Von der Mutter als Alibi benutzt
Westend61/GettyImages
Eltern-Kind-Beziehung
Von der Mutter als Alibi benutzt
"Das ist unser Geheimnis", sagte die Mutter zu ihrem Kind, wenn sie sich mit ihrem Liebhaber traf - und erwartete, dass das Kind den Vater anlog. Das belastet das frühere Kind bis heute
28.07.2024
6Min

Vor einigen Jahren habe ich* bei meinen Großeltern Briefe gefunden. Briefe von einem Geliebten an meine Mutter, eine außereheliche Beziehung. Ich hatte das vollkommen verdrängt, aber dann kamen die Erinnerungen zurück: Meine Mutter hat mich damals als Alibi benutzt, um sich mit ihrem Liebhaber zu treffen. Meine Großeltern müssen es gewusst haben. Sie waren der Briefkasten.

Ich war schätzungsweise zwischen 6 und 10 Jahre alt. Noch nicht in der Pubertät jedenfalls, da hätte ich mich, glaube ich, gewehrt. Meistens war es so, dass ich vor den Treffen etwas Spannendes zu lesen bekommen habe. Damit sollte ich dann im Auto warten, bis meine Mutter wiederkommt. Sie hat immer gesagt: "Das ist unser Geheimnis. Du darfst es niemandem sagen, sonst passieren ganz schlimme Sachen." Ich habe nie gefragt, was dann passiert. Mütter sagen ja auch: "Fass nicht auf die Herdplatte, fass nicht in die Steckdose, geh mit keinem fremden Mann mit." Ich habe ihr einfach vertraut.

Dieser Text ist Teil einer Serie über Familiengeheimnisse, in der wir auch Zuschriften von Leserinnen und Lesern veröffentlichen

Die Beziehung zu meiner Mutter war damals sehr eng. Ich wurde ja von ihr ins Boot geholt. Es gab so etwas Besonderes, das zu unserem Geheimnis wurde. Ich wusste ganz genau, wer ihr Liebhaber war: einer aus dem Bekanntenkreis. Aber ich habe keinem davon erzählt und habe gesagt, was ich sagen sollte, zum Beispiel, dass wir schön einkaufen waren. Ich habe gelernt, jedes Wort, jede Handlung blitzschnell zu durchdenken und skrupellos zu lügen. Auf Nachfragen musste ich sofort etwas parat haben. Es war wie eine Schule, die ich durchlaufen habe.

Meine Mutter brachte mich damit in einen großen Loyalitätskonflikt. Ich wollte, dass es ihr gut geht, aber nicht meinen Vater anlügen. Es ist quälend, wenn man sich dem eigenen Vater nicht anvertrauen darf und die Mutter einem verbietet, zu überhaupt irgendjemandem über eine Sache zu reden, die einen sehr beschäftigt. Ich hatte meinem Vater gegenüber extreme Schuldgefühle und habe versucht das wettzumachen, in dem ich Dinge besonders gut gemacht habe, besonders nett zu ihm war und ihm nicht widersprochen habe. Ich glaube aber, dass mein Vater von dem Verhältnis gewusst hat.

Meine Eltern haben sich oft gestritten. Einmal habe ich gehört, wie es zwischen meinen Eltern eskaliert ist. Danach hat sich mein Vater weinend an mein Bett gesetzt, im Zimmer war es dunkel und er sagte: "Wenn ich nicht da bin, weißt du ja, wo mein Lieblingsbaum ist, dann bin ich da und hänge mich auf." Dann ging er wieder und ich glaubte zu hören, wie die Haustür zuging. Ich war wie erstarrt und hatte Niemanden, dem ich davon erzählen konnte, der mich getröstet oder aufgefangen hat. Ich war vollkommen allein mit meinen Ängsten, ein einziger Alptraum.

Dieses Erstarren von damals passiert mir heute noch in schwierigen persönlichen Situationen. Ich funktioniere dann zwar noch, bin aber unterwegs wie eine Playmobilfigur. Niemand sieht es mir an. Meine Fassade ist perfekt, denn perfekte Fassade zeigen, wurde mir ja beigebracht. Mittlerweile weiß ich, dass dieser Zustand zwei, drei Tage dauert und dann wieder verschwindet.

Obwohl Scheidungskinder damals ein Stigma hatten, habe ich mir gewünscht, dass sich meine Eltern scheiden lassen, damit ich endlich Ruhe finde. Sie haben sich dann aber miteinander arrangiert. Die Treffen mit dem Liebhaber hörten irgendwann auf.

