Vom Bußlied zum Kriegsgeheul
Vom Bußlied zum Kriegsgeheul
Breitkopf & Härtel Leipzig
Vom Bußlied zum Kriegsgeheul
Und vom Protestsong zum Lied der Reformation: Martin Luthers "Ein feste Burg" im Wandel der Zeiten.
Klaus Polkowski/Universität Freiburg
10.02.2021

Im berühmte Kunstwerke ranken sich Legenden. Von Luthers Lied "Ein feste Burg ist unser Gott" wird berichtet, eine Gemeinde in Schweinfurt habe es im Jahr 1532 gegen den Willen des Pfarrers in der Kirche gesungen, die Jugend gar auf den Straßen. Danach soll bald die Reformation eingeführt worden sein. Eine andere Legende überliefert, Kurfürst Pfalzgraf Friedrich III. habe wegen des Chorals in seinem Land keine Festungen bauen lassen: "Ein feste Burg ist unser Gott" – nicht aber von Menschenhand gemachte Gebäude. Vom schwedischen König Gustav Adolf heißt es, ­er habe im Kampf gegen die kaiserlichen Truppen das Lied anstimmen lassen und nach dem Sieg den Vers "Das Feld muss er behalten" ausgerufen.

Klaus Polkowski/Universität Freiburg

Dr. Dr. Michael Fischer

Dr. Dr. Michael Fischer, Jahrgang 1968, ist geschäftsführender Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik.

Eduard Emil Koch schreibt in seiner 1876 erschienenen "Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs", selbst die reformierten französischen Hugenotten seien "freudig mit diesem Gesang, ohne ihren Glauben zu verleugnen", gestorben. Im Ersten Weltkrieg soll ein verwundeter Soldat auf dem Operationstisch "Ein feste Burg gesungen" haben. Und Kochs Hymnologenkollege Wilhelm Nelle kolportiert 1917, ein Engländer habe ge­schrieben, man könne sich gar nicht vor­stellen, "wie schrecklich es ist, das Maschinengewehr auf ein Regiment zu richten, das mit dem Gesange des Lutherliedes heranstürmt".

Legenden wie diese sagen viel über religiöse Mentalitäten aus. Die Schreiber, die Tradierenden und Leser dieser Erzählungen glaubten an Zeichen, welche den endzeitlichen Sieg des Guten im Diesseits bezeugen. Und speziell die Errettungs- und Siegesgeschichten des Ersten Weltkriegs dienten einer nationalreligiösen Erbauung, die keinen Unterschied zwischen Welt und Gottesreich gelten ließ.

In Bronze gegossenes Lied: Das Wormser Lutherdenkmal steht noch heute. Illustration und Gedenkmünze zu seiner Einweihung 1868

Die historische Wirklichkeit hinter solchen Legenden ist oft weniger heroisch. Martin Luther hat "Ein feste Burg ist unser Gott" gegen Ende der 1520er Jahre als Glaubens- und Vertrauenslied geschrieben – in Anlehnung an Psalm 46 als christliche Aneignung und Fortführung, frei von der Bindung an die Psalmworte. Zentral war für ihn das Vertrauen auf Gott, Ausgangspunkt der Dank für eine Er­rettung. Christus steht im Mittelpunkt: "Das Feld muss er behalten" (Strophe 2). Ebenso unüberwindlich wie der Sohn Gottes ist das Wort. Es richtet und stürzt den Teufel ­(Strophe 3) und behält seine Gültigkeit auch dann, wenn der Gläubige sein Eigentum oder Leben verliert (Strophe 4). Am Schluss steht die Zu­versicht: "Das Reich muss uns doch bleiben."

"Ein feste Burg"

Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind,
mit Ernst er’s jetzt meint;
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seinsgleichen.

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;
es streit’ für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott;
das Feld muss er behalten.

Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
wie saur er sich stellt,
tut er uns doch nichts;
das macht, er ist gericht’:
ein Wörtlein kann ihn fällen.

