Ein israelischer Offizier auf dem Gelände des Tribe of Nova Festivals in Re'im, das am 07. Oktober von der Hamas angegriffen wurde
Ein israelischer Offizier auf dem Gelände des Tribe of Nova Festivals
Manuel de Almeida/EPA/picture alliance
Angriff auf Musikfestival in Israel
"Innerhalb einer Stunde ist meine Welt zerbrochen"
Assaf Aron, 26, entkam den Hamas-Terroristen auf dem "Tribe of Nova"-Festival. Sieben Stunden dauerte seine Flucht. Er verlor seinen Job, die Liebe zur Musik und seine engsten Freunde.
Marie Kröger
20.10.2023
5Min

Mich nennt man in Israel einen "Datlash", das ist hebräischer Slang. Es bedeutet, dass ich das schwarze Schaf einer streng religiösen Familie bin, denn ich lebe total modern. Auch meine besten Freunde aus der Schule sind mittlerweile zu "Datlashs" geworden. Wir treffen uns abends in den Bars von Tel Aviv, haben Freundinnen, Tattoos. Zusammen fahren wir auf Trance-Festivals. Dort treffen wir weltoffene Leute.

Egal auf welchem Festival wir sind, sobald der Schabbat beginnt und in Israel unsere Eltern ihre Handys ausschalten, laden wir alle zu einem Kiddusch bei uns im Camp ein. Der Kiddusch ist ein Segensspruch mit einem Glas Wein. Diese jüdische Tradition gibt mir das Gefühl, dass ich zu Hause bin, auch dann, wenn ich von weiten die wummernden Bässe der Goa-Musik höre. Dass ich beides lieben kann.

Kein Egoismus, kein Neid unter den Besuchern

Als ich mein Ticket für das "Tribe of Nova"-Festival in meinen Händen hielt, konnte ich es nicht fassen. Mein Freund David – ein Datlash – hatte dafür gesorgt, dass wir keinen Eintritt zahlen mussten. Ich freute mich total, dass endlich ein großes internationales Trance-Festival nach Israel kommt. Ich liebe Trance-Musik seit ich 17 alt bin, habe Festivals auf der ganzen Welt besucht, in Indien gefielen mir die Menschen am besten. Die Trance-Kultur ist ein Ort von Akzeptanz, Liebe, Frieden und Kreativität. Die Leute sind positiv verrückt: kein Egoismus, kein Neid.

Asaf Aron auf einer Bar-Mizwa-Feier – vor dem 7. Oktober

David und ich tanzten die ganze Nacht. Wir hatten so viel Energie. Als es dann langsam hell wurde, machten wir eine kleine Pause. Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir uns über unsere Freunde lustig machten, die anstatt zum Festival lieber nach Kinneret gefahren sind, zum See Genezareth. O Mann, die Armen verpassten doch das Beste!

Als die ersten Hamas-Raketen über das Festivalgelände flogen, dachten wir, wir halluzinieren. Wir lachten kurz und lobten denjenigen, der uns etwas ins Getränk getan hat. Wir haben einfach weiter getanzt. Wenige Sekunden später verstummten die Bässe. Panisches Geschrei. Das Festival war angegriffen worden.

Wie im Autopiloten fingen wir an zu rennen. Den ganzen Weg zum Auto schafften wir nicht. Wir versteckten uns für 30 Minuten in einem Gebüsch. Wie sich später herausstellte, rettete es uns das Leben. Wir hörten von dort Schreie. Schreie, die ich nie wieder in meinem Leben hören möchte. Und wir hörten Maschinengewehrsalven, Explosionen.

Über unsere Köpfe flogen die Kugeln

Dann rannten wir zu unserem Auto. Wir fuhren wenige Meter, bis ein Sicherheitsmann an unser Fenster klopfte: "Lauft! Lauft!", befahl er uns. "Sie erschießen die Leute dahinten in ihren Autos!" Er zeigte auf die Ausfahrt und die Autoschlange. Dann verschwand er wieder in Richtung Festival, um noch mehr Menschen zu warnen. Später erfuhren wir, dass alle Sicherheitskräfte bei dem Anschlag getötet wurden. Der Mut des Wachmanns bricht mir immer noch das Herz. Er hat uns gerettet und ist selber gestorben.

Intuitiv sprangen David und ich in Millisekunden aus dem Auto. Telefon, Portemonnaie – wir ließen alles zurück. Wir rannten über die offene Wüste in Richtung Be’er Scheva. Über unsere Köpfe flogen die Kugeln. Die Todesangst ließ mich um mein Leben rennen, ich weiß nicht, ob ich jemals so schnell und so lange gelaufen.

