Demenz
Mach’s gut, Oma!
Ein Enkel muss zusehen, wie die Großmutter langsam in Demenz und Wahn entgleitet. Wie Abschied nehmen von einem Menschen, der immer noch da ist – und doch schon nicht mehr?
Mach's gut, Oma!
Stillleben in der Wohnküche - Erinnerungen an die Oma
Maxim Chuvashov/Plainpicture
David-Pierce Brill
26.12.2025
10Min

Als ich meine Oma Ende Juni besuche, steht sie ­hinter ihrem Bett und räumt allerlei Ge­rümpel zur Seite, um an einen Schrank zu kommen. Sechs Wochen haben wir uns nicht gesehen. ­"Hallo, Oma", rufe ich freudig. Sie schaut kurz auf, murmelt eine Begrüßung und räumt weiter. Ich eile zu ihr, will ihr helfen, damit sie nicht stürzt, und frage, was sie denn eigentlich suche. "Eine Schale für die Hochzeit."

"Welche Hochzeit?"

Wer genau heiratet, weiß sie gerade nicht, aber dass das unbekannte Paar eine Schale meiner Oma braucht, steht außer Frage. Ich räume alles zur Seite, öffne den Schrank und sehe alte Sherrygläser und Plastikboxen. "Oma, hier ist keine Schale", sage ich zu ihr, während sie mich, auf ihre beiden Stöcke gestützt, beobachtet. Meine Oma blickt um sich und fragt: "Wo ist denn jetzt die Frau hin?"

"Welche Frau?"

"Hier stand doch die ganze Zeit eine Frau, die die Sachen für die Hochzeit abholen wollte." Schweigen. "Oder habe ich das alles nur geträumt?"

Meine Oma ist 95 Jahre alt: ein stolzes Alter, ein langes Leben. Dass ich sie so lange in meinem Leben ­haben darf, ist nicht selbstverständlich. Seit einigen Jahren ist sie dement. Jetzt hat sie Wahnvorstellungen. Und ich muss tun, wovor ich seit Jahren Angst habe: Abschied nehmen.

Doch wie geht das, Abschied nehmen von einem Menschen, der einfach immer da war? Der immer noch da ist und irgendwie auch schon nicht mehr? Ich überlege, was ich über das Leben meiner Großmutter weiß, und finde, dass es beklemmend wenig ist. Geboren 1930, aufgewachsen mit drei Geschwistern auf dem Land, strenger Vater, liebevolle Mutter.

Der ­Zweite Weltkrieg und seine ­Nachwehen ­dominierten ihre Jugend. Auf der Arbeit lernte sie den Mann kennen, der mein Großvater werden sollte, bekam zwei Kinder, und eine Generation später trat sie als Großmutter in mein Leben – oder vielmehr ich als Enkel in ihres. Auf Fotos habe ich sie als junges Mädchen nie erkannt, weil es für mich ausgeschlossen war, dass ein Mensch, den ich nur als Oma kenne, jemals etwas anderes gewesen sein könnte.

"Dass Oma und Opa da waren, ist eine Konstante, die ich nie hinterfragen musste"

Jeden Sonntag kamen wir als Kinder zum Mittagessen, besuchten sie später nach Belieben und nutzten dafür gern Opa als ­Taxi. Dass die beiden da waren, ist ­eine Konstante, die ich nie hinterfragen musste. Beeindruckend lange meisterten sie ihren Alltag ohne ­fremde Hilfe. Während meine Oma vor allem körperlich abbaute, tat es mein Opa kognitiv. Ein fragiles Gleichgewicht entstand, in dem er, der sechs Jahre Jüngere, die körperlichen Aufgaben übernahm, zu denen sie nicht mehr imstande war, während sie für Angelegenheiten wie Planung und Kommunikation zuständig war.

Mittlerweile kommt der Pflegedienst dreimal pro Woche, und auch die Zeit meiner Oma als ­famose ­Köchin ist vorbei, abgelöst von warmem Lieferessen, das nur dem Namen nach zu sein vorgibt, was sie früher kochte. Ihr Leben vollzieht sich in kleinen Kreisen: schlafen im Bett, essen in der Küche, sitzen und lesen, fernsehen auf ihrem Wohnzimmersessel, dazwischen häufig Toilettengänge. Die Wohnung verlässt sie schon lange nicht mehr, und das Telefon klingelt auch immer ­seltener, weil die Verwandten und Bekannten weniger werden.

