Menschenrechte - Der Tatort im Rechner
Menschenrechte - Der Tatort im Rechner
Horst Friedrichs
Der Tatort im Rechner
Wie lassen sich staatliche Gewaltverbrechen und Terrorakte aufklären? Mit Hilfe künstlicher Intelligenz, sagen die Computerspezialisten von "Forensic Architecture".

Die zwei Dutzend Frauen und Männer sind zusammengezählt ein Multitalent. Gerade nippen sie Tee in einem lichtgefluteten Großraumbüro vor Bildschirmen und führen gedämpft Konversation: Architektinnen, Künstler, Designerinnen, Programmierer, Filmemacherinnen und Journalisten. Unterschiedlichste Fachleute mit ­einer breiten Palette von Fertigkeiten bilden das Team von "Forensic ­Architecture". Ihre Arbeit ist einzigartig: Sie erforschen politische Gewalt. Und um ihr auf die Schliche zu ­kommen, stützen sie sich auf plas­tische Modelle, Computeranimation und akus­tische Nachbildungen.

Wer das Großraumbüro besuchen will, muss hinauf in den zweiten Stock der Universität Goldsmiths, im ­Londoner Stadtteil New Cross. Der Gründer und Leiter der Recherche­agentur, Eyal Weizman, ist Architekt, Professor für Visual and Spatial Culture und ein ruhiger, überlegter Mann. Im Regal des kleinen ­Zimmers, in dem er an einem Tisch Platz nimmt, sind Exemplare seiner ­Bücher aufgereiht, darunter "The Least of All ­Possible Evils: A Short History of Humanitarian Violence" (sinngemäß: "Das geringste aller möglichen Übel: Eine kurze Geschichte menschlicher Gewalt") und "Hollow Land: Israel’s Architecture of Occupation" (deutscher Titel: "Sperrzonen: Israels Architektur der Besatzung").

Ich sehe eine Schnittstelle zwischen Architektur, Gewalt und Menschenrechten

Mit dem zweiten der beiden ­Bücher begann die "forensische ­Architektur", jenes Forschungsfeld, das Weizman geprägt hat. "Ich fertigte Karten und Analysen an, die sich mit der Architektur im Zusammenhang der ­israelischen Besatzung im West­jordanland und in Gaza befassten", erzählt er: "Ich stellte mir Fragen wie: Wo wurden die Siedlungen gebaut, die Straßen, die Infrastruktur? So begann ich, mich zunehmend für urbane Kriegsführung zu interes­sieren. Ich betrachtete die Schnitt­stelle ­zwischen Architektur, Gewalt und Menschenrechten."

Der Beginn der zweiten Intifada in den frühen 2000er Jahren und kurz darauf die Invasion im Irak durch US-Streitkräfte und ihre Verbündeten machten Weizmans Forschungen immer dringender. Unzählige Fotos und Videos zeigten Kriegshandlungen und mögliche Menschenrechtsverletzungen. Weizman wollte näher ran: "Ein einzelnes Bild oder eine Video­aufnahme kann man für sich analysieren, aber sobald man drei, vier oder siebenhundert hat, muss man die Beziehung zwischen ihnen untersuchen, sowohl im Raum als auch in der Zeit", sagt Weizman. "Und dazu braucht man ein Architekturmodell. Das Modell ist der Mechanismus, der alle Information absorbiert." Das bedeutet: Es wird Beweismaterial angesammelt, das hilft, den Tathergang zu rekonstruieren – und bei einer Anklage, in einem Prozess wichtig sein könnte.

Modell eines Polizeieinsatzes im Beduinendorf Umm al-Hiran im Januar 2017 im nördlichen Negev, bei dem der Polizist Erez Levi und der Dorfbewohner Yaqub Musa Abu alQi’an erschossen wurden

2010 wurde Forensic Architecture in der Universität Goldsmiths gegründet. Seither haben sich Weizman und sein Team mit Dutzenden Fällen befasst: mit dem Mord an einem antifaschistischen Rapper durch einen griechischen Neonazi in Athen; mit einem Feuer in einer baufälligen Kleiderfabrik in Karatschi, in dem 260 Menschen verbrannten; mit der Entführung der 43 Studentinnen und Studenten 2014 im mexikanischen Ayotzinapa; mit dem Schiffbruch eines Flüchtlingsboots im Mittelmeer, nachdem die EU ihre staatlichen Rettungsaktionen eingestellt hatte; mit der Erschießung des schwarzen US-Amerikaners Harith Augustus durch die Polizei von Chicago.

