Regatta, Helen Frankenthaler
Martin Url/Sammlung Reinhard Ernst/VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Abstrakte Kunst
Bauchklatscher in die Farbe
Bunte Stachelschweine, Tiefseewesen mit Tentakeln? Oder Segel­boote? Die bewegten Bildwelten von Helen Frankenthaler
Pierre Jarawan
25.06.2025

Vor ein paar Jahren habe ich im Ostseeurlaub zufällig vom Strand aus eine Regatta beobachtet und gar nichts verstanden. Das ­Chaos der Segelmasten sah aus, als ­hätte jemand ein gigantisches Mikadospiel auf dem Meer ausgeschüttet. Auch nach längerem Zuschauen hat sich mir nicht im Ansatz erschlossen, nach welchen Regeln das Ganze funktioniert und vor allem welchen Kurs die un­zähligen Boote fahren. Ver­glichen damit kam mir Autoscooter wie eine wohlgeordnete ­Angelegenheit vor.

Ich finde, die Malerin Helen Franken­thaler fängt dieses Durch­einander in ihrem Gemälde "­Regatta" gut ein. Etliche Linien erstrecken sich nach oben in das Blau, die Assozia­tion von Masten am ­Himmel oder über dem Meer drängt sich auf. Aller­dings ist kein einziges Boot oder ­Segel ­konkret zu er­kennen. Dieses Bild könnte ebenso gut ein farbenfrohes Stachelschwein darstellen oder ein Tiefseewesen mit ­Tentakeln. ­Genau diese Offenheit macht für mich die Faszination abstrakter Kunst aus, hier gibt es keine ein­deutige Interpretation.

Das unter­scheidet ­abstrakte ­Malerei vom Blei­gießen, bei dem man in jedem unförmigen Klumpen ­eine Wolke, einen Felsen oder Drachen er­kennen muss. Bei abstrakter Kunst wird uns nicht vorgegeben, was wir zu sehen haben, es geht nicht darum, die Werke restlos zu verstehen. Genauso kann ich die Schönheit des Walgesangs be­wundern, ohne ihn zu entschlüsseln.

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Helen Frankenthaler ist eine wichtige Ver­treterin des abstrakten Expressionismus. ­Diese Kunst­richtung kam nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA auf. Man suchte neue Ausdrucks­formen, beispielsweise legte der Künstler Jackson Pollock Leinwände auf den Boden und spritzte, schleuderte, tropfte die Farbe auf das Bild, sogenanntes Action-Painting und ein Alptraum für jedes Parkett – sein Spitzname daher: "Jack the Dripper". Helen Frankenthaler entwickelte die Malweise "Soak-Stain" (Tränken-Einfärben). Dabei wird Farbe auf eine ungrundierte Leinwand geschüttet und aufgesogen – wie verschütteter Rotwein von der Tischdecke. So entstehen bei Frankenthaler sanfte, nahezu hin­gehauchte Farbverläufe, wie man sie auf "Regatta" findet.

Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, viele Gemälde von Franken­thaler im Original zu sehen, denn das Reinhard-Ernst-Museum in Wiesbaden widmet ihr aktuell eine Ausstellung (bis 28. September 2025). Dort kann man richtig in Kunst baden, denn oft malt Franken­thaler auf gigantischen Formaten. Einige ihrer Bilder haben deutlich mehr Quadratmeter als meine Küche. Die Künstlerin sagte über ihre Arbeiten: "Ich betrachte meine Bilder als explosive Landschaften, Welten und Distanzen, die auf einer flachen Oberfläche festgehalten sind." Frankenthalers Kunst ist zweidimensional und doch saugt sie uns förmlich ein. Vor ihren Werken zu stehen, fühlt sich an wie ein Bauchklatscher mitten in fantastische Farbwelten.

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