Ephraim Meir, von der Universität in Ramat Gan, beantwortet die Frage: Was bedeutet es auserwählt zu sein?
Ephraim Meir, von der Universität in Ramat Gan, beantwortet die Frage: Was bedeutet es auserwählt zu sein?
Axel Martens
Sind die Juden das auserwählte Volk?
Und was bedeutet es, erwählt zu sein? Fragen an Ephraim Meir von der Universität in Ramat Gan, Israel.
Hedwig Gafga, Autorin
16.03.2018

chrismon: Als Gastprofessor für den interreligiösen ­Dia­log in Hamburg sind Sie viel in christlichen Ge­meinden in Deutschland unterwegs. Was erleben Sie da?

Ephraim Meir: Es besteht ein lebendiges Interesse an der Eigenartigkeit des Judentums und eine Art von Neugier, ­etwas wie ein Zurückkehren zur Wurzel des Christentums. Das ist ein überraschender Fortschritt, weil die Geschichte der Juden in Deutschland nicht einfach ist. 1543 schrieb Luther sein Traktat "Von den Juden und ihren Lügen" und sagte den evangelischen Fürsten, dass sie die Juden vertreiben und ihre Häuser und Synagogen zerstören sollten. Die Shoa wäre ohne den christlichen Antijudaismus nicht möglich gewesen. Nun ist aber eine Umkehr zu spüren. Sie konnte entstehen durch "Nostra Aetate", die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965, und auch durch die Erklärungen evangelischer Landeskirchen.

Religionswissenschaftler Ephraim Meir in HamburgAxel Martens

Ephraim Meir

Ephraim Meir lehrt als Gastprofessor an der Akademie der Weltreligionen in Hamburg. Und er hält Vorträge in christlichen Akademien und Gemeinden. Der 1949 in Belgien geborene Philosoph lebt seit 1983 in Israel und ist Professor für zeitgenössisches jüdisches Denken an der Universität in Ramat Gan. 2016 erschien sein Fachbuch: Interreligiöse Theologie. Eine Sichtweise aus der jüdischen Dialogphilosophie (de Gruyter, 89,50 €). Meir hat fünf Kinder und vier Enkelkinder.

Worin zeigt sich diese doch recht neue Haltung?

Hier in Hamburg erlebe ich, dass Leute endlich die Eigenständigkeit des Judentums sehen wollen. Zuvor sprach man nicht vom Tanach oder der hebräischen Bibel, sondern vom Alten Testament in seiner Funktion für das Neue Testament. Das kann nicht sein. Das Judentum ist nicht nur die Hinleitung zu Jesus. Jetzt interessieren sich Menschen nicht nur für den Tanach, sondern auch für den Talmud und die jüdischen Kommentare. Es gibt Respekt für das jüdische Leben an sich, das ist ein großartiger Fortschritt.

Die frühere Sicht hat die christliche Theologie allerdings über Jahrhunderte geprägt.

Man hat eine Verwirrung gestiftet. Man sagte, auf das alte Israel folge das neue Israel und meinte damit das Christentum. Um eine neue Perspektive zu finden, muss man die Differenzen zwischen Juden und Christen aushalten. Da kommunizieren Menschen aus verschiedenen Kulturen und Religionen, wobei die Welten verschieden bleiben.

"Jeder Mensch ist auserwählt"

Sind die Juden das auserwählte Volk Gottes?

Auserwählung ist eine positive Sache, das Privileg, Verpflichtungen zu haben. Im jüdischen Denken und Leben ist man auserwählt, weil die intime jüdische Sprache bezüglich Gott und Mensch erlaubt zu sagen, dass der allmächtige Gott uns sehr liebt. Zu jeder Thoralesung gehört ein Segensspruch. Wir segnen Gott, "der uns erwählt hat aus allen Völkern". Liebe hat für uns immer mit Aus­erwählung zu tun.

Gilt das für alle Menschen oder nur für die Juden?

Mein Lehrer Emmanuel Levinas hat diesen Gedanken ­populär gemacht: Ihm zufolge ist jeder Mensch aus­erwählt. Das heißt: Ich bin auserwählt durch meine Frau Shoshi, ein guter Ehemann zu sein und ein gutes Leben zu haben. Ich bin auserwählt durch unsere Kinder, ein guter Vater zu sein. Ich bin auserwählt, um in der Akademie der Weltreligionen für meine Studenten ein guter Lehrer zu sein und so weiter.

