Kristina Wedel
Einmal ohne alles bitte!
Kunstfleisch, Falscharomen, schöner Schein. Kirsten Wenzel möchte wieder ehrlich essen. Aber wie geht das?
27.07.2015

Vor ein paar Jahren war ich in Polen. Die Speisekarte des Re­staurants in der kleinen Stadt gab sich international. Angeboten wurde vieles, vom Hirtensalat über Rinderfilet bis zum Zürcher Geschnetzelten. Aber was ich auch bestellte, der Kellner servierte mir Abend für Abend mit freundlichem Lächeln das gleiche Gericht: eine Art Schweinsbraten mit brauner Soße. Er schmeckte ganz passabel. Weit und breit gab es keine anderen Lokale, so dass es wenig Sinn gehabt hätte, mich zu beschweren. Die Speisekarte beanspruchte offenbar gar nicht, eine echte Information zu liefern. Sie war eher als dekoratives Unterhaltungs­angebot zu verstehen, um die Gäste über die Einförmigkeit der kulinarischen Realität hinwegzutrösten.

###autor###Eine etwas bizarre Reiseerinnerung, doch sieht es in unserem heimischen Supermarkt eigentlich so anders aus? Auch hier ist die Fallhöhe oft genug groß zwischen dem, was angepriesen wird, und dem, was drinsteckt. Erdbeerjoghurt enthält oft gar keine Erdbeeren, sondern auf Baumrinde gezüchtetes Aroma, die Suppe mit Gemüse und Huhn aus der Tüte besteht nur aus Attrappen, das Brötchen sieht dunkel und gesund aus wie ein Vollkornbrot und ist doch nur mit Malz gefärbt. Wir lassen uns nur allzu gern täuschen. Auch ich schwanke im Alltag zwischen ­kritischem Bewusstsein und gedankenlosem Konsum. Ich ärgere mich über die idyllischen Bauernhofbilder auf den Verpackungen, die mit den industriellen Herstellungsbedingungen absolut nichts zu tun haben, nehme aber viele andere Kleinigkeiten hin. Zum Beispiel dass Vanilleeis grundsätzlich hellgelb ist, obwohl doch auch mir klar ist, dass echte Vanilleschoten keine Gelbfärbung, sondern nur kleine schwarze Pünktchen in der weißen Milch ­liefern. Gelb ist nur der Farbstoff, der als Ersatz für das Eigelb von früher dient. Trotzdem hat sich auch in meinem Gehirn Vanille = gelb festgesetzt, und ich kann wenig dagegen tun. Unser Gehirn liebt Farben, Buntes schmeckt besser als Farbloses.

Ein Gericht schmeckt besser, wenn es blumig beschrieben ist

Ein Großteil der Essensentscheidungen fällt unbewusst.Wenn der Duft von frisch Gebackenem durch die Verkaufsräume zieht, ist meine Selbstbeherrschung stark gefordert. Es nützt nicht, dass ich weiß: Backstubendüfte kann die Aromaindustrie perfekt simulieren. Intensität lockt. Ein knall­roter Lolli hat sicher nicht mehr die gleiche magische Faszination für mich wie für meinen kleinen Sohn. Doch grundsätzlich teilen wir die gleiche steinzeitliche Programmierung. Bei schnell verfügbarer Energie greifen wir besonders gern zu. Den Verzehr von Süßem, Fettem, Salzigem quittiert das Belohnungszentrum des Gehirns mit schnellen Glücksgefühlen. Ein Mechanismus, der unseren Steinzeitvorfahren nützlich gewesen sein mag. Heute verhilft er vor allem der Nahrungsmittelindustrie zur steten Umsatzsteigerung und quält uns täglich mit einem Überangebot an Versuchungen.

Unser Unterbewusstsein macht mit feindlichen Mächten gemeinsame Sache. Gut für die Industrie, schlecht für uns Verbraucher. Wir essen mehr, wenn die Verpackung größer ist oder mehr auf ­dem Teller liegt, ein Gericht schmeckt uns besser, wenn es auf der Speisekarte oder auf der Verpackung blumig beschrieben ist. Es ist wohl keine Übertreibung, die ganze Konstellation als zutiefst asym­metrisch zu beschreiben.