So sehr wir gegenseitig an unserem Alltag teilhatten, eine emotionale Stütze waren meine Großeltern nie. Das konnte angenehm sein, wenn sie nicht fragten, warum der Name meiner ersten Freundin auf einmal nicht mehr fiel. Es konnte aber auch schmerzen, etwa als meine Mutter krank wurde und ich viel für ein einziges "Wie geht es dir?" oder eine ­Umarmung gegeben hätte. Der förmliche Handschlag zum Geburtstag schien dieses paradoxe ­Verhältnis aus vertrauter Nähe und scheuer ­Distanz stets um ein weiteres Jahr zu ver­längern.

Besuch mit schlechtem Gewissen

Seit ich bei meinen Eltern aus­gezogen bin, sind meine Besuche seltener geworden. Wenn ich daheim bin, gehe ich alle zwei bis drei Tage zu Oma und Opa. Beim ersten Mal vorfreudig, dann eher pflichtschuldig. Immer schwingt der Gedanke mit, ich müsse dankbar sein, in meinem Alter überhaupt noch Großeltern zu haben. Und dass ich die einzige Abwechslung ihres sonst so monotonen Tages sei. Bei ihnen zieht sich die Zeit dann ins gefühlt Unendliche.

Ich höre mir Geschichten an, die ich schon miterzählen könnte, wenn ich gedanklich nicht woanders wäre. Manchmal ­suche ich mir Aufgaben im Haushalt, will nützlich sein, damit mein Besuch einen Mehrwert hat. Während ich bei ihnen sitze, fällt mein Blick auf die Radiouhr. Wie können Minuten nur so langsam vergehen? Dann schäme ich mich. Warum ist es mir so wichtig, hier zu sein, wenn ich so schnell wieder gehen will? Nur um das Bild eines vorbildlichen Enkels aufrechtzuerhalten – vor mir selbst?

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Meistens bleibe ich dann etwas länger als geplant. Und wenn ich schließlich aufbreche, müde und befangen, suche ich eine plausible Begründung: Ich habe versprochen, zum Abendessen daheim zu sein, meine Eltern brauchen das Auto, ich bin noch verabredet. Betreten bringe ich sie vor, als wäre mir erst wieder leicht ums Herz, wenn der dargelegte Grund sie überzeugt. "Du sollst dein Leben leben, nicht unseres", sagt meine Oma bei einem meiner letzten Besuche. Selten bin ich mit einem schlechteren Gewissen gegangen.

Unterdrückte Traumata brechen auf

Vor einem Jahr wünschte sich Oma Thomas Manns "Zauberberg" zu Weihnachten. Im Frühjahr legte sie den dicken Wälzer nach einem kurzen Blick hinein zur Seite. Das sei ihr nun doch zu anstrengend an den ersten Sonnentagen. Im Winter ­wolle sie dann weiterlesen. Manchmal ­ärgert mich, wie sorglos meine Großmutter in die Zukunft blickt, Pläne schmiedet, die seit Jahren nicht mehr umsetzbar sind, und wie selbstverständlich sie davon ausgeht, dass wir uns in einigen Monaten wiedersehen, während ich bei jedem Abschied mit Tränen ringe, weil ich fürchte, dass er endgültig sein könnte.

Seit meine Oma die Wohnung nicht mehr verlässt, bestehen meine Besuche größtenteils aus Zuhören. Meist sind es die immer gleichen Erinnerungen, die sie nahezu wortgleich wiederholt, manchmal aber auch Geschichten, die sie früher nie erzählte. Eine davon aus dem letzten Kriegsjahr: Wie alle jungen Frauen musste auch sie im "Dritten Reich" ein Pflichtjahr absolvieren, 14 Jahre alt war sie da. Sie kam bei Verwandten ein paar Orte weiter unter und half im Haus und auf dem Feld.