"Wir sind alle auf dem Weg"

Heißt Auserwähltsein besser zu sein als andere?

Das heißt es nicht! Es geht nicht um Überheblichkeit, gemeint ist, sich in den Dienst an den Menschen zu stellen. Das ist wirkliche Freiheit. In Sprüche der Väter 6, 2 steht, dass die Freiheit in die Tafel des Gesetzes eingemeißelt sei. Die Freiheit ist unmittelbar mit Verpflichtungen ver­bunden. Es ist eine Freiheit zur Verantwortung. Ich bin nicht mehr an meine instinktiven Handlungen gebunden, ich stehe zu ihnen in einer Distanz. Es gibt bei uns 613 Gebote. Das Leben ist voll von Geboten und Verboten, ­Preisungen und Gebeten. Das bedeutet aber nicht, dass man besser wäre, sondern dass man den Auftrag hat, Licht für die Völker zu sein.

Geht es darum, ein Vorbild dafür zu sein, was Freiheit in Verantwortung bedeuten kann?

Ich sage nicht, dass wir es schon realisiert haben. Wir sind alle auf dem Weg. Übrigens hat das jüdische Volk für ­diesen intimen Gedanken von kollektiver Auserwählung in der Geschichte teuer bezahlt.

"Wirklicher Dialog geht nur ohne Mission"

Von Jesus sind die Worte "Ihr seid das Salz der Erde" und "Ihr seid das Licht der Welt" überliefert. Auch die Christen haben von Gott einen besonderen Auftrag erhalten. Darüber hinaus gibt es im Neuen Testament den Missionsauftrag.

Mission hat mit Überlegenheitsdenken zu tun: Ich besitze die Wahrheit und alle anderen nicht. Wenn man einen wirklichen Dialog will, muss man die Mission fallen ­lassen.

Der evangelische Theologe Fulbert Steffensky plädierte kürzlich dafür, "dass alle Religionen und alle Nationen auf den Gedanken der eigenen Erwähltheit verzichten".

Aber ich werde nicht auf Auserwählung für alle verzichten! Die ist mir zu wichtig. Wenn man weiß, dass man geliebt ist und die Forderung von Liebe auch an mich da ist, gibt das eine großartige Energie. Gott sagt: Du sollst ­lieben! Weil er uns liebt. Diese Energie, die dann freikommt, ist ein wesentlicher Teil des jüdischen Lebens.

"Es gibt viele Bündnisse mit Gott"

In einem Bund mit Gott zu sein, weckt das nicht Misstrauen?

Deswegen werbe ich für Verständnis. Es gibt unter uns Menschen viele Bündnisse mit Gott. Wir haben unseren besonderen Bund. Man muss wissen, dass es im Judentum eine intime Sprache über Gott gibt. Diese intime Sprache 
benennt immer wieder einen Vater und einen König. ­Einen Vater, der barmherzig und gut ist für seine Kinder. Und einen König, der auch hohe ethische Forderungen stellt. Beide gehören zusammen. Nur Forderungen ohne Liebe sind grausam. Nur Liebe ohne Forderungen führt zu Anarchie. Im jüdischen Denken besteht das gute Leben in der Anerkennung von Gott, der Vater ist und König, das heißt, Intimität schenkt wie ein Vater, aber nicht nur. Die Intimität hat zu tun mit der Gabe der Thora, einer Liebes­erklärung. Das Gesetz ist gegeben in Liebe. Das Gesetz kann nur eingehalten werden in Liebe.

Wodurch entsteht das Vertrauen, etwas in der Welt ­bewirken zu können?

Die Auserwählung macht das Ich einmalig. Meine ­Einzigartigkeit kommt nicht von irgendeinem physischen Merkmal. Der Mensch ist einzigartig, weil niemand ­außer mir auf eine Forderung, die von einem anderen Menschen kommt, antworten kann. Ich bin nicht länger absorbiert in einer großen Masse von Menschen, die alle das Gleiche tun.

Christliche Theologen lehrten, das jüdische Volk sei von Gott verworfen, die Kirche an seine Stelle gerückt. Das hat dem Antisemitismus den Boden bereitet. ­Martin Luther erklärte in seiner Rechtfertigungslehre, das ­jüdische Gesetz sei durch die christliche Gnade überwunden. Ist diese Haltung noch anzutreffen?