Wie alle Forensiker machen sich Weizman und sein Team mit peni­bler Genauigkeit auf die Spurensuche. Sie analysieren Videomaterial in Millisekundenschritten, fertigen detailgetreue 3-D-Modelle von den Tatorten an, studieren Satellitenaufnahmen, programmieren Computersimula­tionen von Gewalttaten und zeichnen auf haargenauen Landkarten den Tathergang nach. Oft zieht Forensic Architecture Fachleute hinzu. Um ­etwa nachzubilden, wie sich der Rauch in einem Großbrand ausbreitet, arbeitete das Team mit Spezialisten in Fluiddynamik zusammen.

Seit Ausbruch der ­Covid-Pandemie wandte sich die Organisation ver­stärkt der "digitalen Gewalt" zu, insbesondere den Cyberwaffen der NSO Group, eines israelischen Techno­logieunternehmens, dessen "Pegasus"- Software dank einem Leak in die Schlagzeilen kam – mit dem berüchtigten Spionageprogramm lassen sich Smartphones aus der Ferne über­wachen.

Das Unternehmen hat repressiven und autoritären Staaten Software ver- kauft. Deren Hackerangriffe, um Aktivisten, Anwältinnen und Journalisten auszuspionieren, enden oftmals in Hausdurchsuchungen, Verhaftungen oder Mord. Der saudische Dissident Jamal Khashoggi fiel einer Pegasus-Attacke zum Opfer, bevor er im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul ermordet und zerstückelt wurde. Unter den Kunden der Firma finden sich neben Saudi-Arabien auch Marokko und Ruanda. Wie führt ­digitale Gewalt zu psychischer und physischer Gewalt? Um das von Fall zu Fall nachzuzeichnen, hat Forensic Architecture eine 3-D-Plattform ge­schaffen, eine Art interaktive Timeline.

Das ­ Gedächtnis ist ­räumlich. Man kann in Gedanken an einen Ort zurück­kehren

Mittlerweile können die Forensiker fünf oder sechs Projekte zeitgleich verfolgen. Manche der Projekte stößt Forensic Architecture selbst an, aber mittlerweile wird Weizmans Team von Anfragen überhäuft. Aufträge kommen von internationalen Organi­sationen, Menschenrechtskampagnen und investigativen Journalisten.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zählt zu den wichtigsten Kunden. Als Syrien 2011 im Krieg versank, wurde das Land zu einem Fokus für die Organisation. Doch viele Kampfzonen waren unzugänglich, ein Hindernis für die Recherchen. Auch das berüchtigte Militärgefängnis von Sednaya zum Beispiel, nördlich von Damaskus gelegen, war schlichtweg nicht zu erreichen. Berichte über grausame Folter machten die Runde. Aber wer nicht dort gewesen war, hatte ­keine Ahnung, wie das Gebäude überhaupt aussah. Es gab keine Videoauf­nahmen, nicht einmal Fotos ließen sich finden.

"Die einzigen Beweise, die existierten, waren im Gedächtnis der ehemaligen Gefangenen", sagt Weizman. Als sich Forensic Architecture in Zusammenarbeit mit Amnesty 2016 daran machte, eine Recherche zu den Menschenrechtsverletzungen in Sednaya zusammenzustellen, führten die Erinnerungen der Opfer zu den nötigen Details. Ein Team reiste nach Istanbul, wo es sich mit fünf Syrern traf, die ihre Inhaftierung im Gefängnis von Sednaya überlebt hatten.

"Das Gedächtnis hat eine räumliche Dimension", sagt Weizman. "Man kann in Gedanken zu einem bestimmten Ort zurückkehren und sich an das erinnern, was dort passiert ist. In Sednaya mussten wir das Gebäude von unten herauf nachbauen." Die ehemaligen Insassen begannen mit den Steinplatten auf dem Boden, deren Länge und Breite sie kannten. Dann zählten sie gedanklich die Platten nach rechts und links – und die Forensiker bestimmten danach das Ausmaß einer Zelle. "Dann sagen sie uns, wie oft sie die Türen öffnen und schließen hörten, und so wissen wir, wie viele Zellen ein einzelner Trakt umfasst", erzählt Weizmann. "Diese Information können wir dann mit Satellitenbildern vergleichen. Auf diese Weise finden wir heraus, wie die Architektur dieses Gefängnisses aussieht."

