Warum gibt es Warnungen vor einer Eskalation im Herbst?
Im Herbst könnte es zu einem Anheizen des Konflikts zwischen Russland und der Nato kommen, warnte die Russlandexpertin Sabine Adler vor einigen Wochen in der ARD. Sie sprach von einer "echten Kriegsgefahr" für die Europäische Union und die Nato. Und der Militärhistoriker Sönke Neitzel sorgte mit seinem Satz für Aufsehen, dass dieser Sommer vielleicht der letzte Sommer sei, den wir noch in Frieden erleben. Als möglichen Anlass nennen Neitzel und Adler das russische Sapad-Manöver im Herbst. Hintergrund sind zudem die wachsenden Zweifel, ob die USA unter Trump den europäischen Nato-Partnern im Ernstfall noch beistehen würden.
Was verbirgt sich hinter dem Sapad-Manöver?
Sapad bedeutet "Westen" und ist eine Großübung russischer und belarussischer Truppen. Sie soll im September in Belarus stattfinden, also in direkter Nachbarschaft zur Ukraine, aber auch zu den Nato-Staaten Lettland, Litauen und Polen. Sönke Neitzel und Sabine Adler, die lange als Russlandkorrespondentin für den Deutschlandfunk arbeitete, gehen dabei nicht von einem Großangriff auf die gesamte Nato aus, sondern von einem nadelstichartigen Überfall auf ein kleines Land, etwa Litauen. Adler verweist auf ein ähnliches Manöver im Jahr 2021, kurz vor dem Angriff auf die Ukraine. Damals brachte Putin seine Truppen vor der ukrainischen Grenze in Stellung und tarnte den Aufmarsch als Übung. Nun könnte das Baltikum gefährdet sein, warnt Adler.
Was spricht dagegen?
Nicht alle Experten teilen die Einschätzung. Auch Neitzel und Adler verweisen auf das nach wie vor bestehende atomare Abschreckungspotenzial. Zudem ist Russland bei der Truppenstärke gegenüber den EU-Staaten im Nachteil, auch wenn die europäischen Truppen nur eingeschränkt kriegstüchtig sind. Wichtiger noch: Derzeit ist Russland mit einem Großteil seiner Kräfte im Krieg in der Ukraine gebunden, was gegen die Eröffnung einer weiteren Front spricht.
Welche Ziele verfolgt Putin mit seiner Außenpolitik?
Putin will Russlands internationalen Einfluss stärken und den Westen schwächen. Margarete Klein, die als Politikwissenschaftlerin und Russlandexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die Bundesregierung berät, hat in mehreren Studien Putins Großmachtwillen herausgearbeitet. Russland strebe danach, wieder eine Weltmacht zu werden, so wie es die Sowjetunion einmal war, schreibt Klein. Putin wolle keine Welt, die von den USA als einzige Großmacht dominiert werde, sondern eine "multipolare Ordnung", in der Russland eine gleichberechtigte Rolle mit den USA und China einnimmt.
Um das zu erreichen, wolle Putin die Nato in Europa zurückdrängen und mehr Einfluss in den ehemaligen Sowjetstaaten gewinnen. Dies zeige sich beispielsweise am Georgien-Krieg im Jahr 2008 und an der Besetzung der ukrainischen Krim im Jahr 2014. Zudem mischt Putin seit den 2010er Jahren – teilweise mit verdeckten Operationen – im Nahen Osten und nördlichen Afrika mit.
Russland setze aber nicht nur auf das Militär, sondern auch auf soft power, etwa auf politische Verführung, schreibt Margarete Klein. "Putin umwirbt wertkonservative und rechte Kräfte im Westen, indem er sich als Hüter vermeintlich traditioneller europäischer Werte wie traditionelles Familienmodell, starker Nationalstaat oder besondere Bedeutung der Religion ausgibt." Zugleich präsentiere sich der Kreml als letzte Bastion gegen den vermeintlichen US-Imperialismus, wodurch auch linke Kräfte angesprochen werden.
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Welche Szenarien sind mittelfristig denkbar?
Als gefährdet sehen Experten insbesondere die baltischen Staaten Lettland und Litauen, weil dort russischsprachige Minderheiten leben. Deren angeblichen Schutz könnte Putin als Vorwand nutzen, um einzelne Städte oder kleinere Gebiete in diesen Ländern zu besetzen. Würde die Nato auf diese Invasion nicht reagieren, würde sie ihre Beistandspflicht nicht einlösen, die zentral für das Bündnis ist. Die Nato wäre dann deutlich geschwächt.