Eines Tages war sie mit ihrem ­Patenonkel unterwegs, als dieser sie immer ­tie­fer in den dichten Wald zu ziehen versuchte. Zunächst verstand meine Großmutter seine Absichten nicht. Erst als es eindeutig wurde, muss sie ihn mit solch einem entsetzten Blick angesehen haben, dass er von ihr abließ und sagte: "Wenn du solche Angst hast, natürlich nicht."

"Hat meine Großmutter ihr Leben leben dürfen?"

Mehr als 80 Jahre später sitze ich meiner Großmutter gegenüber. Nur mit ihrer verstorbenen Schwester habe sie über den Übergriff gesprochen. Ihre Hände ­zerknüllen das Taschentuch, mit dem sie ihre Augen trocknen will. Sie atmet nicht mehr beiläufig, sondern laut und rasselnd. Ihre Brust hebt und senkt sich, der kleine Körper bebt und kämpft an gegen die Erinnerung, der sie nicht länger entkommen kann. Auch ich komme nicht dagegen an, kann sie nicht ins Jetzt ­zurückholen. Wie schlimm müssen Alter und Krankheit sein, wenn jahrzehntelang unterdrückte Traumata aufbrechen und die Macht der Vergangenheit so grausam demonstrieren.

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Hat meine Großmutter ihr Leben ­leben dürfen? Seit sie diesen Satz beim Abschied zu mir gesagt hat, beschäftigt mich diese Frage. Vom ersten Tag an habe sie zu spüren bekommen, wie ungerecht es sei, eine Frau zu sein, sagte sie vor wenigen Monaten zu mir. Studieren durfte sie nicht – zu teuer, befand ihr ­Vater. Einen Autoführerschein brauche sie nicht, entschied später ihr Mann.

Auch wenn sie mit manchem haderte und meinem Opa einiges nachtrug, im Alter waren meine Großeltern süß miteinander. "Gehauen haben wir uns noch nicht", sagte meine Oma immer und lachte, wenn ich am Telefon fragte, wie es ihnen gehe. Eigentlich waren sie sogar recht zärtlich. Als Oma gebrechlicher wurde und mehr Schlaf brauchte, übernahm es mein Großvater, morgens Haferbrei und Kaffee zu kochen und seine Frau dann mit einem Kuss zu wecken.

Realitätsverlust und Wahnvorstellungen

Kurz nach meinem Besuch ­Ende Juni fahren meine Eltern in den ­Urlaub. Als sie zurückkommen, ist nichts mehr in Ordnung. Herrisch kommandiert meine Großmutter ­ihren Mann und lässt ihn ­unablässig Aufgaben verrichten, die nur in ­ihrem Kopf Sinn ergeben. Es gibt eine Tonaufnahme davon: Ihre Stimme ­erkenne ich, doch Wortwahl und Tonfall sind vollkommen unnatürlich, fast ­gruselig. Wenn Großmutter spricht, wird klar, dass sie nicht hier ist, nicht im Jahr 2025, nicht an ­diesem Ort.

Halb scheint sie Dorfkind in den 1930ern zu sein, halb ­spirituelles Medium, das eine heilige Mission zu erfüllen hat. Nur mein Opa steht im Weg: Was er auch tut, er macht es falsch. Dann wird meine ­Großmutter grob. Sie, die ihn ­zeitlebens für jeden Kraftausdruck getadelt hat, erlaubt ihm erst am Abend eine Pause von seinen Aufgaben, damit er sein ­Mittagessen endlich "fressen, fressen, fressen" kann. Und in meiner Mutter wähnt sie ­irgendeine Frau aus der Vergangenheit, die offenbar zwielichtige Interessen an meinem Opa hat.

Meine Großmutter kommt ins Krankenhaus. Das Kapitel Alter und Demenz hat eine neue Dimension bekommen: Realitätsverlust und Wahnvorstellungen. Im Krankenhaus be­suchen sie mein Vater und mein Opa. "Guten Morgen, mein Schatz", begrüßt Opa seine Frau. Mein Vater verlässt das Zimmer, um ihnen Zeit zu zweit zu geben. Einige Minuten später hört er, dass es hinter der Krankenhaustür laut wird. Sehr laut. Wieder kommandiert meine Oma meinen Opa herum, wieder beschimpft sie ihn, versucht gar, ihn mit ihrem Stock zu schlagen.