Ja. Schade, aber es ist so. Wir Juden lieben das Gesetz, und wenn es durch etwas anderes ersetzt wird, sagt man eigentlich, das Judentum sei nicht nur nicht relevant, ­sondern auch überflüssig. Mit all den Folgen. Wenn man jedoch die Gnade Gottes in der Gabe der Thora erkennt, versteht man, warum Paulus auf den Gedanken kommt, dass Nichtjuden in diesen Bund mit Gott mit hinein­kommen können. Aber sie sind nicht gehalten, das jüdische Gesetz zu befolgen, weil sie keine Juden sind. Paulus hat den 
jüdischen Bund mit Gott erweitert. Aber er hat das Gesetz für Juden nicht abgeschafft. Er war selber ein Jude, ein Pharisäer, ein Schüler von Gamaliel, einem bedeutenden jüdischen Lehrer.

"Toleranz ist die Offenheit dafür, dass andere Menschen anders sind"

Woher kommt dann dieser Gegensatz?

Indem man seine eigene Identität auf dem negativen ­Hintergrund einer anderen Identität hervorhebt. Dann geschieht es, dass man das Antijüdische in Paulus hineinliest und behauptet: Schon Paulus habe das Gesetz geschmäht. Das stimmt nicht! Wenn Paulus etwas gegen das Gesetz sagt, dann nur bezogen auf Leute, die keine Juden sind und deshalb an das jüdische Gesetz nicht gebunden: Sie sind dazu nicht verpflichtet.

Was schützt Menschen davor, intolerant zu werden?

Die Offenheit für die Andersartigkeit anderer Menschen.

Gelten die Verheißungen der hebräischen Bibel auch für Nichtjuden?

Nicht die spezifischen Verheißungen, also die Landverheißung und die Verheißung von zahlreichen Nachfahren an Abraham. Aber die Verheißungen von der höchsten Wirklichkeit – nenne es Gott, Allah, Nirwana, Brahman – sind überall zu finden: Du wirst ein gutes Leben haben, wenn du mit etwas verbunden bist, das über den Alltag hinausgeht, aber mit dem Alltäglichen zu tun hat. Jedem Menschen ist ein gutes Leben versprochen, wenn er mit anderen Menschen verbunden ist und dadurch auch Verbundenheit mit Gott schöpft. Wenn wir verbunden sind, leben wir den Bund mit Gott. Das gilt für alle Menschen.

Was heißt die Landverheißung heute für Sie in Bezug auf Judäa und Samaria?

Das Judentum ist mit dem Volk Israels und dem Land Israel verbunden. Das Land selber ist aber nicht heilig, es sind die Menschen, die das Land heiligen durch gute ­Verhältnisse. Praktisch haben Palästinenser das Recht auf einen eigenen Staat und Juden haben das Recht, endlich ohne Angst vor Angriffen zu leben. Der Wert eines Menschens liegt in der Befriedigung der Bedürfnisse von anderen.

"Du sollst lieben"

Franz Rosenzweig ist mit seinem Bemühen, Christen und Juden in einen Dialog zu bringen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gescheitert. Was macht ihn für Sie so aktuell?

Das Wörtchen "und". Er hat verstanden, was Vielfalt ­bedeuten kann. In seinem Werk "Der Stern der Erlösung" hat Rosenzweig die Juden als das Feuer des Sterns beschrieben und die Christen als die Strahlen. Strahlen ohne Feuer hören auf zu bestehen, aber ein Feuer ohne Strahlen ist nicht genügend. Diesen Gedanken haben schon Maimonides und Jehuda Halevi, zwei große jüdische Gelehrte des Mittelalters, entwickelt. Rosenzweig hat auch das Wörtchen "und" geliebt. Es verbindet und unterscheidet: Juden und Christen, Christen und Juden. Was ist Schöpfung? Gott und die Welt. Was ist Offenbarung? Gott und der Mensch. Was ist Erlösung? Der Mensch und die Welt, die er reparieren will. Es gibt für Rosenzweig eine mehrfache 
Antwort auf die Offenbarung, die zusammengefasst ­lautet: Du sollst lieben.

Zwei typische Darstellungen aus dem Mittelalter, ­Ecclesia und Synagoge, zeigen die Kirche als siegreiche Herrscherin mit Kreuz und Kelch. Ihr gegenüber steht eine gedemütigte Frau mit verbundenen Augen, die ­Synagoge. Zu sehen etwa am Straßburger Münster.