Das Wort sie sollen lassen stahn
und kein’ Dank dazu haben;
er ist bei uns wohl auf dem Plan
mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
lass fahren dahin,
sie haben’s kein’ Gewinn,
das Reich muss uns doch bleiben.

Scharf unterscheidet Luther Welt und ­Himmel, Gott und Teufel. Seine Burg- und Wehrmetaphorik ist sehr konkret. So ­konnte "Ein feste Burg" als Kriegslied verstanden ­werden – gegen konfessionelle Gegner oder gegen Feinde wie die Türken, die Europa militärisch bedrohten. Diese kämpferische Interpretation von Luthers Dichtung widerspricht seinen Intentionen nicht unbedingt. Bei ­seiner Auslegung des 46. Psalms von 1531 nennt er ihn ein Danklied des Volkes Israel "wider alle Könige und Heiden Wüten und ­Toben". Jetzt singe man den Psalm Gott zu ­Lobe, "dass er bei uns ist, und sein Wort und die ­Christenheit wunderbarlich erhält, ­wider die höllischen Pforten, wider das Wüten ­aller Teufel und Rottengeister, der Welt, des ­Fleisches, der Sünden, des Todes etc.".

Diese Verbindung von religiöser Innerlichkeit und politischer Öffentlichkeit war in der Frühen Neuzeit allgemein verbreitet. Die Feinde der eigenen Religion bedrohten demnach die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Mehr noch: Sie zogen den Zorn Gottes auf das Gemeinwesen herab. Insofern war der Kampf gegen die Gegner der wahren Religion nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten.

"Nicht Streitlust sondern sittlicher Ernst"

In der Liturgie war "Ein feste Burg" ursprünglich nicht dem Thema "Kirche" und schon gar nicht dem festlichen Reformationsgedächtnis zugeordnet. Vielmehr sollte das Lied in der Fastenzeit, bevorzugt am Sonntag ­Okuli, erklingen. An diesem Tag werden die Gläubigen in der Epistellesung zu einem ­reinen Leben ermahnt – ohne schandbare Worte und Narrendinge oder Scherze ­(Epheser 5,4). Das Evangelium lenkt den ­Fokus auf ­eine Dämonen­austreibung Jesu. In dieser Peri­kope wird Jesus von der ­Menge vorgeworfen, er ­treibe den Teufel durch Beelze­bub, den obers­ten der Teufel, aus (Lukas 11,15). Christus verweist auf seine Vollmacht und sieht die ­Heilung als Zeichen für das nahende Gottesreich. Verknüpft man die biblischen Bot­schaften dieses Fastensonntags mit dem Liedtext, ist weder Triumphalismus noch Streitlust angesagt, sondern sittlicher Ernst.

Im Laufe der Zeit ging die liturgische ­Zuordnung des Liedes zur Fastenzeit verloren und damit der inhaltliche Zusammenhang mit Anfechtung und ­Buße. Zunächst kam das Lied zur Rubrik "Wort Gottes", schließlich über das Thema "Kirche" zum Reformationsfest. Diese Entwicklung ist bereits im frühen 18. Jahrhundert im Gange, wie das "Vollständige und vermehrte Leipziger Gesangbuch" aus dem Jahr 1729 belegt. Im Inhaltsverzeichnis ist "Ein feste Burg" sowohl dem Sonntag Okuli als auch dem Reformationsfest ("Lieder vom Worte Gottes") zugeordnet.

"Ausführliche Historie des Helden-Liedes Lutheri"

Das Lied Luthers fand im 16. Jahrhundert schnell Eingang in lutherische Kirchengesangbücher, Schul- und Chorliederbücher, auch in das reich ausgestattete Babstsche Gesangbuch aus dem Jahr 1545. Dort steht "Ein feste Burg" unter den Psalmliedern und ist dezidiert als ein Werk Martin Luthers ausgewiesen.

Die Nennung des Autors Luther diente zunächst als Nachweis der Rechtgläubigkeit und suggerierte höch­ste religiöse Autorität. Später wurde das Lied selbst zu einem Denkmal für Luther und die Reformation. Dieser Prozess setzte schon früh ein. 55 Jahre nach dem Tod des Reformators erschien unter dem Titel "Epinikion Lutheri" (Leipzig 1601) ein Preisgesang auf Luther und sein Lied "Ein feste Burg ist unser Gott".

