1 Zugbegleiterin des Yellow Ribbon train Nr. 192/191 in Odessa. Mit dem Zug wird die Situation der Ukrainer in den besetzen Gebieten unterstützt.
Juni 2024: eine Zugbegleiterin des Yellow Ribbon train Nr. 192/191 in Odessa.
Nina Liashonok/Ukrinform/Future Publishing/Getty Images
Die ukrainische Bahn ist ein Symbol des Widerstandskampfes
"Wer, wenn nicht wir?" - eine Bahn, die Tag für Tag Leben rettet
"Zug zum Sieg" – so werden Evakuierungszüge in der Ukraine mittlerweile genannt. "Ukrzaliznytsia" (Bahn) wurde zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands und zur Unterstützung aller in ihrem Heimatland verbliebenen Ukrainer
privat
09.07.2024
3Min

Es ist ein erstaunlicher und beeindruckender Wechsel, den die ukrainische Bahn im Krieg vollzogen hat. Bis Februar 2022 verfügte das Unternehmen hauptsächlich über veraltete Waggons und Lokomotiven. Verspätungen waren an der Tagesordnung, überall gab es Probleme. All dies wurde von Korruptionsskandalen begleitet. Es gab mehrere Reformversuche, die jedoch alle erfolglos blieben.

Der Krieg hat das Unternehmen extrem aufgerüttelt. Einigen Mitarbeitern zufolge hatten sie das Gefühl, dass jetzt der Moment gekommen sei, in dem sie das Leben ihrer Landsleute retten könnten. Und so übernimmt seit Februar 2022 das staatliche Unternehmen "Ukrzaliznytsia" (einfach "die Bahn") die Verantwortung, Menschen aus der Gefahrenzone an sicherere Orte zu transportieren.

Allein in den ersten acht Tagen seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine hat Ukrzaliznytsia mehr als 1 Million Menschen evakuiert, und in zwei Kriegsjahren waren es mehr als 4 Millionen.

Eisenbahner und Eisenbahnerinnen riskieren ihr eigenes Leben, wenn sie Zivilisten und Kinder buchstäblich aus der "Schusslinie" nehmen. Offiziellen Angaben zufolge kamen in den letzten zwei Jahren mehr als 20 von ihnen bei der Arbeit ums Leben. Darüber hinaus blieben viele in unkontrollierten Gebieten verschollen oder sind in Gefangenschaft. Schicksal unbekannt.

Es sollte hinzugefügt werden, dass über 10 000 ukrainische Eisenbahner*innen in den Streitkräften der Ukraine dienen. Nach offiziellen Angaben starben mehr als 500 von ihnen an der Front oder in der TRO (Territorialverteidigung). Nur etwa tausend sind bereits nach Hause zurückgekehrt. Dank der Unterstützung des Programms "Inklusive Eisenbahn: Beschäftigung" konnten mehr als 800 demobilisierte Eisenbahner*innen wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Der Personalmangel ist nach wie vor weit verbreitet, aber die Bahn schafft es trotz Beschuss oder beschädigter Schienen, die Strecken nahezu pünktlich zu bedienen.

Nur ein Beispiel: "Zug zum Sieg" traf schon einen Tag nach der Befreiung der besetzten Gebiete in Charkiw und Cherson ein. Im Jahr 2023 kamen 93 % der Züge innerhalb des Landes pünktlich an.

Nach zwei Jahren gewöhnen sich die Eisenbahner an die Arbeit unter Kriegsbedingungen. Viele von ihnen haben eine Besatzung überlebt und wissen, wie sie sich bei Beschuss verhalten müssen. "Wer, wenn nicht wir" – wiederholen sie ständig. Jeder versteht, dass für viele Ukrainer die Eisenbahn der einzige Weg aus der Gefahrenzone ist. Indem sie Leben retten, vor allem Kinder, retten Eisenbahner die Zukunft des Landes.

"Überraschenderweise lenkt die Arbeit von Angst und Verzweiflung ab. Wenn es ein bestimmtes Ziel und einen Handlungsalgorithmus gibt", berichtet sagt Maria, eine Mitarbeiterin der Ukrainischen Eisenbahn. Man mache eben "einfach seinen Job".

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Darüber hinaus müssen die Eisenbahner*innen oft auch psychologisch tätig sein. Sie treffen auf Menschen, Zivilisten wie Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung und anderen Kriegstraumata. "Ukrzaliznytsia" stellt zusammen mit dem Kommando der Sanitätskräfte der Streitkräfte der Ukraine immer mehr Sanitätswagen auf die Gleise. Hierbei handelt es sich um speziell umgebaute Personenkraftwagen für die Evakuierung verwundeter Soldaten in rückwärtige Krankenhäuser. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums setzt das Unternehmen derzeit 62 solcher Waggons ein. Sie warten auch auf neue Waggons aus ukrainischer Produktion. Auch die Unterstützung und Wiedereingliederung von Veteranen gehört zu den Prioritäten. Während des Krieges seien unter verschiedenen Umständen mehr als 1.560 Eisenbahner verletzt . Sie werden wie die Familien der Toten von der Stiftung "Iron Family Foundation" betreut.

Auch um leidende Kinder kümmert sich "Ukrzaliznytsia". An Bahnhöfen gibt es Kinderzonen mit speziellen Spielsets und in den Waggons gibt es eine Online-Bibliothek. An den Bahnhöfen haben moderne Cafés und Wohltätigkeitsläden eröffnet. Und das alles innerhalb des Landes, wo jeden Tag Krieg herrscht, Menschen sterben, Sirenen zu hören sind, Wirtschaft und Infrastruktur zerstört werden und Stromausfälle eingeführt werden. Außergewöhnliche Willenskraft und Mitarbeitermotivation!

Infobox

2023 organisierte die Deutsche Bahn die Ausstellung "Eisenbahn des Lebens – Ukrainische Eisenbahnerinnen und Eisenbahner im Krieg" mit Bildern des Fotografen Reto Klar und Texten des Journalisten Jan Jessen, die in mehreren deutschen Bahnhöfen gezeigt wurde.