Es ist Martin Luthers bekanntester Satz – und doch hat er ihn wahrscheinlich nie gesprochen: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen." Es ist die Pathosformel des Bekenners, des Gewissenstäters schlechthin! Sie stammt aus dem Zusammenhang des Wormser Reichstags, der größten Bühne, die der Wittenberger Augustinermönch jemals hatte – am 17. und 18. April, vor genau 500 Jahren.
Thomas Kaufmann
Dass dieser Satz so bekannt werden konnte, hängt mit dem Ereignis selbst, genauer: der Berichterstattung darüber zusammen. Denn in Worms ist in Erscheinung getreten, ja offenbar geworden, was die von ihm ausgelöste Bewegung, die wir die Reformation nennen, in Wahrheit war: ein Medienereignis, wie es noch nie zuvor eines gegeben hatte. Über kein Phänomen, keine geografische Entdeckung, keine Schlacht, keine Sensation oder Katastrophe, kein Monstrum war jemals zuvor so viel geschrieben und vor allem gedruckt worden wie über "Luther in Worms". Mehr als 120 umgehend erschienene Drucke handelten davon.
Dass dieser erste Reichstag des neu gewählten Kaisers Karl V. eine lange Agenda verfolgte, über Monate tagte und zahllose zentrale politisch-rechtliche Themen abarbeitete – vom Reichskammergericht und dem Landfrieden über Steuer- und Polizeifragen, außenpolitische Dinge, das Verhältnis zum Papst und Belange einzelner Reichsstände – ging im zeitgenössischen Medienecho unter. Luthers Auftritt vor Kaiser und Reich und seine Verweigerung eines Widerrufs dominierte die Aufmerksamkeit wie nichts und niemand sonst.
"Hie stehe ich" - ein Gruß an den Verleger
Der Wittenberger Agitator hatte an dieser Inszenierung einen kräftigen Anteil. Wahrscheinlich gab er selbst oder jemand aus seinem engsten Umkreis den Text der Reden, die er am 17. und 18. April gehalten hatte, in den Druck – und zwar gleich zwei Mal, im elsässischen Hagenau und im heimischen Wittenberg. Am Schluss des lateinischen Textes, der zu seinem Wittenberger Erst- und Urdrucker Johannes Rhau-Grunenberg gelangte, standen die Worte: "Ich kann nicht anderst / hie stehe ich / Got helff mir / Amen." Wahrscheinlich war das eine Art Gruß, ein persönliches Nachwort an den seit Jahren vertrauten Drucker. Dass Luther mit diesen Worten seine Rede am 18. April, in der er den Widerruf definitiv verweigerte, beendet hat, ist nicht auszuschließen; wahrscheinlich ist es nicht.
Kurz nach Luthers Tod 1546 erschien der zweite Band seiner lateinischen Werke. Darin tauchte der Satz in der seither dominierenden Form auf: "Hie stehe ich, ich kann nicht anderst." Von hier aus wanderte er in eine Fülle unterschiedlicher Texte und Drucke, unter anderem in eine weitverbreitete Ausgabe der Trauerrede, die Philipp Melanchthon auf Luther gehalten hatte und der die Wormser Reden – mit der neuen Formel – beigegeben waren. Nach Luthers Tod trieb die Heldenverehrung reiche Blüten. Welcher Nachlassverwalter das imposantere, pathetischere "Hier stehe ich!" gewählt hat, wissen wir nicht. Fortan jedenfalls bildeten der Bekenntnismoment und die Formel das zentrale Moment der Erinnerung an den unbezwingbaren "Helden von Worms".
Luther war entsetzt vom Tribunal
Brisant wurde vor allem die Politisierung der Szene im frühen 19. Jahrhundert, im Zeichen der antinapoleonischen Befreiungskriege. Der Wormser Luther wurde zur Personifikation des Deutschen schlechthin, der dem fremden, "welschen" Kaiser die Unterwerfung verweigerte. Der Wormser Luther – ein germanisches Mannsbild wie "Hermann der Cherusker". Noch auf NPD-Plakaten unserer Tage taucht das "Hier stehe ich!" auf. Auch linke Bekenner, aufrechte Antifaschisten und Bürgerrechtler wie Martin Luther King haben sich seiner bedient.
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Das früheste Zeugnis, das wir davon besitzen, wie sich Luther selbst nach dem Verhör gefühlt haben mag, klingt ernüchternd. Er habe erwartet, so ließ er den Maler Lucas Cranach in Wittenberg wissen, dass der Kaiser zahlreiche Doktoren herbeigeholt habe, um ihn, den "Münch", "redlich" zu überwinden. Stattdessen sei "nichts mehr hie gehandelt denn so viel: Sind die Bücher dein? Ja. Willst du sie widerrufen oder nicht? Nein. So heb dich!" Von Pathos keine Spur. Entsetzt war er, wie man ihn abgefertigt hatte. Das Verdammungsurteil über seine Bücher, das bereits zuvor veröffentlicht worden war, blieb bestehen. Sein wichtigstes Mittel also, seine Lehre unters Volk zu bringen, gedruckte Schriften, blieb gefährdet. Damals wäre Luther lieber den Märtyrertod gestorben.
Später veränderte sich seine Sicht auf Worms
Mit den Jahren veränderte sich seine Sicht auf Worms und die eigene Rolle. Immer wichtiger erschien ihm, dass er standgehalten hatte; immer gewisser wurde er, dass Gott ihm die Kraft dazu verliehen hatte. Immer abgründiger kamen ihm die Listen seiner Feinde vor, die ihn an den Rhein gelockt und immer treuer sein Fürst und dessen Räte, die ihm Beistand und Schutz gewährt hätten. Diese veränderte Sicht auf sein Worms-Erlebnis teilte der alternde Reformator, der allmählich zu seinem eigenen Denkmal wurde, seinen Gästen bei Tisch mit. Durch die Tischreden sickerten sie in die Erinnerungskultur des lutherischen Protestantismus ein. Nach dem Tod des heldenhaften Gottesmannes schossen die Legenden ins Kraut.
