Die Entscheidung - Alberto Hemsi
Die Entscheidung - Alberto Hemsi
Marco Wagner
Diese Musik muss weiter­leben
Während des Krieges reifte sein Entschluss: Alberto Hemsi sammelte sephardische Volkslieder – bevor sie ganz verschwanden.
Ruthe Zuntz
28.03.2019

 

Vorgelesen: Die Entscheidung "Diese Musik muss weiter­leben"

Konzertpianist wollte er werden. Und so zog der begabte Junge Alberto Hemsi als 16-Jähriger, ausgestattet mit einem Stipendium, nach Mailand ans ­Conservatorio Giuseppe Verdi. Sein Professor für Musikgeschichte, ­Giusto Zampieri, lehrte die Musik ­aller Völker. Nur die der Juden ließ ­er aus. "Alberto Hemsi war enttäuscht", sagt Hervé Roten, Direktor des Euro­päischen Instituts der Jüdischen ­Musik in Paris.

Hemsi, sephardischer Jude, ge­boren 1898 in Kasaba, einer Kleinstadt östlich des heutigen Izmir im Osmanischen Reich, sprach seinen Professor darauf an. Der war zunächst interessiert, befand dann aber: Die ­traditionellen jüdischen Melodien seien verloren gegangen. Alberto Hemsi wollte das so nicht stehen lassen. Er habe vielmehr, sagt Hervé Roten, vor sich das Bild des Kantors seiner Syna­goge gesehen und den lebendigen ­Gesang seiner Vorfahren gehört.
Sepharden, so nennt man die Juden, die 1492 von der Iberischen Halbinsel vertrieben worden waren. Sie siedelten sich danach vor allem im Osmanischen Reich an, wo sie frei leben konnten. Ihre Sprache, das ­Ladino, behielten sie bei.

Er war am Arm verwundet und konnte nicht mehr Konzertpianist werden

Überall im Osmanischen Reich besangen Ladino-Vokalquartette auf Hochzeiten die Liebe und die Schönheit der Frauen. Es gab Ladino-Wiegenlieder wie "Durma, durma" und fromme Weisen für die Festtage wie das mittelalterliche Pessachlied "Echad mi Jodea" – orientalische und iberische Melodien, mal virtuos verspielt, mal sehnsuchtsvoll und schmachtend, oft umspielt von rhythmischen Instrumenten.

Ruthe Zuntz

Igal Avidan

Igal Avidan, geboren 1962 in Tel Aviv, studierte englische Literatur und Informatik in Ramat Gan sowie Politikwissenschaft in Berlin. Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Journalist u. a. für verschiedene israelische Zeitungen und den Deutschlandfunk. Sein neues Buch "'… und es wurde Licht!' Jüdisch-arabisches Zusammenleben in Israel" erschien 2023 (Berenberg-Verlag).

1917 zog Alberto Hemsi als italie­nischer Soldat in den Ersten Weltkrieg, denn seine Familie stammte ursprünglich aus Livorno. Doch schon bald wurde er am rechten Arm verwundet. "Er musste seinen Plan begraben, Konzertpianist zu werden", sagt der Berliner Sänger und Kantor Assaf Levitin, der eine Magisterarbeit über Hemsis liturgische Musik geschrieben und seine Strophenlieder auf CD eingesungen hat.

Als er aus dem Krieg heimkehrte, da stand sein Entschluss schließlich fest

Als Alberto Hemsi 1919 heimkehrte, soll seine Großmutter vor Freude alte sephardische Strophenlieder gesungen haben, sogenannte Coplas. Da habe sein Entschluss festgestanden, das musikalische Erbe der sephardischen Juden dem Vergessen zu entreißen. Eine Lebensaufgabe.

Das Osmanische Reich zerfiel, ­nationalistische Jungtürken und gebildete Juden drängten auf Assimi­lation und Moderne, viele andere ­Juden waren auf der Flucht. Und ­Hemsi sammelte die alten traditionellen Coplas Sephardies. Er schrieb auf, was bis dahin von Generation zu Generation mündlich weitergegeben worden war, erst daheim in Klein­asien, dann auf Rhodos, wo er 1924 er eine Stelle als Musiklehrer bekam.

Es gelang Hemsi noch, das musikalische Erbe der Juden in Thessaloniki und Rhodos zu retten

Und er komponierte Klavierbegleitungen für 60 der insgesamt 230 Coplas, die er in den sephardischen Gemeinden des Mittelmeerraumes vorfand. Seine ersten fünf Noten­hefte mit Coplas erschienen im Selbstverlag in Alexandria. Dort leitete er ab 1928 die musikalische Gestaltung der Eliyahu-Hanavi-Synagoge und lehrte in Schulen der Gemeinde. Als die Wehrmachtstruppen 1942 in Richtung Alexandria vorstießen, floh er nach Kairo. Es gelang ihm aber noch, das musikalische Erbe der Juden in Thessaloniki und Rhodos zu retten. In der Shoah wurden beide Gemeinden fast vollständig vernichtet.

Fünf weitere Hefte mit Coplas veröffentlichte er später in Paris, wohin er 1957 vor den ägyptischen Nationalisten fliehen musste. Am Séminaire Israélite de France unterrichtete er angehende jüdische Kantoren. 1975 starb Alberto Hemsi. Seine Witwe Myriam vermachte 2004 den Nachlass ihres Mannes dem Europäischen Institut der Jüdischen Musik, und Hemsis Ladino-Lieder wurden wieder­entdeckt.

Infobox

2018, zum 120. Geburtstag Alberto Hemsis, erschienen gleich drei CDs mit seinen Kompositionen. Coplas Sefardies, gesungen von der Sopranistin Tehila Nini Goldstein (Hänssler Classic). Und Coplas Sefardies Vol. 1 und Vol. 2, beide mit dem Kantor und Bariton Assaf Levitin und am Klavier Naaman Wagner – die ers­te Einspielung aller seiner Vokal­kompositionen (Rondeau Production). Vol. 3 erscheint im Mai. Mehr Infos unter diesem Link.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.