In der Pubertät habe ich einen extremen Gerechtigkeitssinn entwickelt. Ich wollte immer, dass es allen gleich geht. Gleich gut oder gleich schlecht. Mit 16, 17 fing es an, dass ich bestimmte Situationen nur noch schlecht ausgehalten habe, zum Beispiel wenn es Schularbeiten zurückgab und manche in gleichen Situationen besser dastanden als andere. Ich spürte eine Wut und wusste nicht, wohin damit. Meine Eltern hatten mir immer vorgelebt: Worüber man nicht spricht, das gibt es auch nicht. Ich habe mich zurückgezogen, heute würde man wohl von depressivem Verhalten sprechen.

Kurz vorm Abi habe ich mich dann zum ersten Mal getraut, in der Schule etwas anzusprechen, das ich ungerecht fand – eine gute Erfahrung. Ich mache das heute noch so, egal ob für mich, für andere oder für alle. Oft denke ich zwar: Es ist nicht gut, wenn ich es schon wieder anspreche, mache es dann aber trotzdem. Ich kann es einfach nicht aushalten, wenn die Wahrheit nicht ausgesprochen wird. Manchmal habe ich dadurch persönliche Nachteile, aber eigentlich hält es sich die Waage. Einerseits bin ich sehr stolz darauf, dass ich mich einmische, mich traue. Aber es ist auch anstrengend und in den meisten Fällen unangenehm, so unbequem zu sein.

So erforschen Sie Ihre Familiengeschichte. Eine Anleitung zur Recherche

Anstrengend ist es auch, dass ich sehr auf habacht unterwegs bin. Ich bin unheimlich misstrauisch, rieche Lügen – selbst die allerkleinsten – drei Meilen gegen den Wind und habe feinste Antennen für Fassaden. Weil ich gelernt habe, dass selbst Mütter lügen, denke ich, dass alle anderen das auch machen. Das ist nicht schön und auch ganz schwierig für Partnerschaften. Ich kann nicht vertrauen, mich nie fallenlassen, bin sehr kontrolliert und kontrolliere auch selbst. In mir steckt immer noch das schlechte Gewissen meinem Vater gegenüber.

Gesprochen habe ich mit meinem Vater über die damalige Situation nie. Will ich auch nicht. Interessanterweise hat sich das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater nie geändert. Das Verhältnis zu meiner Mutter aber in dem Moment, als mir bewusst wurde, dass sie mich benutzt hat. Man kann zum eigenen Kind nicht sagen: "Du bist mein Freund und wir haben ein Geheimnis." Kinder sind nicht die Freundinnen oder Freunde der Mütter oder Väter. Das ist falsch. Von da an war es sehr konfliktbeladen, aber es war kein ausgelebter Konflikt. Meine Versuche, mit ihr darüber zu reden, verliefen im Sand.

Lesetipp: Wie es ist, das Elternhaus auszuräumen

Manchmal wundere ich mich darüber, dass ich trotz allem so gut zurechtkomme im Leben, die Vorgänge haben wohl eine gewisse Resilienz hervorgerufen. Eine Sache hat mich dann aber doch beschäftigt: Warum ich als Kind immer wieder so eiskalt gelogen habe, obwohl es mich angewidert hat. In einem Psychologengespräch im Erwachsenenalter wurde mir dazu erklärt: "Sie sind ein Missbrauchsopfer, sie haben das Erlernte angewendet."

Die Sitzungen haben mir geholfen zu erkennen, dass es auch gute Sachen mit mir gemacht hat. Ich bin zum Beispiel sehr gut darin, Dinge von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten und mir schnell kreative Lösungen einfallen zu lassen. Außerdem fällt es mir leicht, mich in andere einzufühlen.

Lesetipp: Wie sehr prägt die Herkunft das Leben? Was Psychologen sagen

Und mir wurde klar, dass ich nicht alleine bin mit so einer Geschichte. Auch heute werden Kinder von ihren Eltern instrumentalisiert. Geredet wird darüber kaum. Auch ich habe bisher nur zwei meiner vertrautesten Menschen erzählt, dass meine Mutter mir das Lügen beigebracht hat. Obwohl ich nichts dazu konnte, ist es mir peinlich. Weil ich es wichtig finde, sich bewusst zu machen, was so etwas anrichten kann, erzähle ich hier meine Geschichte. Ich glaube, meiner Mutter war das damals gar nicht richtig bewusst.

Ich habe mir lange Jahre gewünscht, dass sich meine Mutter bei mir entschuldigt. Das habe ich ihr auch mehrfach gesagt, mehr oder weniger eindringlich. Aber dann habe ich gemerkt, dass sie auch heute noch ständig lügt. Dadurch ist eine emotionale Distanz zwischen uns entstanden, und das empfinde ich als große Tragik. Allerdings will ich mittlerweile auch kein emotionales Verhältnis mehr mit ihr. Für mich wäre es das Schlimmste, wenn alles nochmal aufbrechen würde. Die innere und räumliche Distanz schützt mich jetzt. Wir sehen uns an Familienfesten, aber das war’s.

Protokoll: Katharina Müller-Güldemeister

*Das frühere Kind möchte anonym bleiben.