Dialog, wertschätzende Kommunikation, Diskussion auf Augenhöhe – wer das alles nicht beherrscht, hat es meist schwer. Bei der Arbeit, in der Schule, in der Politik und in der Kirche, überall setzen wir auf den demokratisch ausgehandelten Kompromiss. Ein Eiferer stört da die Runde. "Schaum vorm Mund!", sagt man ihm abwehrend nach. Auch der rhetorisch glänzende Polemiker, der die Kollegin herabsetzt und die Lacher zunächst auf seiner Seite hat, macht sich auf Dauer unbeliebt. Der Spalter reißt gesellschaftliche Gräben auf oder verbreitet ein Klima der Angst. Ein Moment von Anarchie erfüllt die Bühne und stellt den Status quo in Frage. Der Konsens wird mit Wucht zerstört; es wird abgerechnet.
Katharina Kunter
In aller Regel fürchten wir die Kraft des Zerstörerischen. Und doch kann in ihr eine Quelle von Neuem liegen, von Innovation. Das wissen Serienautoren ebenso gut wie das Silicon Valley. Das gemütliche Sofa des aufgeklärten Diskursraums, auf dem es sich die evangelische Kirche heute bequem gemacht hat, ist kein Ort für solche Erschütterungen. Unangepasstes Denken und Reden verstört ihr Innerstes zutiefst.
So erleben wir es in Generationenkonflikten. Ältere Menschen erinnern sich an die Studentenrevolte von 1968: wie die Jungen uralte Gewissheiten über den Haufen warfen, gar nicht um Verständigung bemüht waren, sondern einfach ihren eigenen Lebensentwurf gegen den der etablierten Generation behaupten wollten. So erleben es Eltern vielleicht zu jeder Zeit, auch heute. Die Jugend rebelliert gegen ihre Lebensentwürfe, um sich von ihnen zu lösen und ihren eigenen Weg zu gehen.
Eine ähnliche Erschütterung mögen die Menschen im Jahr 1520 erlebt haben, als der Reformator Martin Luther seine drei großen Reformschriften verfasste – im Jahr drei nach dem berühmten Thesenanschlag. Die zweite der drei Schriften nannte er "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche". Mit ihr richtete sich Luther zwar in der Gelehrtensprache Latein lediglich an die geistige Elite und den gebildeten Klerus. Doch schon ihr Titel barg Zündstoff – was in der Form zu den vornehmen Gepflogenheiten der Universität, Luthers Arbeitgeberin, sonst gar nicht passte.
Rom sei sündig wie Babylon
Luther bezog eine der eindrücklichsten Fremdheitserfahrungen der Bibel, das babylonische Exil des Volkes Israel, ausgerechnet auf die Kirche. Zu biblischer Zeit, nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, waren Teile des Volkes Israel nach Babylonien verschleppt worden, in die Fremde. Genau wie ihnen ergehe es nun den Christen in den deutschen Landen des Heiligen Römischen Reiches im Jahr 1520. Sie lebten in Gefangenschaft, seien abhängig von einer korrupten Herrschaft, die ihnen das wahre Heil verwehre. Luther behauptete: Rom und der Papst seien kein Deut besser als das sündige und vielfach verfluchte Babylon von einst.
Serie: Luthers wegweisende Schriften
Teil 1: Die Adelsschrift Teil 2: Die Babylonica Teil 3: Die Freiheitsschrift
Manchmal ist Kreativität eine Frage von Leben und Tod. Einiges war Martin Luther schon seit dem Sommer des vorangegangenen Jahres immer klarer geworden, seit der Leipziger Disputation gegen den ihm rhetorisch überlegenen Ingolstädter Star-Theologen Johannes Eck im Juni 1519: Nicht dem Papst gebührt die Autorität in geistlichen Fragen, sondern allein der Heiligen Schrift, der Bibel – womit sich Luther in offenen Widerspruch zur kirchlichen Lehre begab und eine Anklage als Ketzer riskierte. Sein Leben stand auf dem Spiel.