Ich erinnere mich an eine Zeit, da interessierte mich neben dem Kaloriengehalt nur eins: der Geschmack. Ich hatte den Ehrgeiz, die beste Mousse au Chocolat zu machen und hätte alles hineingerührt, ganz gleich ob alkoholisch, tierischer Herkunft oder auch ein Zauberprodukt der Lebensmittelchemie. Heute studiere ich die Zutatenlisten, suche nach einer Welt ohne Glutamat, Hormonzusätze, Genmanipulationen, Farbstoffe, Stabilisatoren, künstliche Aromen. Ich achte auf Lebensmittel, die fair her­gestellt werden, möglichst wenige Ressourcen verbrauchen, aus der Region stammen. Ich will wissen, aus was sie bestehen, denn das hat Folgen für meine Gesundheit. Und ich will wissen, wie sie hergestellt werden. Das Resultat: Ich bin überfordert. Essen ist eine total politische, pingelige und anstrengende Angelegenheit geworden. Sorgloses Drauflosschlemmen war einmal.

Einmal ohne alles bitte!

Jedes Jahr kommt ein halber Regalmeter Literatur mit frischem Ernährungswissen dazu. Doch sicherer werde ich dadurch nicht. Und ich kann, selbst wenn ich es möchte, nicht jeden Tag Stunden in der Küche verbringen. Ich muss mich noch um andere Sachen kümmern. Die Politik könnte mir helfen, indem sie für mehr Transparenz sorgt. Eine Lebensmittel-Ampel, die den Gehalt an wichtigen Nährstoffen anzeigt, war so eine Idee. Mir persönlich hätte sie im Alltagsdschungel enorm geholfen. Leider hatte sie keine Chance. Nun schlägt die SPD eine höhere Mehrwertsteuer für Zucker vor, damit es für alle leichter wird, sich gesund zu ernähren. Doch ich fürchte, die Kritiker werden wieder einmal vor Bevormundung warnen, und ein weiteres Mal wird die Verantwortung bei mir, der Verbraucherin, geparkt.

Immer mehr Menschen nehmen Zuflucht in rigorosen Verzicht­sregeln und Ernährungsphilosophien. Ich kann das nachvoll­ziehen. Es ist die Konsequenz aus jahrzehntelangen Skandalen und Verschleierungen. Zwei reine Lehren gewinnen an Bedeutung: Für Veganer bedeutet ehrliches Essen, konsequent auf tierische Produkte zu verzichten. Damit umgehen sie auch die schwierigen ethischen Abwägungen in der Nutztierhaltung. Andere sind noch radikaler. Für sie ist der Sündenfall bereits die Entdeckung des Ackerbaus. Zurück zur artgerechten Menschenhaltung mit Beeren, Gemüse und Fleisch, zurück in die Welt der Steinzeitjäger! So das Credo der „Paleo“-Jünger: Sonst droht der schleichende Tod durch eine Weizenwampe. Beide Lehren verachten jegliche Industrienahrung, stehen einander ansonsten diametral gegenüber. Wer auf beide hört, müsste konsequent ­sagen: Einmal ohne alles bitte! Und sich nur von Gemüse und Obst ernähren.

Vor einiger Zeit wünschte ich mir selbst einen sauberen Schnitt. Weil mich die Rückkehr zur steinzeitlichen Kost wegen des hohen Fleischkonsums nicht lockte, unternahm ich einen veganen Selbstversuch. Ich versorgte mich mit Cashewmus, Tofu und Amaranth, schaffte einen Spiral­schäler an, mit dem man wunderbare Zucchinispaghetti hobeln kann, warf kiloweise Salat, Gurken, Kiwis und Avocados in meinen ohrenbetäubend lauten „Multi­blender“, kochte Pudding aus Chiasamen und fühlte mich prima. Keine Hormone, keine Antibiotika, dafür die pure Zauberkraft der Pflanzen! Schon der Gedanke daran erzeugte in mir ein elfenhaft leichtes und irgendwie „natürliches“ Gefühl. Und dazu kam das gute Gewissen, Tieren Leid zu ersparen.

Das Unterbewusste sitzt am längeren Hebel

Bis mich der Alltag wiederhatte und ich Lust auf Käse bekam. Im veganen Supermarkt fand ich jede Menge Ersatzlösungen – vom Ei-Ersatz bis zur Entenbrust und Salamipizza ohne Fleisch. Meist wird das tierische Eiweiß durch Getreideauszüge ersetzt, nicht selten entpuppt sich das Produkt als wahre Glutenbombe. Die Inhaltsliste der „Käsealternative“, früher hätten wir verächtlich „Analogkäse“ dazu gesagt, enthielt so viele mir unbekannte Inhaltsstoffe, dass ich auf den Verzehr verzichtete.

