachten, dem man es schuldig bleibt.
Kein Mensch lebt, wie er sollte
Auch Gott können Menschen etwas schuldig bleiben, etwa die geforderte Feindesliebe, den Verzicht auf Vergeltung, überhaupt den Verzicht darauf, andere zu richten. "Die Gebot all uns geben sind", dichtete Martin Luther, "dass du dein Sünd, o Menschenkind / erkennen sollst und lernen wohl, / wie man für Gott leben soll." Kein Mensch lebt, wie er sollte, lehrten die Reformatoren, alle bedürfen göttlicher Vergebung.
Den meisten Opfern tut es gut, wenn Täter sagen: "Ich bin schuld. Ich bitte um Entschuldigung." Daher fordert die kirchliche Bußlehre von Sündern echte Reue. Auf Latein hieß das früher "contritio cordis", wörtlich: "die Zerknirschung des Herzens". Dazu gehören ein Geständnis, etwa in Gestalt einer Lippenbeichte ("confessio oris"), und eine Art Wiedergutmachung durch entsprechende Taten ("satisfactio opere").
Sich mit einer Bitte abhängig machen
Täter, die ihre Opfer um Entschuldigung bitten, machen sich von ihnen abhängig. Ihre Opfer können frei entscheiden, ob sie die Schuld vergeben. Wer gelernt hat, diese Abhängigkeit auszuhalten, erträgt sich auch eher selbst, so wie er ist. Eher als jene, die ihr Unrecht lieber verdrängen.
Mit maßlosem Konsum macht sich die wohlhabendere Hälfte der Menschheit auch schuldig, nämlich an jenen, denen sie die Ressourcen zum Leben entzieht. Eine bittere Wahrheit. Es fällt leichter, diese Wahrheit zu ertragen, um dann nach Auswegen zu suchen, wenn man sich damit jemandem anvertrauen kann. Wenn man einen Adressaten weiß, den man um Vergebung bitten kann – Gott.
Sehr geehrter Herr Weitz,
Sehr geehrter Herr Weitz,
der Umgang mit Schuld ist sicherlich ein wichtiges, aber auch sehr komplexes Thema.
Sie haben in Ihrem gut nachvollziehbaren Beitrag einige grundlegende Aspekte angesprochen.
Allerdings fehlt mir in einem christlichen Magazin doch ein Bezug von m. E. sehr fundamentaler Bedeutung:
Der sehr einfache Antwortversuch auf die Theodizee-Frage in Gen 1, 3 (Wie kann Gott es zulassen, dass die Feldarbeit so mühsam, die Geburt so schmerzhaft ... ist?) wurde bekanntlich später von Augustinus als Ursprung einer "Erbsünde" verstanden, die dazu führe, dass alle Menschen schon bei der Geburt sündhaft (und womöglich verloren, wenn sie nicht von Gott gerettet werden) seien. Mit der Urverfehlung gehöre es zum Menschen dazu, schuldhaft zu sein. (Hier geht es leider nicht um den guten Gedanken, den Sie in Ihrem Beitrag erwähnten: "Ja, man soll sich schuldig fühlen - aber nur für das, was man sich wirklich zuschulden kommen ließ.") Die Erbsündenvorstellung könnte nicht nur die Neigung von Menschen erklären, Regeln zu überschreiten und dadurch immer wieder schuldig zu werden, sondern auch (im Gegenzug zur Ebenbildlichkeit nach Gen 1) eine Getrenntheit und Untergeordnetheit unter Gott, die es schwer machen, Schuld einzugestehen (wie ja auch schon Eva und Adam in der Erzählung die Schuld von sich zu weisen versuchten, indem sie diese auf jemand anderen schieben wollten).
Nun wurde in gewisser kirchlicher Überlieferung bis heute die Ebenbildlichkeit zurückgedrängt bzw. zumindest deutlich weniger beachtet als die Sündhaftigkeit. Ein solches Menschenbild ist m. E. mit "schuld" daran, dass es Menschen vor diesem kulturellen Hintergrund schwer gemacht wird, individuelle Schuld zuzugeben. Zwar ist es einerseits gemäß solcher Lehre selbstverständlich, dass ich mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe, nicht allein, sondern im Kreise aller Menschen vereint bin. Es würde jedoch leichter sein, mit einem gesunden Selbstbewusstsein sich auch den schuldhaften eigenen Seiten zuzuwenden, wenn eben auch die positiven Seiten des Menschen (ob als "Ebenbildlichkeit" gedacht oder anders) in der religiösen Sozialisation und Deutung angemessen berücksichtigt würden. Stattdessen wurde die Schuldhaftigkeit des Menschen in größeren Zeitintervallen der Kirchengeschichte als geschürte Basis für massive Ängste der einfachen Gläubigen vor jenseitiger Bestrafung genutzt. (Noch heute wird in jedem katholischen Gottesdienst gebetet: "Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund." Ein genauso kraftvolles Bekenntnis zur Würde als Ebenbild Gottes finde ich nicht.) Luther hat mit der Wiederaktivierung der Rechtfertigungslehre einem zu sehr auf Schuld bezogenen Menschenverständnis den Riegel vorgeschoben.
Schade, dass beides in Ihrem Beitrag nicht Erwähnung fand: die (schuldhafte) Erbsündenlehre und die Rechtfertigungslehre.
Freundliche Grüße
Jürgen Otte
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Schuld
"Ja, man soll sich schuldig fühlen - aber nur für das, was man sich wirklich zuschulden kommen ließ."
Seit der "Vertreibung aus dem Paradies" (Mensch erster und bisher einzige GEISTIGE Evolutionssprung) hat Mensch (Alle!) die BEGRENZTE (durch die "göttliche Sicherung" vor dem Freien Willen und ...) Eigenverantwortung für das Zusammenleben "wie im Himmel all so auf Erden" (Moses und Jesus sind da, wenn auch verschieden in der Methode, sehr deutlich) - Weil Mensch immer ALLE bedeutet, kann sich der/die "Einzelne" noch so sehr anstrengen frei von Schuld zu sein, es nutzt nichts, wenn der fatale Kreislauf menschlichen Zusammenlebens mit "wie im Himmel all so auf Erden" wenig bis keine Ähnlichkeit erreicht hat.
Das einzige was der/die "Einzelne" in diesem zeitgeistlich-reformistischen Kreislauf erlangen kann, wenn er/sie denn immer wirklich-wahrhaftig frei von Schuld bleiben kann (Kompromissbereitschaft ist der erste Schritt in die Verkommenheit!), ist einer/eine der "144000 auf dem Berg Zion" zu sein - für einen weiteren Versuch EINE neue Seele Mensch zu erschaffen.
Ich brauche sicher noch mehr Leben, und ich kenne noch keinen der zu den 144000 zählen könnte!
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Leserbrief zu "Soll man sich schuldig fühlen?" Chrismon 7/8 2020
Liebe Redaktion, lieber Herr Weitz,
in dem sehr guten Beitrag zur Frage nach der Schuld bzw. Schuldgefühlen wird im letzten Absatz auch auf Schuld eingegangen, die durch kollektives Fehlverhalten (Konsum, Umweltverschmutzung) entsteht. Wir sind heute, ohne dass wir es konkret beabsichtigen, schuldig durch gedankenlosen Ressourcen- und Energieverbrauch.
Schuldlos schuldig sein - dafür gibt es den Begriff der Erbschuld oder Erbsünde. Dieser urchristliche Begriff fehlt in dem ansonsten sehr runden Artikel .
Freundliche Grüße
Daniel Offermann
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