Bei der Polizei ging niemand ans Telefon

Nach 20 Minuten Dauersprint versteckten wir uns unter einem großen Baum im Gebüsch. Wir hörten Explosionen aus der Ferne und dachten, es wäre die Armee, die endlich gekommen ist und die anderen rettet. Nach wenigen Minuten realisierten wir, dass es die Terroristen waren. Mit uns versteckten sich noch zwei weitere Jungs unter dem Baum und sechs Mädchen. Wir riefen Hunderte Male die Polizei an, niemand ging ran.

Innerhalb von einer Stunde war meine Welt, so wie ich sie kannte, ins absolute Chaos gestürzt. Ich rief meine Eltern Dutzende Male an. Sie gingen nicht ran, weil sie den Schabbat einhalten. Und es war eben auch nicht meine Handynummer, die ihnen angezeigt wurde. Ich musste mich dort unter dem Baum mitten in der Wüste damit abfinden, dass ich meinen Eltern nicht Lebewohl sagen werde. Ihre Stimmen nicht noch ein letztes Mal höre. Oder sagen kann: "Ich liebe euch, danke für alles."

Mein Freund David fing meine Traurigkeit auf. Er erinnerte mich an unsere Freunde, die jetzt alle gerade beim Campingausflug am See waren. Vor zwei Stunden hatten wir uns noch über sie lustig gemacht, weil sie das Festival verpassen. Nun waren wir die Dummen. "Warum passiert uns immer so eine Scheiße?", fragte mich David mit einem breiten Grinsen. Wir fingen beide an zu lachen - Galgenhumor in Echtzeit.

Herzzerreißende Sprachnachrichten von der Front

Die nächsten fünf Stunden verbrachte unsere kleine Gruppe in einer Mischung aus Trauer, Panik und Fassungslosigkeit. Die meisten erreichten ihre Eltern, nur ich nicht. Irgendwann holte uns der Vater eines Mädchens ab.

Ich lebe zusammen mit meinen Eltern. Zu Hause angekommen ließ mich meine Mutter nicht mehr aus ihren Armen los. Ich habe sie noch nie so bitterlich weinen hören. Wenn ich mich an das verzweifelte und erleichterte Gesicht meines Vaters erinnere, kommen mir immer noch die Tränen. Er war sonst immer der Toughe, der alle beruhigt mit seiner Stärke.

Fünf Freunde von mir sind bei dem Festival gestorben. Täglich finden Beerdigungen statt. Jeder kennt in Israel jemanden, der nicht mehr lebt. Alle sind davon betroffen. Wenige Tage später starb ein Freund an der Front. Zusammen mit seinem Bruder hörten wir uns seine letzte Sprachnachricht an. Ich möchte so etwas nie wieder hören.

Vor den Anschlägen habe ich als Sicherheitskraft für Schulausflüge gearbeitet. Durch den Krieg habe ich keinen Job mehr. Doch das stört mich nicht. Vor dem Festival dachte ich, mein Leben in Israel wäre hart. Alles ist teuer hier, ein Bier kostet sieben Euro in einer Bar. Jetzt bin ich einfach nur froh, dass ich am Leben bin.

"Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder Trance-Musik hören kann"

Damit ich nicht zu Hause sitze und mich in meinen Gedanken verliere, helfe ich überall, wo ich kann. Mache Sandwiches für Soldaten. Am liebsten helfe ich meinem Freund, der sein ganzes Haus für obdachlose Hunde geöffnet hat, deren Besitzer nicht mehr leben.

Ich weiß nicht, ob oder wann ich jemals wieder Trance-Musik hören kann, die ich so sehr geliebt habe. Das Festival hat mir Menschen genommen, mit denen ich mich so tief verbunden fühlte. Die Überlebenden des Festivals starten gemeinsam Hilfsaktionen, in denen unter anderem kostenlose Therapien angeboten werden. Ich habe versucht mitzumachen, doch wenn ich die Menschen sehe, mit ihren Goa-Klamotten, ihren Hippie-Outfits, dann kommt nur Panik in mir hoch. Aber mein Festivalarmband, das werde ich so lange tragen, bis es auseinanderfällt. Ich will, dass es mich immer an diesen Tag erinnert.

Wohin sollen wir hingehen, wenn wir den Krieg verlieren? Ich passe optisch nach Europa oder in andere Länder, könnte also in einer modernen Welt leben. Nicht so wie meine Eltern oder meine Großeltern, die aus Afghanistan und Polen nach Israel kamen. Doch für mich ist Israel meine Heimat. Auch als "Datlash" würde ich es niemals verlassen.

(Aufgezeichnet von Marie Kröger)

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