Ähnliche Veröffentlichungen mit Bezugnahme auf dieses Lied folgten, etwa zur einhundertjährigen Erinnerung an den Wormser Reichstag (Darmstadt 1622) und zur Zwei­hundertjahrfeier des Augsburger Bekenntnisses. Hierzu erschien die "Ausführliche Historie und Erklärung des Helden-Liedes Lutheri ‚­Eine feste Burg ist unser Gott!‘" ­(Hannover 1731).

"Denkmal für Freiheit und Emanzipation"

Im 19. Jahrhundert erlebte die Monumentalisierung des Liedes neue und bis dahin ungeahnte Formen. Die Reformation wurde nicht mehr primär als religiöse, sondern als kulturelle und nationale Befreiungstat erlebt und erinnert. Sie stieg zu einem Gründungsmythos der deutschen Kultur auf. Luther wurde verehrt als politisch-religiöser National­heiliger. "Das Lutherlied", wie es jetzt hieß, wurde zum Symbol für diesen Mythos. Erklingt "Ein feste Burg ist unser Gott", ruft es bis heute diese Konnotationen Religion – Kultur – Nation ab.
Einen großen Anteil an dieser Neube­wertung des Liedes hatten die Romantiker mit ihrer Volksliedkonzeption. 1806 wurde "Ein feste Burg" in die Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" aufgenommen, die "alte ­deutsche Lieder" vereinigen wollte. ­Interessant ist die Überschrift "Kriegslied des ­Glaubens". ­Dieser vorher nicht belegte Titel spielt auf die herkömmliche Vorstellung einer mit geistlichen Mitteln kämpfenden Kirche an, lässt aber auch militärische und natio­nale Deutungen zu.

Andere weltliche Liedsammlungen, Studenten- und Turnerliederbücher im frühen 19. Jahrhundert übernahmen diese Überschrift. Die Befreiungskriege und das studentische Wartburgfest 1817, im Jahr des dreihundertjährigen Reformationsgedächtnisses, taten ein Übriges, um "Ein feste Burg" zu einem Denkmal für Freiheit und Emanzipation – individuell wie national – aufzuwerten.

"National­monument"

Unter Glockengeläut, Kanonensalven und Absingen von "Ein feste Burg ist unser Gott" wurde 1868 das Wormser Reformationsdenkmal enthüllt. Das Lied erklang nicht nur als schmückendes Beiwerk, es liegt der Denkmalskonzeption selbst zugrunde. Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb:

"Dieses hehre Denkmal des Protestantismus (…), es steht auf einem gewaltigen Stufen­unterbau, umschlossen von Mauern und Zinnen mit den Wappen der Städte, ­welche zuerst die Reformation in ihren Mauern aufnahmen und schützten, es macht den Eindruck wie das Lied, welches der Gottes­streiter mitten in Kampf und Not siegesbewusst ­gesungen hat: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen."

Die Wormser brachten also das Kunststück fertig, ein Lied in Bronze zu gießen und ihm damit ein ehernes Andenken zu schaffen – bis zum heutigen Tag. 

Die Reformation war nun endgültig Identifikationsobjekt für das mittlere und gehobene Bürgertum geworden, Luther als Kämpfer für Geistesfreiheit und Freund der Kunst und Kultur. Das "Reformationsgedächtnis" feierte man als nationales Ereignis, bisweilen mit antifranzösischen Untertönen. Der Künstler Ernst Rietschel, Schöpfer des Wormser Denkmals, sprach selbst von einem "National­monument". Die Theologen mussten sich ­mühen, dem Denkmal eine reli­giöse Bedeutung im Sinne traditioneller Dogmatik und Kirchlichkeit abzuringen. Der Elsässer Pfarrer Adolf Stöber thematisierte dabei den Glauben als eine fundamentale Größe:

Und nimmer wird das Werk zu Spott,
das Luthers Geist geschaffen:
"Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen!"
So ruft das Denkmal laut,
vom Glauben auferbaut –
ein steinerner Gesang,
hell wie Posaunenklang
und hehr wie Luthers Hymne.