"Auf viele Fragen ­ werde ich keine Antwort mehr erhalten. Dafür ist es zu spät"

Opa versteht die Welt nicht mehr. "Wie kann ein Mensch so ­werden?", fragt er meinen Vater. "Sie war doch früher nicht so." Verstört verlassen die beiden das ­Zimmer, in dem ­eine ­wesensfremde Frau liegt. "Nie, nie, niemals wieder" wolle er sie sehen, sagt mein Opa zu seinem Sohn. Das fragile Gleichgewicht ­zwischen ­meinen Großeltern, die über Jahre die zunehmende Schwäche des jeweils anderen auszugleichen vermochten, existiert nicht mehr – nach der Klinik kommt sie in ein Heim.

Kurz darauf fahre ich zu meinen ­Eltern nach Hause. Ich will meine Oma sehen, auch wenn sie nicht mehr dieselbe ist. Wie sehr sie sich in vier Wochen verändert hat! Selbst im Sitzen ist sie stark gebeugt. Die Haare stehen ihr zu Berge, der Mund ist eingefallen, weil sie ihr oberes Gebiss nicht trägt. Erkennt sie mich? Anfangs bin ich nicht sicher. Ich versuche, mit ihr zu reden, frage sie viel. Aber auf alles antwortet sie bloß: "Ich weiß gar nichts." "Denkst du viel an deine Kindheit?"

"Ich weiß gar nichts."

"Glaubst du, dass du bald stirbst?"

"Ich weiß es nicht, ich hab von nix eine Ahnung. Alt genug bin ich ja."

"Vermisst du dein Zuhause?"

"Aber wo bin ich zu Hause? Das weiß ich ja auch nicht."

Sind das die Medikamente? Erst als ich ihr aus einem Buch vorlese, kommt meine Oma, wie ich sie kannte, zum Vorschein. Mit Tränen in den Augen erzählt sie von ihren Großeltern, fragt, ob ich als Journalist arbeite und wie es Opa gehe ohne sie.

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An diesem Tag wird mir klar: Auf viele meiner Fragen werde ich keine Antwort mehr erhalten. Dafür ist es zu spät. Aber ich kann Zeit mit meiner Oma verbringen, sie füttern, Andeutungen hören, wo früher einmal Geschichten waren, und ihr von meinem Leben erzählen. In diesen kleinen Handlungen und in Worten kann ich mich von ihr verabschieden, immer wieder, auch wenn das Abschiednehmen einseitig ist.

Und ich kann unsere eingeübte Distanz überwinden. Wenn ich neben ihrem Bett stehe und von mir erzähle, streiche ich ihr über den Arm. Sie wirkt dabei glücklich. Zum Abschied beuge ich mich zu ihr, halte sie lange in meinen Armen und ­sage ihr, dass ich sie lieb habe. Geistig mag sie sich von dieser Welt entfernt ­haben, doch körperlich sind wir uns in diesem Moment so nah wie nie.

Und ich darf bei meinen ­Besuchen sehen, wie Liebe aussieht, die Jahrzehnte überdauert und selbst zweifacher Demenz trotzt. "Du bist ein richtiger Schatz, weißt du das?", begrüßt mein Opa seine Frau am ­nächsten Tag. Die Eskalation bei ­seinem letzten Besuch hat er verdrängt oder ­vergessen. Er küsst sie, als ob er 70 Jahre jünger wäre und noch ganz viele Küsse vor ihnen lägen. "Du bist aber schön!", sagt er und setzt sich zu ihr ins Bett. Opa legt seinen Arm um sie. Sie haben einander nicht viel zu sagen. Heute, das spüre ich, wird es zu keinem Streit kommen. Oma legt ihren Kopf an seine Schulter und schließt ihre Augen. Sie lächelt.

Nachtrag: Die Oma unseres Autors ist Ende November 2025 verstorben.

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