Der zwanzigjährige russische Rekrut Aljoscha und die wohlhabende Französin Hélène reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn in Richtung Osten, in eine ungewisse Zukunft. Hélène flieht vor einer unglücklichen Beziehung, Aljoscha will dem Militärdienst entgehen.
Angesichts des Krieges in der Ukraine erhält der Roman, der bereits 2012 in Frankreich erschien, nun eine beklemmende Aktualität: Im vergangenen Frühling schätzte der ukrainische Geheimdienst die Zahl russischer Deserteure auf etwa 18.000. An der Front, wo russische Soldaten mitunter in sogenannten "Fleischstürmen" verheizt werden, überwachen Drohnen ihre Einsätze und sollen so Desertionen verhindern.
Doch auch vor dem Kriegseinsatz versuchen viele junge Russen, sich dem Militärdienst zu entziehen. Das Hilfsprojekt "Schlagt euch in den Wald" hat bereits über 40.000 Menschen bei der Flucht geholfen. Die meisten verstecken sich in Russland oder suchen Schutz in Nachbarländern wie Kasachstan. Asyl in Deutschland ist für diese Menschen jedoch kaum möglich.
Fahrt ins Grauen mit Tempo 60
Eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn ist für viele Menschen in Europa eine Touristenattraktion. Für die Romanfigur Aljoscha ist es eine Fahrt ins Grauen mit Tempo 60. Wie "alle jungen Männer" im Moskau der beginnenden 2010er-Jahre, so lernt man, hat Aljoscha viel versucht, um der Einberufung zu entgehen. Falsche ärztliche Atteste. Bestechungen. Weil Väter vom Militärdienst freigestellt werden, hat er in Bars und Clubs versucht, eine Freundin zu finden. Jetzt hockt er mit hundert anderen blassen und resignierten Rekruten mit kahlem Kopf in der Transsibirischen Eisenbahn und starrt aus dem Fenster.
Maylis de Kerangal
Für Aljoscha wird die vorüberziehende sibirische Landschaft zur Projektionsfläche seiner Ängste und Hoffnungen. Mal erscheinen ihm die endlosen Nadelwälder und die scheinbar reglose Landschaft als tödliche Falle. Mal blitzt eine Art urtümliche Lebendigkeit auf: im nächtlich funkelnden Licht etwa, oder in der Weite des Baikalsees, dem ältesten und wasserreichsten aller Seen. Halb kopflos, wie von einer fremden Kraft erfasst, fasst er den Entschluss zur Flucht.
Ein ungleiches Paar
Im Raucherabteil trifft Aljoscha auf Hélène, die auf der Zugreise über ihre gescheiterte Beziehung nachdenkt. Trotz der Sprachbarriere entsteht eine Verbindung zwischen dem ungleichen Paar. Stundenlang verharren sie stumm nebeneinander, teilen Zigaretten und Wodka, während die "organische Nacht" draußen vorbeizieht. Hélène, die als wohlhabende Europäerin im Zug viele Privilegien genießt, wird für Aljoscha zu einer Hoffnung auf Hilfe bei seiner Flucht.
Die Begegnung der beiden spiegelt die Leseerfahrung selbst wider: ihr Ringen, einander zu verstehen, wo die Worte fehlen. Wie Hélène und Aljoscha, tasten sich die Leser durch de Kerangals poetische Sprache. Man versucht, die Gefühle und Motive der Figuren zu begreifen, die selten klar benannt werden, und die auch für Aljoscha und Hélène selbst noch im Dunkeln liegen.
Maylis de Kerangal bringt in diesem sehr kurzen Reiseroman ungewöhnlich viele Geschichten unter. Die erzählerischen Grenzen zwischen Innen und Außen verwischen, zwischen Individuum und Gesellschaft, Traum und Wirklichkeit. Die Autorin, die 2010 selbst mit der Transsibirischen Eisenbahn reiste, verwebt den mythischen Stoff des Landes mit Naturbeobachtungen und Einblicken in eine von staatlicher Gewalt, Hoffnungslosigkeit und subtiler Solidarität geprägte Gegenwart.
Das entfaltet einen starken Sog. Wie in einer surrealen Traumwelt "explodieren" Geräusche, ein Wortschwall wird zum "Wahnsinnserguss". Auf den knapp hundert Seiten wird das nie langweilig. Auch weil mit Aljoschas Fluchtversuch und seinem verzweifelten Kampf gegen die Zeit das Buch immer mehr an Spannung gewinnt. Am Ende liest man mit angehaltenem Atem.
Maylis de Kerangal: Weiter nach Osten. Suhrkamp, 90 Seiten, 20 Euro