"Lied der Erbauung"

Die Aufklärung konnte nicht allzu viel mit dem Lied anfangen, es war sprachlich und theologisch sperrig und nur durch den ­Namen Martin Luther einigermaßen geschützt. Es wurde aber vielfach umgedichtet, um es den neuen poetischen, theologischen und liturgischen Bedürfnissen anzupassen. Dichter wie Christian Fürchtegott Gellert und Johann Adolf Schlegel entmeta­phorisierten und ent­militarisierten es. Schlegels Lied, 1774 in der Sammlung "Lieder der Deutschen zur Er­bauung" gedruckt, beginnt mit:

Ein starker Schutz ist unser Gott!
Auf ihn steht unser Hoffen.
Er hilft uns treu aus aller Not,
so viel uns der betroffen.
Satan, unser Feind,
der mit Ernst es meint,
rüstet sich mit List,
trutzt, dass er mächtig ist.
Ihm gleicht kein Feind auf Erden.

In einer Umdichtung von Hermann Heimart Cludius mussten die "heidnische Unwissenheit", "der Irrtum" und "der Aberglaub’" die Waffen strecken. Der Titel "Ermunterung bei Besorgnissen wegen der Feinde der Religion" reagiert auf eine neuartige religiöse Problematik: 1786, wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution, wendet sich der Autor nicht mehr gegen konfessionelle ­Geg­ner. Vielmehr wird den Indifferenten, Religionsverächtern und Freidenkern der geistige Kampf angesagt:

Ein starker Schutz ist unser Gott,
ihm können wir vertrauen.
Nie macht die Welt sein Wort zum Spott,
davor darf uns nicht grauen.
Sein Reich wird wohl bestehn;
es kann nicht untergehn.
Die Seinen schützet Er:
Was will der Feinde Heer?
Es muss mit Schande weichen.

"Historisches Glaubenszeugnis"

Einige aufgeklärte Theologen konnten das Lutherlied nur noch als Zitat, als historisches Glaubenszeugnis akzeptieren. So eröffnet "Ein feste Burg" im Oldenburger Gesangbuch von 1792 die Rubrik "Reich Jesu auf Erden, christliche Kirche", allerdings mit dem entschuldigenden Zusatz, das Lied Luthers sei "als Denkmal ­seines hohen Mutes unverändert beibehalten" worden. Damit gilt es nicht mehr als liturgisch zu vollziehendes Gebet, sondern nur noch als ein Monument.

Andere Gesangbücher historisierten und entschärften den Luthertext durch Zusatz­strophen, etwa durch die Einleitung "Vor dir, Herr, denken wir erfreut an unsrer ­Väter ­Glauben (auf die Melodie ,Allein Gott in der Höh’ sei Ehr‘)". Nach dem "Lutherlied" – vorsichtshalber mit Anführungszeichen ver­sehen – folgt die Strophe (gesungen auf die Melodie von "O Gott, du frommer Gott"):

So sangen sie:
und weit erschollen ihre Lieder;
die Völker kehrten froh zum freien Glauben wieder.
Der Aberglaube floh, es wich die düstre Nacht,
das Evangelium ward an das Licht gebracht.

Noch 1849, als sonst überall die Gesangbuchrestauration im Gange war, druckte das ­Hessische Gesangbuch diese bemerkenswerte Fassung ab. Ihre Besonderheit besteht darin, dass "Ein feste Burg" Teil einer religiösen, heilsgeschichtlich aufgeladenen Erzählung geworden ist.

"Nationalisierung und Politisierung"

Die Bearbeitungen und Umdichtungen der Aufklärung stießen im 19. und 20. Jahrhundert vielfach auf Kritik, die manchmal ästhetisch, manchmal theologisch motiviert und teilweise durchaus berechtigt war. Allerdings verkannte man das große und bleibende Verdienst der Aufklärung, die Traditionen des Christentums in einer neuen Weise formu­lieren zu wollen, damit die Menschen davon geistig-geistlich berührt werden.