Ein Problem bestand darin, dass den Häftlingen oft die Augen verbunden oder ein Sack über den Kopf gestülpt wurde – ihre Erinnerungen sind rein akustischer Natur. Also ­engagierte Forensic Architecture ­einen Künstler und Soundtechniker, Law­rence Abu Hamdan. "Er entwarf ein akustisches Modell, das Geräusche und deren Nachhall simuliert – Türen, die geöffnet oder geschlossen werden, Schritte im Gang, der Klang von Schlägen auf menschliche Körper." Stück für Stück, mit Hilfe von räumlichen und akustischen Erinnerungen, schuf Forensic Architecture ein detailreiches Computermodell des Gefängnisses.

"Unsere Psyche schützt uns zuweilen vor den schlimmsten Erinnerungen"

Die Arbeit mit den Opfern von Sednaya war auch in psychologischer Hinsicht schwierig. "Erinnerungen von Traumatisierten sind schwer zugänglich", sagt Weizman. "Unsere Psyche schützt uns zuweilen vor den schlimmsten Erinnerungen, sie verzerrt sie, manchmal lässt sie sie ganz verschwinden." Forensische Psychologen der Universität Gold­smiths unterstützten Weizmans Team und begleiteten die Teilnehmer in diesem Prozess, erklärten ihnen die Gefahren, aber auch die Chancen. "So etwas kann auch therapeutisch sein. Die ehemaligen Häftlinge waren sehr dankbar. Die Erinnerungsarbeit erlaubte es ihnen, das Gebäude zu externalisieren und auf eine Weise zu vergessen – ­ihre Erinnerung lebt jetzt irgendwo in einem architektonischen Modell."

Das Team von Forensic Architecture untersucht Vorfälle weltweit: Rassismus in Louisiana, den Einsatz europäischer Waffen bei Bombardements im Jemen, Pushbacks am Evros . . .

Mit Computersimulationen gelang es Forensic Architecture, auch andere Verbrechen im Syrienkrieg zu entschlüsseln: zwei Gasangriffe in der Stadt Duma, die damals noch in der Hand der Rebellen war. Bei den Angriffen im Frühjahr 2018 wurden 70 Menschen getötet. Kurz nach der Eroberung der Stadt durch Assads Truppen behaupteten russische ­Medien, dass die Attacke gestellt sei – die Gaskanister seien nicht aus der Luft abgeworfen worden, sondern die Rebellen hätten sie selbst herbeigetragen. Forensic Architecture machte sich an die Arbeit.

"Im Kern betrieben wir Archäologie", sagt Weizman. "Ohne dass wir Zugang hatten zum Tatort, schauten wir uns jedes Detail an, das auf dem Kanister zu sehen war." Erneut fertigten sie ein virtuelles 3-D-Modell des Fundorts und der Gasbehälter an, die so zu digitalen Objekten wurden.
"Wir fanden zum Beispiel ein zerknittertes Stück Metall. Mit unserer Software konnten wir es entflechten, ausdehnen und messen. Wir stellten fest, dass es genau den Dimensionen des Balkons im Stock darüber entsprach. Auf dem Kanister hatten wir Spuren eines Gittermusters entdeckt, das genau auf dieses Metallstück passte. So kamen wir zum Schluss, dass der Kanister aus der Luft gekommen war – und die einzigen, die Lufthoheit hatten, waren die syrische Regierung und die Russen."

Bürgerinnen und Bürger brauchen Fakten. Unsere Beweise bleiben stets öffentlich

Die Recherchen von Forensic Architecture fließen in Berichte von Organisationen wie Amnesty ein und werden vor Gericht verwendet, etwa am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch im Rahmen der parlamentarischen Untersuchung zur "Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) bekam Forensic Architecture einen Rechercheauftrag.

Ein zentraler Anspruch von Weizman: Immer ist das Beweismaterial für alle Welt zugänglich, nie verschwindet es in irgendwelchen ­Archiven oder Prozessakten. Weizman und sein Team wollen das Bewusstsein für das Unrecht öffentlich und seine Wahrnehmung wachhalten: "Wir glauben, dass die Bürgerinnen und Bürger die Fakten brauchen, damit sie Entscheidungen treffen, in einem Konflikt Haltung beziehen und ­Verbrechen verhindern können. Deshalb bleiben unsere Beweise stets öffentlich zugänglich, und wir legen unsere Fakten immer im Namen der Opfer vor."

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