1520 schuf der Wittenberger Maler Lucas Cranach einen Kupferstich, der Luther als Mönch zeigt, mit Tonsur und entschiedenem Blick, in der Hand die Bibel: Dieser Mönch nahm den Kampf gegen die Autorität der Kirche auf. Das Bild verbreitete sich rasch. Am 15. Juni 1520 wurde öffentlich, dass der Papst Luther den Bann androhte, den Ausschluss aus der Kirche.
Radikale Kritik, Witz und Argumente
Die polternde Flugschrift "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" erschien am 6. Oktober. Ein "Vorspiel" nannte Luther sie ironisch. Er wusste, dass ein Prozess gegen ihn bevorstand. In dessen Verlauf, so stellte er es sich vor, würde er den Ketzervorwurf entkräften und einen noch größeren Widerspruch formulieren. In einer existenziell so brisanten Lage wären andere verzweifelt.
Mit radikaler Kritik, mit Polemik, Witz und scharfem Argument griff Luther das dogmatische Herz der römisch-katholischen Kirche an: ihre Heils- und Sakramentenlehre. Nach dem Verständnis der mittelalterlichen Kirche war ein Sakrament ein Heilswerkzeug. Nur über die Priester, die das Sakrament vollzogen, konnten die Gläubigen Heil erfahren und gerettet werden. Auf sieben Sakramente hatte sich erst 1439 das Konzil von Florenz festgelegt: Taufe, Firmung, Kommunion, Beichte, Ehe, Weihe und letzte Ölung. Bei Katholiken und in der orthodoxen Ostkirche gelten sie noch heute.
Luther schimpfte: Mit ihrer Sakramentenlehre fessele die Papstkirche ihre Gläubigen wie Gefangene an sich. Der geistliche Stand mache seine Heiligkeit "immer hochheiliger", indem er ein Gewese um die Sakramente treibe: "Nicht einmal eine Nonne, eine heilige Jungfrau, darf die Altar- oder andere heilige Tücher waschen . . . Ich fürchte, dass es in Zukunft den Laien auch nicht mehr erlaubt sein wird, den Altar anzurühren, ehe sie nicht zuvor Geld geopfert haben. Ich zerspringe fast, wenn ich an diese gottlose Tyrannei jener üblen Frevler denke, die mit solch dummen Geschwätz und kindischen Possen die Freiheit und Herrlichkeit des christlichen Glaubens verspotten und zugrunde richten." Aus dieser Gefangenschaft müsse die Kirche befreit werden.
Unbändiger Zorn
Die Historikerin Lyndal Roper berichtet in ihrer Luther-Biografie, wie der kaiserliche Beichtvater auf die Lektüre von Luthers "Babylonica" reagiert habe: "als hätte ihn einer mit einer Peitsche vom Kopf bis zu den Füßen gespalten". Auch andere fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Für sie war Luther zu radikal. Es fehlte jede vermittelnde Brücke, jedes Dialogangebot. Stattdessen unbändiger Zorn gegen die römischen "Großmäuler" und "Kriegsführer": "Ihr Römer seid Ketzer und gottlose Rottengeister, weil ihr euch einzig eurer Einbildungen rühmt – gegen die klare Schrift Gottes! Wascht euch von diesem Vorwurf rein, ihr Herren!"
Und: "Vorwärts, ihr Papstschmeichler! Erhebt euch wie ein Mann, gebt euch Mühe, verteidigt euch gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit, der Tyrannei, der Beleidigung des Evangeliums, der ungerechten Schmähung der Brüder, die ihr als Ketzer beschimpft – sie, die sich an die so offenbare und mächtige Schrift halten, im Gegensatz zu euren törichten Hirngespinsten."
Verschreckte Sympathisanten
Nicht wenige Humanisten und Geistliche, bis dahin Luther gegenüber freundlich und zustimmend, wandten sich ab. Musste diese Polemik sein, diese Schärfe? Musste sich Luther über seine Gegner so lustig machen und sie frontal angreifen?