Die Nationalisierung und Politisierung von "Ein feste Burg" beginnt im 19. Jahrhundert. Im Kontext der napoleonischen Kriege ­wurden das Lied und seine Parodien als Kriegsgesang gebraucht. So konnte man mit den 1813 publizierten "Kriegs-Gesängen für freie Deutsche" singen:

Eine feste Burg ist unser Gott:

Auf, Brüder, zu den Waffen!
Auf! Kämpft zu Ende aller Not,
Glück, Ruh der Welt zu schaffen
vor’m argen Feind,
der schlecht es meint!
Sein’ Rüstung ist
Gewalt und List:
Die Erd’ hat nicht seines Gleichen.

In den deutschen Ländern verband sich mit dem Lutherlied die Forderung nach politisch-staat­licher Einigung, nach Gewissens- und Gedankenfreiheit sowie der Ruf nach Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Verfassung. Die kulturelle und emanzipatorische Kraft des reformatorischen Liedes wurde also auf die Zeitverhältnisse bezogen. Ersehnt wurde die Einheit der Nation, wobei die dominierenden Protestanten andere Konfessionen, ins­­besondere Katholiken und Juden, ausschlossen. 

"... der deutsche Wehr- und Schlachtgesang"

Diesem Trend folgten auch die Luther­deutungen und Liedinterpretationen im Umfeld der deutschen Einigungskriege und der Reichsgründung von 1871. Jetzt trat beim Lutherlied die militärische Komponente vollends in den Vordergrund, gerichtet gegen Frankreich und gegen das Papsttum, das 1870 im Ersten Vatikanischen Konzil mit dem ­Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit ­unmissverständlich seine Deutungs- und Herrschaftsansprüche klargestellt hatte.

Zum Reformationsfest dieses Jahres schrieb Eduard Kauffer ein Gedicht mit dem Titel "Ein feste Burg ist unser Gott". Es beginnt folgendermaßen:

Kaum scholl noch je in größrer Stunde
der deutsche Wehr- und Schlachtgesang,
seit er aus seines Dichters Munde
wie Klirren schwerer Rüstung klang.
Der Himmel hielt Gericht und machte
der wälschen Spötter Spott zu Spott:
Der Krieg frisst den, der ihn entfachte –
Ein feste Burg ist unser Gott.

"Volksgemeinschaft, Lebensgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft"

Auch im Ersten Weltkrieg scheuten sich Theologen und Hymnologen nicht, "Ein feste Burg" direkt auf den Krieg zu beziehen und es aggressiv gegen die Feinde des Deutschen Reiches zu wenden. In unzähligen Predigten, Ansprachen und Erbauungsschriften wurde das Lied nationalistisch und militaristisch in Anspruch genommen. Der reformierte Pfarrer in Nürnberg, Christoph Fikenscher, formulierte im ersten Kriegsjahr, das Lied sei "der König geblieben, unerreicht in seiner majestätischen Wucht und ursprünglichen Gewalt, selbst ein Kämpfer und Sieger, der dem Geschlecht von heute die Riemen seiner Rüstung fester schnürt." Es stehe für den Zusammenhang von "Volksgemeinschaft, Lebensgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft".

Ein anderer Geistlicher, Paul Conrad, behauptet, das Lied, "in dem es klingt wie Schwertgeklirr und Wogenprall!", sei oft "in diesen ern­s­ten Wochen" gesungen worden. Immer neu habe es "Mut und Kraft, Trost und Zuversicht" gebracht. Und er prophezeit:

"Der mit den Vätern gewesen ist, wird auch uns nicht vergessen. Der uns 1813 und 1870 geschenkt hat, wird uns auch das Jahr 1914 segnen. Der Deutschland groß gemacht, wird uns auch in diesen schweren Tagen nicht zerbrechen lassen."

