Wenn das System nicht mehr läuft, kann man einen Computer herunterfahren und neu starten. Dabei werden Fehler beseitigt, so dass alles wieder reibungslos funktioniert. Aber geht das auch bei Menschen? Um das herauszufinden, sitze ich an diesem Junitag 2023 in der Patientenaufnahme des Universitätsklinikums Heidelberg. Für einen medizinischen Neustart meines Immunsystems: eine autologe Stammzelltransplantation. In der Reisetasche habe ich Bilder, die mir meine Kinder gemalt haben, und eine kleine Figur für meinen Nachttisch als Glücksbringer.
Die Frau von der Patientenaufnahme schlingt ein weißes Bändchen um mein Handgelenk, auf dem mein Name, mein Geburtsdatum und ein Strichcode mit der Fallnummer stehen. Die Toten in den Krimiserien tragen auch immer solche Bändchen. Bin ich jetzt paranoid? Wahrscheinlich, aber ungefährlich ist die Behandlung nicht: In den nächsten Wochen wird zuerst mein fehlgeleitetes Immunsystem zerstört werden. Dann bekomme ich meine Stammzellen zurück, die mir vor Wochen entnommen wurden und gerade tiefgekühlt in der Klinik liegen – und daraus wächst dann ein neues Immunsystem.
Das hat dann hoffentlich vergessen, was sein Vorgänger so angestellt hat. Die Behandlung löscht nämlich das sogenannte neuroimmunologische Gedächtnis – und damit sowohl viele eingefahrene Mechanismen als auch einen Großteil der Impfungen. Der große Haken: Wenn das System unten ist, kann sich mein Körper nicht gegen Viren und Infekte wehren. Das Sterblichkeitsrisiko liegt zwar unter einem Prozent, aber es lässt sich nicht wegreden. Trotzdem muss ich es versuchen, es ist meine letzte Chance.
Multiple Sklerose ist eine unheilbare Autoimmunerkrankung
Auf dem Weg zur Hämatologie erinnere ich mich ans Jahr 1996: "Ach, der Arme", dachte ich damals, als Zivildienstleistender bei der Diakoniestation im lippischen Südosten. Dort kümmerte ich mich um Menschen, die Hilfe brauchten, sortierte Tabletten für Ältere, Kranke und fuhr alle zum Arzt, die nicht selbst fahren konnten. Einer von ihnen hieß Bernd. Er war nicht viel älter als ich. Bernd konnte sich nicht mehr so richtig gut bewegen, geschweige denn artikulieren. Sein Körper und sein Geist schienen aus der Bahn geworfen. Bernd hatte Multiple Sklerose, kurz MS. Wenn wir seinen Rollstuhl in unserem Kastenwagen festschnallten und auf dem Weg zur Physiotherapie die Musik aufdrehten, dann lachte er manchmal laut und scheppernd. Das verstand ich nicht. Dass jemand, der so arm dran war, noch so lachen konnte.
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Die autologe Stammzelltransplantation gilt in Deutschland noch als "experimentelles Verfahren" und kostet etwa 50 000 Euro. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht immer, obwohl jahrelange medikamentöse Eskalationstherapien für schwere Verläufe oft teurer sind. In Skandinavien, England, Italien, Spanien und der Schweiz bezahlt das Gesundheitswesen die Transplantation. Weltweit gibt es heute über 4000 dokumentierte autologe Stammzelltransplantationen bei MS. In Deutschland erhalten jedes Jahr rund fünfzig Menschen mit hochaktiver MS diese Behandlung.