Birgt "Luther in Worms" noch ein Potenzial für die Gegenwart? Wohl am ehesten das, was historisch der Fall war: Ein von seinem Verständnis der Bibel überzeugter Theologe, den der Papst bereits verurteilt hat und dem der Ketzertod droht, lässt sich auf eine gefahrvolle Reise ein. Während dieser Reise von Wittenberg nach Worms erfährt er, dass der Kaiser seine Bücher verboten hat. In heiligem Trotz sucht er die Entscheidung.
Als ihm klar wird, dass er nur nach seiner Bereitschaft zum Widerruf gefragt wird, erzwingt er vor Kaiser und Reich einen Tag Bedenkzeit. Die braucht er, um seine Rede kunstvoll auszuformulieren und auswendig zu lernen, denn Aufzeichnungen mitzubringen verweigert man ihm. Und er hält, mit fester Stimme, die größte Rede seines Lebens. Er baut auf das Wort der Schrift – und will sich nicht auf Papst und Konzile verlassen: "Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen."
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Die Bindung an ein gewiss machendes, verlässliches Wort stellt Luther vor Kaiser und Reich über alles. Nicht das autonome Subjekt, das kraftvolle Individuum, sondern der angefochtene, aber im Wort gehaltene und sich seinerseits ans Wort haltende Zweifler, der der Herausforderung standhält – das ist der unter der mythischen Überhöhung freizulegende historische "Luther in Worms". Im Wort der Bibel sprach Christus zu ihm – in einer Unmittelbarkeit, die uns nicht mehr gegeben oder erreichbar zu sein scheint. Verlässliche Worte brauchen auch wir. Worte bedürfen der Auslegung. Da ist Kreativität gefordert, gerade in gedrückten, bleiernen Zeiten. Gerade wenn man so dünnhäutig geworden ist wie wir.
Luther leistet den Dienst, Sachverhalte anschaulich und erzählbar zu machen, die auch uns, unser Mensch- und Bürgersein berühren. Das trotzige "Nicht-anders-Können" eines "Ich" büßt in pandemischen Zeiten manches an Plausibilität ein. Denn wir sind beim Wir behaftet wie selten zuvor – dem Wir der vom Virus attackierten Spezies, dem Wir der Bewohner eines Kreises oder einer Stadt mit bestimmten Inzidenzwerten, dem Wir der Nichtgeimpften und der Teil- oder Totaleingelockten. Gemessen an dem Leben, das wir zuvor führten – Reisen, Kontakte, Großveranstaltungen, all das, was früher selbstverständlich war –, haben wir lernen müssen und gelernt: Wir können auch anders. Wir haben uns einzuschränken, wir haben zu verzichten gelernt. An der Frage, ob wir ein wenig von dem, was wir können, auch weiterhin wollen, wird sich viel entscheiden. Es könnte das "Worms" unserer Zivilisation sein.
500 Jahre Luther in Worms: Am 17. April eröffnen Stadt und Kirche mit einem Festakt in Worms das Jubiläumsjahr, am 18. April folgt ein Festgottesdienst. Geplant sind über 100 Veranstaltungen, darunter eine nächtliche Multimediashow am 17. April, ab 3. Juli die Landesausstellung "Hier stehe ich. Gewissen und Protest – 1521 bis 2021". Die Nibelungen-Festspiele zeigen von 16. Juli bis 1. August "Luther". Mehr Infos finden Sie hier.
Mehr Lesestoff finden Sie im Themenheft der EKD.
Sehr geehrte Redaktions
Sehr geehrte Redaktions-Verantwortliche,
der Artikel von Professor Kaufmann ´Luther in Worms 1521`, hier etwas umfunktioniert in: "Hier stehen wir - und können auch anders" erscheint mir etwas dürftig bis auf wenige ´freizulegende historische Sätze jenseits des heroischen " unbezwingbaren, pathetisch imposanten Helden von Worms". Das erinnert zu sehr an den Robin Hood Englands im 13.
Jahrhundert, an Kaiser Barbarossa und andere Mythen . Denn Beides, das bekenntnishafte "ich stehe hier", wie auch das "wir" , - ob damals wie heute, muß in gleicher Weise von allen gefunden werden. Für Luther wie für Paulus gilt, daß sie sich identifizieren konnten, indem beide von "meinem Evangelium" sprechen konnten. Ohne den , der sie als ´ follower ´ in seine Nachfolge rief, wären beide ziemlich alleine und ohne Wirkung geblieben. Ohne auch die Reformation, die Deutschland wie ein Lauffeuer durchzog , wären die je Einzelnen, ob Jesus , Paulus, Luther als "Spinnerte" längst abgetan worden. Typisch protestantisch oder auch deutsch empfinde ich darum, wenn zuerst in 3/4 des Artikels wir selber uns madig machen. Das spricht man gerne auch den ewig zerstrittenen Linken zu. Sie verlieren so allzuoft ihre eigene, glaubwürdige Stoßkraft, während die römischen Legionen in ihrer Obödientia ( Kadavergehorsam im links, zwei, drei vier
) solches gut konnten.
Die Entweder - Oder - Position von Professor Kaufmann : ´Luther gestern` und ´wir heute` kann ich so nicht teilen . Wir brauchen beides. Das gut protestantisch Professorale könnte sonst daran erinnern, als Jesus den Nathanael bei der Berufung kommen sieht und sagt: "Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist" ( Johannes 1, 47 ).
Freundlich, Paul Kroh
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