Es folgte der Besuch in einem veganen Imbiss in Kreuzberg. Ich konnte wählen zwischen „Hühnchen“, „Chili-Rind“ und „Curry­wurst“, serviert wurde immer das Gleiche: eine stark gesalzene fettige Bratlingmasse. Sie schmeckte furchtbar. Die Erinnerung an das polnische Hotelrestaurant kehrte zurück. Kleinlaut warf ich mein angebissenes Abendessen in den Müll. Für dieses Experiment war ich auf Dauer nicht radikal genug. Ich gehöre in die mittlere Welt. Wo ein Ei wirklich ein Ei, Käse tatsächlich Käse ist.

Also esse ich wieder in kleinen Mengen tierische Produkte, von Produzenten, denen ich Vertrauen schenke, auch wenn ich mich dabei nicht wirklich gut fühle. Bevor ich verbissen werde, ertrage ich lieber die Widersprüche meines Essverhaltens. Dazu gehört auch, meinem Unterbewussten seinen Spaß zu lassen. Es sitzt ja ohnehin am längeren Hebel. Manchmal muss es eben gelbes Vanilleeis oder der Pudding aus der Fabrik sein.

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Sehr geehrte Frau Kirsten Wenzel, meine Hochachtung für Sie, bewusst leben zu wollen. Dass Sie dann einen halben (hoffe ich doch) Rückfall hatten, gehört zur Lernkurve. Sie folgten bei jedem Schritt (so stellt es sich mir dar) der Selbstliebe. Das ist die beste Entscheidung für alles. Schade, das die Kirche Selbstliebe zwar im "Doppelgebot" der Liebe, das in Wahrheit 1n Trippelgebot ist, auch jeweils "mitnennt" doch danach sofort als Egoismus verunglimpft. Liebe zu anderen geht nur bei Selbstliebe. Menschen ohne Selbstliebe, können Liebe zu anderen nur simulieren, denn sie kennen sie nicht real. ---- Sehr geehrte Frau Kirsten Wenzel, Sie gehören der positiven Pioniergeneration an, die eine Nahrungsmittelkultur der Zukunft durch Alltagshandeln etabliert. Wie alles Neue immer in die Welt kommt: Zuerst ignorieren - dann verspotten - danach bekämpfen/verächtlich machen - zum Schluss für selbstverständlich halten. Schade das die Kirche gegenüber der täglichen Tierfolter und dem Massenmord nur für ein Geschmackserlebnis, immer noch schläft (wenn auch manchmal im Schlaf spricht). Zu viele fleischabhängige Karnisten/innen in den eigenen Reihen? http://karnismus-erkennen.de

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Wirklich ehrliches Essen kommt nur aus dem eigenen Garten von der Firma Schwiele & Schweiß, bei der aber kaum einer arbeiten will. Eigentlich müsste es selbstverständlich sein, dass hergestellte Lebensmittel von vornherein rundum einwandfrei sind, aber der sogenannte freie Markt, die größte und auch älteste Heilige Kuh, die die Menschheit je gesehen hat, ist dagegen, das ist allgemeine ökonomische Logik. Was wir brauchen, ist mehr Ethik, aber keine von außen aufgesetzte Ethik, sondern Ethik von innen heraus, etwa das, was man früher als Handwerkerehre bezeichnet hat.

Friedhelm Buchenhorst

... ist Herrn Buchenhorst voll zuzustimmen.  

Der sog. freie Markt, die allgemeine ökonomische Logik usw. sind m.E.   keine Randerscheinungen oder Ausrutscher des herrschenden Kapitalismus, sondern systemimmanent. Ethische Grundsätze stören prinzipiell, es geht einzig und allein um Gewinn und Marktmacht. Für viele Wettbewerber, vor allem Bauern, geht es allerdings ums Überleben, und die Marktverhältnisse machen   ethische Fragen meistens zur Nebensache. 

Es geht bei dem Thema Tierethik und Ernährungsethik m.E. auch um noch Grundsätzlicheres. Außer dem Wohl der Tiere in ihrem kurzen Leben und dem meistens leidvollen Tod als Dauerthema (und die Folgen für unsere Ernährung)  müssten christliche Kirchen eigentlich endlich mal über das Gebot: Du sollst nicht töten tief und ehrlich nachsinnen. 

Dann wäre zu dem  Ansinnen von Herrn Buchenhorst,  dass wir ehrliche "Ethik von innen heraus"  bräuchten,  der Finger auf den religiösen und moralischen Kernpunkt gelegt.

Dietmar Heuel, Kleinblittersdorf

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Sehr geehrte Frau Wenzel,

in Ihrem Artikel in der letzten Ausgabe ist mir ein Satz sehr unangenehm aufgefallen :"...und ein weiteres Mal wird die Verantwortung bei mir, der Verbraucherin, geparkt." In diesem Satz drückt sich meiner Meinung nach eine gefährliche Haltung gegenüber Gesellschaft und Staat aus. 