"Lied der Schlachtfelder"

Zum 400. Reformationsjubiläum geht Wilhelm Nelle, ein hoch angesehener Hymnologe, mit der Schrift "Ein feste Burg ist unser Gott! oder Das Heldentum in Luthers Liedern" (Leipzig 1917) an die Öffentlichkeit. In dieser Propaganda­schrift spricht er vom "Lied der Lieder", das zugleich das "Lied der Schlachtfelder" und das "Lied der Schlagfertigkeit" sei. Im Krieg werde es oft gesungen, von Katholiken wie von Protes­tanten. Nelle pflichtet einem ungenannten Zeitgenossen bei: Der Verlust von "Ein feste Burg" wäre für das gesamte Volk größer "als die Vernichtung eines Millionen­heeres".

Mit der nationalsozialistischen Herrschaft endete solcher Missbrauch des Liedes nicht, allerdings spielte es im "Dritten Reich" eine viel geringere Rolle als im Kaiserreich. Die "Deutschen Christen", die ihre Theologie mit der nationalsozialistischen Ideologie gleichschalteten, nahmen es in ihr Gesangbuch (Berlin 1941) auf. Es eröffnet dort unter der Überschrift "Volk vor Gott" die Rubrik "Heilig Vaterland". Sehr einschlägig geriet auch die Predigt des Pfarrers Walter Kawerau 1936 auf dem Reichsparteitag der NSDAP. Ihr ­Thema: "Ein feste Burg ist unser Gott! Das Lied Luthers gegen die Türken. Das Lied des heutigen Deutschland gegen den Bolschewismus".

Motive aus dem Ersten Weltkrieg (von oben nach unten): Siegfried gegen eine Hydra mit fran zösischen  Häuptern, Feld gottesdienst 1918, Toten gedenken 1916

Aufgrund seiner interpretationsoffenen Metaphorik konnten sich unterschiedliche politische Richtungen und Weltanschauungen das Lied aneignen. Es gibt auch eine produktive Fortschreibung durch Arbeiterbewegung und So­zialdemokratie, welche im 19. Jahrhundert sich sonst zumeist nur abgrenzend auf Religion und Kirche bezogen. "Ein feste Burg" aber war im kollektiven Gedächtnis präsent und eignete sich als feierliches, kämpferisches, identitätsstärkendes Lied. Christliche Traditionen wurden mit revolutionären, antikirchlichen und aufklärerischen Elementen gemischt. Dies zeigt ein Text Carl Weisers, abgedruckt im "Proletarier-Liederbuch" (Chemnitz 1873):

Ein feste Burg ist unser Gott:
der freie Geist der Wahrheit!
Es bricht das schwere Joch der Not –
und führt aus Nacht zur Klarheit.
Der alte böse Feind,
der Gottes Macht verneint –
heißt: Rohe Tyrannei,
List, Pfaffenklerisei –
und Götzentum des Mammon.

Geistesgeschichtlich sind für "linke" Interpretationen des Liedes Äußerungen Heinrich Heines von besonderer Bedeutung. Dieser ­hatte 1834 in der Abhandlung "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" Luther in seiner politischen und kulturellen Bedeutung gewürdigt. Für Heine war der ­Reformator ein "religiöser Danton"; das Lied "Ein feste Burg" mutierte zur "Marseiller Hymne der Reformation". Friedrich Engels benutzte später die Formulierung "Marseillaise des 16. Jahrhunderts". Bert Brecht hat dann in seinen "Hitler-Chorälen" (1933) das von den Nationalsozialisten vereinnahmte Lied ex­plizit gegen den "Führer" gewandt: "Ein’ große Hilf war uns sein Maul."

