Auf Nicolas Guillous Schreibtisch stapeln sich die Akten rund um Kriegsverbrecher aus aller Welt. Als Richter am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag kümmert sich Guillou unter anderem um islamistische Tuareg-Milizen in Nordafrika, kongolesische Rebellenführer und sudanesische Warlords.
Einer seiner Fälle wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Im August 2025 landete er, zusammen mit fünf weiteren Richtern und drei Ermittlern des ICC, selbst auf einer Liste von US-Sanktionen. Guillou steht somit auf derselben Stufe wie Terroristen, Drogenhändler und Kriegsverbrecher – jene Personen, über die er sonst seine Urteile spricht.
Der Grund dafür: Guillou und seine Kollegen haben im November 2024 einen Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant erlassen. Ihnen werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge des Gaza-Krieges vorgeworfen. Eigene Verbündete, die in Den Haag prozessiert werden? Das passt den USA natürlich gar nicht.
Dass die US-Regierung ihre eigenen Bürger verfolgt, ist bekannt. Aber Guillou ist kein amerikanischer, er ist französischer Staatsbürger. Und die Sanktionen treffen ihn auf europäischem Boden. Der Alltag des Richters gleicht seitdem einer Orwell’schen Dystopie, wie er kürzlich in einem Interview mit der französischen Tageszeitung "Le Monde" berichtete. Er kann keine Hotels mehr buchen, kann online nichts mehr bestellen, sogar seine Bankkonten und Kreditkarten wurden gesperrt.
Möglich macht das die Dominanz von US-Techkonzernen in Europa. Unternehmen wie Amazon, Google, Airbnb oder Paypal ist es verboten, mit Guillou geschäftlich zu interagieren. Aber nicht nur amerikanische Dienstleistungen sind betroffen. Auch einige europäische Unternehmen scheuen den Kontakt zu Guillou, insbesondere im Finanzwesen. "Man steht faktisch auf der schwarzen Liste eines Großteils des weltweiten Bankensystems", sagt Guillou.
Der Fall ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es ist das zweite Mal, dass die USA Sanktionen gegen ICC-Personal verhängen. Das passt zum Drehbuch der Autokraten: Von Washington bis nach Jerusalem, von Moskau bis nach Peking arbeiten Staatschefs systematisch daran, das internationale Recht zu schwächen. Auf dass man sich die Welt nach dem Recht des Stärkeren aufteilt.
Es ist aber das erste Mal, dass ein unbescholtener EU-Bürger auf europäischem Boden von US-Sanktionen getroffen wird – und das, weil er seinen Job bei einer Institution macht, die von der EU maßgeblich finanziert und unterstützt wird. Und die EU? Zeigt sich bislang völlig wehrlos. Es gab zwar die üblichen Verurteilungen und Solidaritätsbekundungen. Aber es folgten bislang keine konkreten Maßnahmen, um die Richter und Ermittler zu schützen.
Und das ist das wirklich Beunruhigende an Guillous Fall. Wenn die EU jetzt keine Maßnahmen ergreift, wird das einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen. Die USA könnten in Zukunft jederzeit und nach Belieben unbequeme EU-Bürger lahmlegen. Das Ausmaß der Einschüchterung gegen US-kritische Stimmen wäre enorm.
Dabei gibt es schon konkrete Instrumente, um EU-Bürger zu schützen. Europäische Regierungen könnten beispielsweise das sogenannte Blocking Statute (Verordnung EG Nr. 2271/96) aktivieren. EU-Unternehmen wäre es demnach verboten, US-Sanktionen umzusetzen, die aus europäischer Sicht unberechtigt sind. Das fordert Guillou auch selbst.
Die USA haben den ICC nie anerkannt. 2002, ein Jahr vor der Irakinvasion, setzte der damalige Präsident George W. Bush sogar ein Gesetz in Kraft, das es der Regierung erlaubt, militärisch gegen die Niederlande vorzugehen, falls US-Bürger vom ICC in Den Haag festgehalten würden. So weit würden die USA gehen, um ihre Bürger vor internationaler Rechenschaft abzuschirmen.
Und die EU? Wird sie die notwendigen Schritte gehen, um uns gegen die Willkür ausländischer Autokraten zu schützen? Mit Guillous eigenen Worten: "Für den ICC ist dies der Moment der Wahrheit: Wer sind seine wahren Verteidiger? Wer hat den Mut, angesichts der Barbarei für menschliche Werte einzutreten? Das ist es, worum es geht."