Im Zentrum seiner Gegner stand der Papst, und auch hier geizte Luther nicht mit deftigen Vergleichen: Mal bezeichnet er ihn ironisch als "Engel vom Himmel" mit einer ungestraften, aufgeblähten "Gewaltherrschaft" oder als "Schmeichler in seiner Unkenntnis". Und er kündigte selbstgewiss an, dass auf sein "Vorspiel" hier ein noch gewaltigeres folgen würde.
Natürlich polterte Luther nicht nur, er argumentierte auch biblisch: Die Kirche brauche nur die Sakramente, die von Jesus eingesetzt und im Neuen Testament nachgewiesen seien: Abendmahl und Taufe. Auch ihm selbst stand noch nicht das ganze Reformprogramm fertig vor Augen. Am Anfang der Schrift von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche zählt er auch Buße und Beichte zu den Sakratmenten. Am Ende der Babylonica entschied er sich aber dagegen.
Nur Abendmahl und Taufe
Die übrig gebliebenen Sakramente, Taufe und Abendmahl, befreite er aus dem priesterlichen Klammergriff: Abendmahl und Taufe seien keine Werke, mit denen man sich Gott gefällig machen könne. Ein Christ brauche nur den Glauben, dieser allein mache den Sünder gerecht, denn, so schrieb er: "Beim Glauben an die Sakramente musst du anfangen, ohne alle Werke, willst du selig werden."
Zum Schluss kündigte Luther an: "Den restlichen Teil werde ich nächstens mit Christi Hilfe so herausgehen lassen, wie es der römische Stuhl bisher weder gesehen noch gehört hat. Damit werde ich meinen Gehorsam zur Genüge beweisen. Im Namen unseres Herrn Jesu Christi. Amen." – Gehorsam gegenüber der Heiligen Schrift, meinte Luther, und gerade nicht gegenüber dem
Wenige Monate nach der Veröffentlichung der Babylonica wurde Luther aus der Kirche ausgeschlossen. Die römisch-katholische Kirche blieb jedoch verunsichert. Erst Jahrzehnte später, auf dem Konzil von Trient (1545–1563), bestätigte ein Dekret die Siebenzahl der Sakramente und lehnte damit Luthers Sakramentsvorstellung offiziell ab.
Der Streit dauert bis heute an
So motivierend Luthers heftiges Auftreten auf die unerschütterlich Reformwilligen damals gewirkt haben mag, heute versperrt sich der scharfe Theologe und schonungslose Kirchenkritiker unserem modernen, dialogorientierten Selbstverständnis. Die protestantisch geprägte Ökumenische Bewegung des 20. und 21. Jahrhunderts setzt auf Ausgleich und Kompromiss. Sie will den von Luther aufgerissenen konfessionellen Graben überwinden.
1973 schlossen sich europäische evangelische Kirchen auf dem Leuenberg bei Basel der Leuenberger Kirchengemeinschaft an: lutherische, reformierte, unierte Kirchen und andere protestantische Gemeinschaften. Sie erkannten wechselseitig die evangelischen Sakramente Abendmahl und Taufe an. Bestehende theologische Unterschiede gelten seither als nicht mehr kirchentrennend.
Der von Luthers Babylonica ausgelöste Abendmahlsstreit zwischen Protestanten auf der einen und Katholiken und Orthodoxen auf der anderen Seite besteht bis heute weiter. Ob der Ökumenische Kirchentag 2021 in Frankfurt mit kreativer Wucht Neues hervorzubringen vermag? Wer weiß, vielleicht gelingt es ja einem neuen Provokateur, Bewegung in die erstarrten Fronten zu bringen.
Vor drei Jahren erinnerte das Reformationsjubiläum an Luthers 95 Thesen. 2020 jährt sich das Erscheinen seiner drei wichtigsten Schriften zum 500. Mal. Die Kirchenhistorikerin Katharina Kunter stellt sie in einer Serie vor.