Wer, wenn nicht jeder für sich selbst, sollte denn für die Art seiner  Ernährung verantwortlich sein? Deutschland hat ein riesiges, gut überwachtes Lebensmittelangebot. Nichts ist wirklich giftig oder schädlich, solange es in normalen Mengen genossen wird. Davon zeugt auch die hohe Lebenserwartung und die Aktivität der meisten Senioren in Deutschland. Über alles andere, wie Wirkung auf die Umwelt, Umgang mit Tieren oder Einfluss auf meine Gesunndheit, muss jeder selbst entscheiden durch seine Kaufentscheidung  (!). Das bedeutet Freiheit : Eigenverantwortlich zwischen Möglichkeiten entscheiden. Dazu gehört auch die Bereitschaft etwas Zeit und Energie in Information und Nachdenken über die Auswirkungen zu investieren. 

Die von Ihnen angeforderte Regelung durch den Staat bedeutet dagegen Abgabe dieser Freiheit an den Staat. Wobei dabei auch übersehen wird, dass der Gegensatz "Ich hier - dort oben der Staat " nicht funktioniert. Denn wir alle sind der Staat. Nicht in erster Linie als Wähler,  sondern als Menschen, die die Gesellschaft aktiv gestalten. 

Deshalb ist mE diese Aussage so gefährlich: Sie verzichtet auf Freiheit und setzt voraus,  dass Staat und Politik etwas anderes sind als wir alle in der Gesellschaft. 

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Eine Diskussion über Lebensmittelkennzeichnung ist durchaus sinnvoll, aber nicht mit diesem Argument. 

Und noch kurz etwas zu Ihrer Frage im Untertitel: Ehrlich essen geht ganz einfach, wenn man die ursprünglichen Produkte verarbeitet und nicht die angeblich praktischen Fertigprodukte. Also, Joghurt ohne alles,  in das man Obst schneidet, geht schnell und ist besser als die Fertigmischung. Und bei uns hat sich bewährt alle 3 bis 4 Wochen einen großen Topf Brühe aus Suppenfleisch, Knochen und Gemüse zu machen und portionsweise einzufrieren. Mit einfachen Nudeln oder anderer Einlage ist das ein schnelles Essen,  das sich fast von allein kocht. 

Mit freundlichen Grüßen
Claudia Meindl

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..gerade von einem chrsitlichen Magazin hätte ich mir doch etwas mehr erwartet als ethische Veganer in einen Topf mit „Paleo“-Jüngern zu werfen. Chrsitlicher Glaube und der Verzehr von Tieren aus Qualhaltung ist für mich ein Widerspruch in sich! Und komischer Weise kauft jeder mit dem ich spreche nur vom "Bauern seines Vertrauen". Da wundert man sich, wenn man die Berge an billigem Fleisch im Supermarkt sieht, wer das denn dann alles kaufen mag.
Ich möchte mich meinem Vorredner anschließen: Sehr schade, dass die Kirche noch immer die Augen vor diesem unendlichen Tierleid verschließt. Leid an lebendigen Wesen durch "ich brauche einfach den Geschmack" zu rechtfertigen. Unglaublich für mich! Ein großer Grund meinerseits mich mehr und mehr von der Kirche abzuwenden.

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Sehr geehrte Redaktion,

In dem ansonsten sehr lesenswerten Artikel von Kirsten Wenzel wirdl eider so ganz nebenbei auch ein anti-polnischer Akzent gesetzt  Ich glaube Frau Wenzelihre Erfahrung in Polen nicht. Ich vermute vielmehr,das sie die Sprache nicht beherrschte und so durch ihr sprachliches Handicap  ein Opfer von einem Missverständniss geworden ist. Ich  bin seit 20 Jahren regelmäßig und sehr oft in Polen .Das Essensangebot in den kleinen Restaurants ist tatsächlich oft sehr traditionell aber doch auch abwechslungsreich. Oft viele  Fleischgerichte (Huhn,Schwein und Rind)aber eigentlich immer Pierogi (so ähnlich wie Ravioli) mit  verschiedenen Füllungen, sehr leckere dünne  Eierpfannkuchen(naleszniki), Kohlrouladen, viele Suppen und auf jeden Fall Kompott und frischen sehr klein geschnittenen Salat.... und vieles mehr. Sicher eher kräfiges Essen, aber sehr schmackhaft.

Könnten Sie Frau Wenzel bestellen, dass ich mich freuen würde, wenn sie sich ihre Bemerkungen zu Polen beim nächsten Artikel nochmal überdenkt.

 

Mit freundlichen Grüßen

Karl Fisher, COTTBUS