Die neue 150-seitige Friedensdenkschrift beginnt mit biblischen Belegen, in denen Jesus zur Gewaltfreiheit aufruft. "Jesus Christus hat den vollständigen Verzicht auf Gewalt gelehrt", darauf weist die Friedensdenkschrift zu Recht hin. Doch dann wechselt sie plötzlich von christlichen zu politischen Standpunkten: Der Staat habe die Pflicht, die Bürger und Bürgerinnen zu beschützen – notfalls mit Gewalt. Um die Demokratie, das Recht und die Nächsten zu schützen, sei Gegengewalt als letztes Mittel legitim.
Klar, es klingt richtig, Angegriffene zur Not durch Waffengewalt zu beschützen. Aber Jesus ruft an so vielen Stellen der Bibel zum Gewaltverzicht auf, dass für Christen und Christinnen Gewalt selbst zum Schutz der Angegriffenen nicht infrage kommen kann. In der Bergpredigt betont Jesus das 5. Gebot "Du sollst nicht töten". Dieses Gebot stand für ihn nie zur Debatte. Selbst als die Tempelwachen ihn festnahmen, um ihn zu kreuzigen, hielt er Petrus davon ab, ihn mit einem Schwert zu verteidigen. Das 5. Gebot gilt nicht nur in friedlichen Zeiten. Wir sollten es auch nicht aussetzen, um unsere Nächsten zu verteidigen. Denn Jesus sagt nicht: Liebt eure Nächsten mehr als eure Feinde. Stattdessen predigt Jesus sogar die Feindesliebe: "Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen" (Mt 5,44).
Wie die EKD selbst schreibt: Jesu Gewaltlosigkeit ist eindeutig. Der Friedensdenkschrift zufolge bildet Jesu Friedensethik "die Mitte und die maßgebliche Quelle für das evangelische Friedensverständnis". Doch dann argumentiert die EKD trotzdem für militärische Gewalt. Direkte Belege aus dem Evangelium nennt sie an der Stelle nicht. Wir lebten "in einer erlösungsbedürftigen Welt", da die Menschen sündigten, könnten sie anderen furchtbares Unrecht antun. Weil wir unsere Nächsten laut Bibel lieben sollen, müssten wir diese im Zweifel durch Gewalt beschützen, argumentiert die EKD.
Die biblische Aufforderung, auf Gewalt zu verzichten, ist ein hohes Ideal. Dieses Ideal sollte für Christen und Christinnen ein wichtiger Maßstab für ihr Leben sein, auch für die Beurteilung von politischen Ereignissen. Nach Jesu Pazifismus zu handeln, mag uns fast unmöglich erscheinen. Die Evangelische Kirche sollte dabei eine Stütze sein. Leider gibt sie mit der Friedensdenkschrift dieses Ideal nun preis.
Die EKD wägt Jesu Gewaltlosigkeit mit realpolitischen Überlegungen ab. So wird etwa argumentiert, ein grundsätzlich gewaltloser Staat sei ethisch nicht vertretbar, weil die Erfolgsaussichten gewaltfreien Widerstands bei der Verteidigung von Staatsgrenzen "empirisch kaum zu belegen" seien. Das heißt: Bloß weil es noch nicht genug wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von pazifistischer Verteidigung gibt, verändert die EKD ihre Haltung. Allerdings hat Jesus nie eine Kosten-Nutzen-Rechnung zwischen gewaltvollem und gewaltfreiem Handeln aufgemacht. Stattdessen hat er Gewalt konsequent als falsch abgelehnt.
Christlichen Pazifisten wird oft vorgeworfen, naiv zu sein und gegen militärische Gewalt nichts ausrichten zu können. Um unseren Nächsten zu helfen, gibt es viele pazifistische Mittel. Wenn Deutschland etwa jenen Asyl geben würde, die sich dem Militärdienst in Russland entziehen, würden wir aktiv dazu beitragen, den Krieg zu verkürzen. Aber das tut Deutschland nicht. Wir sollten Nahrung und Medizin zu den Menschen im Sudan schicken, anstatt das Geld für den Etat für Entwicklungszusammenarbeit um 910 Millionen Euro zu kürzen. Außerdem sollten wir viel mehr Energie darauf verwenden, zu lernen, wie ziviler Widerstand funktioniert. Methoden des zivilen Widerstands umfassen etwa Massendemonstrationen, Streiks und Boykotte.
Wenn die EKD Jesu Gewaltlosigkeit mit staatlicher Verteidigungslogik verrechnet, entsteht eine Friedensethik, die nur noch entfernt an das Evangelium erinnert. Diese Friedensethik spiegelt eher den allgemeinen sicherheitspolitischen Diskurs wider. Die EKD sollte sich trauen, einen Gegenpol zu bilden, und zu Jesu Lehre stehen, auch wenn sie radikal ist.