Franz Rosenzweig sah in der Frau mit verbundenen Augen eine, die prophetisch in die Zukunft schaut, und in der Triumphierenden, die nach vorn blickt, diejenige, die in der Welt arbeitet, um andere zu Gott zu bringen.

Die mittelalterliche Darstellung der Judensau an der Stadtkirche von Wittenberg verhöhnt aber eindeutig die Juden. Was empfinden Sie bei diesen Darstellungen?

Das sind Vorurteile in Stein. Was ich empfinde ist schrecklich. Es ist eine Demütigung, eine Überheblichkeit. Dahinter steht ein antidialogischer Gedanke, der unsägliches Leid gebracht hat und viele Opfer. Man hat so viele Jahrhunderte mit diesen Vorurteilen gelebt, und sie haben viel Leid verursacht. Nun ist es gut zu sehen, wie in unserer Zeit langsam etwas möglich wird, was es vorher nicht gab.

Sollten solche Darstellungen entfernt werden?

Man kann die Zuschauer darauf aufmerksam machen, dass es um Vorurteile geht, und so können sie daraus für ein besseres Verhältnis in der Zukunft lernen.

Verändert sich mit dem jüdisch-christlichen Dialog auch die Sicht von Juden auf das Christentum?

Im Jahr 2000 begrüßten Rabbiner in einer Erklärung die Erneuerung im Verhältnis der christlichen Theologie zum Judentum. 2015, also 50 Jahre nach der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate, würdig­ten orthodoxe Rabbiner ebenfalls die Erneuerung und erkannten im Christentum einen Partner. Das ist gut für unsere Zeit. Etwas Positives geschieht. Ich spüre das, wenn ich heute in Kirchen spreche. Menschen wollen nicht nur erkennen, sondern anerkennen.

Infobox

1950 erklärte die EKD-Synode: "Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung 
Jesu Christi in Kraft geblieben ist." Sie bekannte eine Mitschuld 
"an dem ­Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden 
begangen ­worden ist."

1961 widersprach die Erklärung "Juden und Christen" auf dem Kirchentag in Berlin der Substitutionstheologie, wonach Gott das Volk Israel ver­worfen habe, weil es Christus nicht als Messias anerkennt, und die Kirche an seine Stelle gesetzt habe. Die ständige "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Kirchentag" wurde gegründet.

1965 betonte das Zweite Vatikanische Konzil in der Erklärung "Nostra ­Aetate" ("In unserer Zeit") die bleibende Erwählung des Judentums, und wandte sich ebenfalls von der Substitutionstheologie ab. Die Erklärung verurteilte Antisemitismus, und die katholische Kirche bekannte sich, 
den Holocaust durch Anti­judaismus ermöglicht zu haben.

1980 erteilte die Synode der Kirche im Rheinland der Judenmission ­eine Absage. Das Leitwort in der Erklärung zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden lautete: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich" (Römerbrief 11, 18). Jede Form von Judenfeindschaft wird verworfen und zur Begegnung von Juden und Christen aufgerufen. ­Eine Reihe anderer Landeskirchen verabschiedete danach ähnliche ­Erklärungen, die Eingang in die Kirchenverfassungen fanden.

2016 bekräftigt die EKD-Synode die Abkehr von der Judenmission: ­"Alle Bemühungen, Juden zum Religionswechsel zu bewegen, wider­sprechen dem Bekenntnis zur Treue Gottes und der Erwählung Israels."

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Ausgewählt? Von wem? Alle Menschen, alle Religionen haben den Anspruch etwas Besonderes zu sein. Wer diesen Anspruch nicht hat, der wird geknechtet, der ist unfrei, der ist ein Opfer oder bar aller menschlichen Empfindungen. Die soll es ja auch geben. Auch die Juden gehen von der Schöpfung und einem Schöpfer aus, der sie angeblich auserwählt haben soll. Aber was wäre das für ein Akt der Erniedrigung für alle Anderen. Denn die Erwählten könnten sich ja dann zu Recht als die Besseren, als die Führenden, als die Mächtigeren über alle anderen fühlen. Damit wäre der Schöpfer einerseits der Wohltäter für Wenige und der Verantwortliche für die Mehrheit aller Minderwertigen. Was für eine Arroganz! Einen Gott mit menschlichen Zügen kann es nicht geben. Was wäre das für ein Gott, eine Übermenschlichkeit, die erst selbst alles Gute und das Böse erschafft und dann das Böse bestraft, obwohl er es selbst geschaffen hat. Allein aus diesen Gründen kann niemand sich mit der Berufung auf den Schöpfer selbstherrlich als auserwählt bezeichnen.