Ein weiteres Szenario bezieht sich auf die norwegische Inselgruppe Spitzbergen. Norwegen hat Spitzbergen zur entmilitarisierten und neutralen Zone erklärt – trotzdem gehört sie weiterhin zur Nato. Hier leben auch viele Russen, da sie auf Spitzbergen oft bessere Jobs finden als in ihrer Heimat oder sich der Einberufung entziehen. Russland könnte die Besetzung von Spitzbergen nutzen, um den Westen unter Druck zu setzen, ohne eine direkte militärische Konfrontation zu riskieren.
Zudem könnte Russland mehr Mittel der hybriden Kriegsführung einsetzen. Dies geschieht schon heute, etwa durch die Sabotage von Unterseekabeln in der Ostsee, Cyberangriffe auf Versorgungsunternehmen oder gezielte Desinformationskampagnen in europäischen Staaten. Verstärkte Angriffe auf Stromnetze, Verkehrssysteme oder Finanzinstitutionen könnten Chaos verursachen, ohne dass man Russland direkt als Urheber verantwortlich machen kann. Russland könnte dabei auch über verdeckte Spezialeinheiten oder Söldner strategische Ziele sabotieren, etwa Kommunikationszentren oder militärische Logistik. Ähnliche Taktiken wurden vor 2022 in der Ostukraine beobachtet.
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Wie schlagkräftig ist die russische Armee überhaupt noch?
Der Krieg in der Ukraine hat den russischen Streitkräften enorme Verluste zugefügt. Laut britischem Verteidigungsministerium hat Russland seit Kriegsbeginn über 3600 Kampfpanzer und fast 8000 gepanzerte Fahrzeuge verloren. August Pradetto, ehemaliger Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Uni in Hamburg, sagt im "Deutschlandfunk", der personelle Kern der russischen Armee sei vernichtet worden. Das Land habe Nachschub von den Grenzen zu Japan, China und der Nato-Nordflanke heranschaffen müssen. Für die Rückeroberung der im Vorjahr von der Ukraine besetzten Gebiete in Kursk hat Russland sogar nordkoreanische Truppen eingesetzt – kam dabei aber nur sehr langsam voran. Auch an der Front in der Ostukraine konnte Russland in den vergangenen zwei Jahren nur wenige zusätzliche Gebiete erobern.
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Wie schnell rüstet Russland auf?
Ein Drittel des Staatshaushalts geht heute in die Verteidigung. Russlands Kriegswirtschaft laufe auf Hochtouren, sagte Generalmajor Christian Freuding, Ukraine-Koordinator im Verteidigungsministerium, dem "Handelsblatt". "Russlands Kriegswirtschaft produziert in drei Monaten mehr Waffen, Munition und Rüstungsgüter als die europäischen Staaten in einem Jahr", sagte Freuding. Auch Jürgen Ehle ist besorgt. Der ehemalige Konteradmiral sagte im Gespräch mit dem "Handelsblatt": Mittlerweile gingen 50 Prozent der russischen Produktion an die Front in der Ukraine und 50 Prozent in die Depots. "Die Bestände in den Depots könnte Putin dazu nutzen, eine Aggression gegen einen Nato-Staat durchzuführen", sagt Ehle. Auch personell wächst die Armee. Russland rekrutiere bis zu 30.000 Soldaten pro Monat, meldet der britische Geheimdienst im vergangenen Jahr.
Was kommt in den nächsten Jahren?
Russland sei in einigen Jahren personell und materiell in der Lage für einen Angriff auf ein Nato-Land, sagte Bruno Kahl, der Präsident des Bundesnachrichtendiensts (BND), im vergangenen November. Kahl geht aber nicht von einem Angriff auf die gesamte Nato aus, sondern nur auf ein einzelnes Land, um das Bündnis zu testen. Grundlage für diese Einschätzung ist ein gemeinsamer Bericht von BND und Bundeswehr. Journalisten, die den Bericht einsehen konnten, schreiben dazu in der "Süddeutschen Zeitung": Zwar fehlten darin belastbare Erkenntnisse, dass eine Konfrontation Russlands mit der Nato unmittelbar bevorstehe; nichtsdestotrotz arbeite Russland daran, bis Ende des Jahrzehnts einen "großmaßstäblichen konventionellen Krieg" führen zu können, wie die Journalisten aus dem Papier zitieren. Soweit muss es aber nicht zwangsläufig kommen.
Ob der Konflikt zu einem bestimmten Zeitpunkt eskaliert, hängt von vielen Faktoren ab. Etwa davon, wie lange der Ukraine-Krieg noch andauert. Und der Fähigkeit der europäischen Staaten, Russland mit eigener militärischer und politischer Stärke abzuschrecken.
Der Text entstand in Zusammenarbeit mit dem JS-Magazin, der Zeitschrift der Evangelischen Kirche für junge Soldaten und Soldatinnen.