"Ein feste Burg ist unser Stammheim"

Auf den Tod der Ulrike Meinhof im Gefängnis 1976 reagierte Erich Fried mit der Parodie "Ein feste Burg ist unser Stammheim", veröffentlicht im Gedichtband "So kam ich unter die Deutschen" (Hamburg 1977). Auch bei den politischen Bewegungen der 1980er Jahre diente das Lied verschiedentlich als Vorlage für Protestsongs, etwa in der Anti-Atomkraft-Bewegung. 1980 sangen Demonstranten gegen das Atommüll-Endlager in Bezug auf den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht:

Ein feste Burg das Wendland ist,
voll Polizei in Waffen.
Allgegenwart und Spitzellist
sind ihr Gewalt und Waffen.
Der altböse Feind
mit ERNST erʼs jetzt meint,
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
im Land ist nicht seinsgleichen.

Diese Parodie zeigt, wie das "protestantische Erbe" in säkularer Gestalt weitergeführt werden kann.

Die Zahl der Vertonungen und musikalischen Bearbeitungen von "Ein feste Burg" Legion zu nennen, wäre eine Untertreibung. Schon im 16. Jahrhundert befassten sich zahllose Komponisten mit dem Lied: Vertonungen finden sich etwa bei Georg Rhaw, Martin Agricola, Hans Kugelmann, Lucas Osiander, Sethus Calvisius. Im 17. und 18. Jahrhundert folgen Bartholomäus Gesius, Hans Leo ­Haßler, Michael Prätorius, Johannes Eccard, Samuel Scheidt, Johann Crüger, Georg Philipp Telemann und Johann Friedrich Doles.

"Protestantisches Identifikationssymbol"

Musik- und kulturgeschichtlich hat die Kantatenbearbeitung von Johann Sebastian Bach (1685–1750) wohl die größte Bedeutung, nicht nur aufgrund ihrer kompositorischen Qualität: ein "Denkmal" und protestantisches Identifikationssymbol. Die Kantate "Ein feste Burg ist unser Gott" (BWV 80) geht auf ein älteres Stück zurück: "Alles, was von Gott geboren" (BWV 80a). Schon darin spielte das Lutherlied eine prominente Rolle, schloss das Werk doch mit der Strophe "Mit unser Macht ist nichts getan". Komponiert wurde sie für den Sonntag Okuli, wie für das Lied ursprünglich vorgesehen.

Da in Leipzig während der Fastenzeit keine Kantaten aufgeführt werden durften, ist die Besetzung in der späteren Leipziger Fassung für das Reformationsfest relativ bescheiden: vier Singstimmen, Streicher, Generalbass und lediglich drei Oboen. Die den heutigen Höreindruck prägenden sprichwörtlichen "Pauken und Trompeten" kamen erst durch Bachs Sohn Wilhelm Friedemann hinzu, der die Kantate in seiner Zeit als Kantor der Marktkirche in Halle (1746 – 1764) aufführte. Seine in der Wirkung großartige Instrumentierung zeigt ein anderes Verständnis der Reformation. Das Fest wurde nun geradezu triumphalistisch begangen, die einstige Bußgesinnung und Demut trat in den Hintergrund.

In Giacomo Meyerbeers Oper "Les Huguenots" (1836) dient das Lied tatsächlich als Symbol für den Kampfesmut der reformierten Hugenotten. Felix Mendelssohn Bartholdy integriert es als Choral in den Finalsatz der "Reformationssymphonie", komponiert zum 300. Jubiläum der Augsburger Konfession 1830. Neben diesen ambitionierten Werken erklang der Choral auch in Gelegenheitskompositionen, etwa in Otto Nicolais "Kirchlicher Festouvertüre" zum 300-Jahr-Jubiläum der 1544 gegründeten protestantischen Universität in Königsberg und in Richard Wagners opulent instrumentiertem "Kaisermarsch" zur Reichsgründung 1871.

Auch katholische Komponisten widmeten sich dem Lutherlied, ein Beleg für dessen Bedeutung über Konfessionsgrenzen hinweg. Franz Liszt erstellte von Nicolais Fest­ouvertüre 1852 eine Orgelfassung. Max Reger eröffnete 1898 die Folge seiner groß­formatigen Choral­fantasien für Orgel mit einer Vertonung von "Ein feste Burg" (op. 27), und sein chor­symphonischer 100. Psalm (1908/09) schließt ebenfalls mit diesem Choral, ge­blasen von einer separat postierten Trompetteria.