Und dennoch haben die Juden das Recht, sich als etwas Besonderes zu fühlen. Sie sind, gemessen an ihrer Zahl, vermutlich das leistungsfähigste Volk der Erde. Ähnlich wie die Inder ökonomisch in Afrika! Die Zahl ihrer Nobelpreisträger, ihrer Literaten, ihrer Forscher und ihrer erfolgreichen Firmen ist, immer im Verhältnis zu ihrer Zahl, immens. Gegenüber den Arabern sind sie in dieser Beziehung ohne Konkurrenz. Sie haben aus einer Wüste den Garten Eden gemacht. In den USA und Europa sind sie ein wesentlicher Teil der intellektuellen Führung. Das sie immer versucht haben, daraus auch Vorteile zu ziehen, ist nur allzu menschlich. Wer besser ist, profitiert auch davon.

Sie sind von Geburt und der Schöpfung an nicht besser als allen Anderen. Ihre Verfolgung, ihr Leben in der Diaspora hat sie seit über 16oo Jahren so widerstandsfähig und erfolgreich werden lassen. Ähnlich wie auch teilweise die Armenier und Libanesen. Allein aus der Historie her den Anspruch abzuleiten, die ältesten Rechte zu haben und über die religiöse Allwissenheit zu verfügen, birgt aber bereits die Gefahr der Anfeindung bis hin zum Antisemitismus. Auch der Neid der Anderen, dessen Quelle die fehlenden Einsicht und Toleranz ist, ist unausrottbar.

Durch die Vertreibung und Zerstreuung hatten die Juden häufig keine festen Gemeinden (Ausnahme teilweise ins Osteuropa) keine örtlichen Religionslehrer und Vorbeter, die mit ihrem Wissen die Glaubensüberlieferung aus der Thora gewährleisten konnten. Es war die Aufgabe der Väter in der Diaspora, ihren Kindern das Lesen der Thora (Schreiben war die logische Fortsetzung) und das Verständnis der Überlieferung des Glaubens, der sie als einzige Klammer zusammen hielt, zu vermitteln. Aber mit dem Können von Lesen und Schreiben waren sie bereits im Zeitalter der Analphabeten (Könige, Kaiser, Adel und Privilegierte wie das Volk!) häufig die Auserwählten. Als Konkurrenten hatten sie lediglich die Berater und Einflüsterer an den Höfen und die Mönche bzw. den Klerus. Bezüglich Sprachen, Weltläufigkeit und Ausbildung (Handel über die Grenzen) waren sie weitgehend konkurrenzlos. Berufsverbote zwangen sie zu Tätigkeiten, die andere nicht können wollten. Waren Juden aber auf Dauer sesshaft, wie da vielfach im Osten der Fall war, blieben sie arm und einflusslos. Suchte man im Westen ein neutrales Urteil, das mit dem eigenen Horizont nicht machbar war, oder wollten sich Kirche und Staat gegeneinander übervorteilen, dann brauchte man den Rat und später dann auch die Finanzen der Juden. Sie waren stets gefragt, wenn man nicht mehr weiter wusste, aber auch sofort der Bösewicht, wenn man die größten Gefahren überwunden hatte und für deren Folgen einen Schuldigen suchen musste. Hatten sich gar die vormaligen Kontrahenten geeinigt, war es einfach, die gegenseitigen Schuldzuweisungen mit Pogrome auf die abzuladen, die kurzfristig nicht mehr nützlich waren. Sie waren dann die teuflischen Einflüsterer für die Einen und die Christusmörder für die Anderen. Das war die einfachste Rechnung, um ihr Können zu nutzen und sie nach Belieben zu verfolgen.

Die Juden sind kein von göttlicher Macht auserwähltes Volk. Der aus der Not der Diaspora und dem Glauben erwachsende Zwang hat sie zum familiären und gesellschaftlichen Zusammenhalt und zu dem Erfolg geführt, der wiederum zum Erfolg verpflichtet. Für diese „Mechanik“ gibt es auch für andere Völker und Einzelpersonen (Vietnamesische Bootpeople in den USA, Überlebenskämpfe mit dem größten Erfolg) genügend Beispiele. Geschichte und Verfolgung haben sie (bis zur Vererbung?) gelehrt, das Wissen und Können die Schlüssel für das Überleben sind.