Das Lied symbolisiert das feindliche Deutschland

In "En blanc et noir", einem Werk Claude Debussys für zwei Klaviere, komponiert mitten im Ersten Weltkrieg, zitiert der französische Komponist Luthers Reformationslied im zweiten Satz, der einem "vom Feind getöteten" Freund gewidmet ist. Unverkennbar symbolisiert "Ein feste Burg" das feindliche Deutschland. Es empfiehlt sich geradezu für musikalische "Schwarz-Weiß-Malerei".

Damit scheint die Rezeption des Liedes in der außerkirchlichen Kunstmusik zu enden. In der kirchenmusikalischen Binnenkultur entstanden im 20. Jahrhundert allerdings weiterhin viele Orgelbearbeitungen und Chor­sätze.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts eröffnet der aus dem Libanon stammende katholische Pariser Organist Naji Hakim mit der 2006 komponierten Orgelsuite unter dem Titel "Mit seinem Geist" eine neue Sichtweise auf Luthers Lied. Heiter und tänzerisch, geradezu humorvoll lässt sich in acht teilweise ­virtuosen Variationssätzen ein fröhliches Glaubenslied entdecken.

Infobox

Eine fünfteilige Serie über die Geschichte berühmter Weisen – und was wir künftig in der Kirche singen:

Stille Nacht
Ein feste Burg
Lobe den Herrn
Danke
Die Zukunft des geistlichen Liedes

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Man kann diesem Lied sehr leicht alles militärische, triumphalistische und jedes Überlegenheitsgefühl nehmen, wenn man statt der „späteren Form“ wieder die ursprüngliche rhythmische Fassung singt/singen lässt. Auf diese Fassung kann man nicht marschieren, weder mit den Beinen, noch im Kopf. Es wird Zeit, dass sich diese Fassung wieder durchsetzt!!!

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Vielleicht bedienen sie mit den Artikeln über bekannte Kirchenlieder ja „nur“ eine Nische, ich weiß es nicht, aber ich jedenfalls steh in dieser Nische und finde es eine großartige Idee der Redaktion, diese Beitragsserie installiert zu haben. So viel erschließt sich im Glauben übe die Lieder. Darum: Vielen Dank!
Christoph Schilling

Die Absicht ist zu schön, um realistisch zu sein. Ene Kritik des Textes ist eine Anmaßung, aber auch ein Bilder- (resp. Inhalts)-Sturm ist noch lange keine Lösung. In einigen Gymnasien wird noch Altgriechisch gelernt. Vermutlich nur für wenige Archäologen und für den Rest als Höchstbildung, damit man sich gegenseitig als elitär erkennen kann. Das Vokabular der innerkirchlichen Zirkel dient vermutlich dem gleichen Zweck. Eine "Fort-, bzw. Burg"-Sprache mit dem Ziel der Einlaßkontrolle. Glaubt jemand ernsthaft, dass mit diesem unendlich langen Text, mit den lähmenden Wiederholungen und den unbegreiflichen Inhalten die verlorenen Seelen erreicht werden können? Die Kirche gebärdet sich von den emotionsgeladenen Kanzeln mit den schönen und harmonischen Liedern und deren dissonanten Inhalten wie ein Theater. Nach der Vorstellung abschminken und wieder runter von der Kanzel, um die eigenen unverbesserlichen Realitäten zu zeigen. Gott ist in seiner Person (eine hilfsweise Bezeichnung) weder ein "Racheengel" noch ein Gütesiegel, der uns erst die Erbsünde verpasst, um uns dann für die sich daraus ergebenden "Sünden" zu bestrafen. Ähnlich einer "Self fullfilling Prophetie". Wenn ein neuer "Luther" kommen soll, bedarf es einer "Glaubensrevolution". Hierfür fehlt mir jede Phantasie. Aber zu glauben, dass allein unsere Spezies Anfang und Ende, Himmel und Hölle, Unendlich und Endlich, Wahrhaftig und auf immer Verloren sein soll, sprengt jeden "Kopf".