Friederike Spengler war 13, als ihr Vater sie 1981 zum Friedensgebet in die Leipziger Nikolaikirche mitnahm. Draußen wartete die Stasi. Spengler und ihr Vater wussten, was das bedeuten konnte. Im Sportunterricht verweigerte sie die Schießübungen, als Studentin die paramilitärische Ausbildung. Man warf ihr "abgrundtiefen Idealismus" vor, aus dem Medizinstudium wurde nichts. Sie studierte Theologie. Heute ist sie Regionalbischöfin von Gera-Weimar – und Mitglied der EKD-Synode, des höchsten Kirchenparlaments der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Auf der diesjährigen Tagung der EKD-Synode in Dresden wurde eine neue "Friedensdenkschrift" vorgestellt. Sie bereitet Friederike Spengler große Bauchschmerzen "Dass jetzt zwischen friedensethischer Haltung einerseits und politischer Umsetzung andererseits unterschieden wird, tut mir weh", sagte sie. Aus ihrer Sicht würdige die neue Schrift nicht genügend, dass in der DDR Menschen den Kriegsdienst verweigerten und als Bausoldaten ihre Pflicht taten – und dass auch heute weltweit viele Christen und Christinnen aus einer pazifistischen Haltung der Gewaltlosigkeit sich um Frieden bemühten – oft unter großer Gefahr für ihr Leben. "Dass der Pazifismus nur noch eine Spielart von evangelischer Friedensethik sein soll, steht der Kirche nicht gut zu Gesicht".
Was ist geschehen? Mit der knapp 150-seitigen Denkschrift "Welt in Unordnung – gerechter Friede im Blick" setzt die evangelische Kirche einen neuen Akzent in ihrer Friedensethik. Sie trägt zwar nach wie vor dem biblischen Vorrang der Gewaltlosigkeit Rechnung – erkennt aber zugleich an, dass der pazifistische Gewaltverzicht nicht als politische Handlungsmaxime taugt. Theologisch gesprochen: Die biblische Hoffnung auf das himmlische Friedensreich ist nach wie vor für Christen und Christinnen zentral - aber auf Erden wohl kaum zu verwirklichen, denn der Mensch ist und bleibt ein Sünder.
Im Vordergrund steht nun, Menschen vor Gewalt zu schützen – notfalls und als ultima ratio auch mit Waffen und "rechtserhaltender" Gewalt. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat nachdenklich gemacht: Wie ist das 5. Gebot "Du sollt nicht töten?" zu vereinbaren mit der Nächstenliebe? Müssen wir nicht den "Nächsten" in der Ukraine helfen – auch mit Waffenlieferungen?
Der neue friedensethische Realismus spiegelt sich auch beim Thema Atomwaffen: Kirsten Fehrs, die EKD-Ratsvorsitzende und Hamburger Bischöfin, stellte klar: "Atomwaffen gehören weltweit abgeschafft". An diesem Fernziel habe sich nichts geändert. Aber solange es Staaten gebe, die nuklear drohen, sei das politische Risiko zu groß, auf Atomwaffen zu verzichten. Ein Dilemma, aus dem man nicht herauskomme, betonen die Autoren und Autorinnen der neuen Denkschrift. Sie versuchen, auch den neuen hybriden Formen der Kriegsführung und Destabilisierung gerecht zu werden, und beschreiben, dass es zunehmend schwieriger werde, zwischen Krieg und Frieden zu unterscheiden.
Viele der 128 Synodalen begrüßten die neue, auch politisch anschlussfähigere Sicht, würdigten die "Ausgewogenheit" und "wohltuende Komplexität" und dass man dem Dokument anmerke, wie sehr darum gerungen wurde, unterschiedliche Positionen einzubinden". Den Autoren wurde mit langem Applaus gedankt, mehrfach wurde der Liedermacher Wolf Biermann zitiert: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu".
"Das Dokument hält den eschatologischen Hoffnungshorizont offen, nimmt die Weltlage realistisch in den Blick und formuliert Dilemmata", lobte etwa der Württembergische Synodale Steffen Kern. Christiane Tietz, Kirchenpräsidentin der Kirche in Hessen und Nassau, erinnerte an die Einsicht von Dietrich Bonhoeffer, wonach keiner bei Fragen von Krieg und Frieden mit reinem Gewissen davonkomme.
"Ich bin mir bewusst, dass ich mich schuldig mache, wenn ich Gewalt anwende", sagte Bundeswehr-Generalmajor Ruprecht von Butler – auch er ist Mitglied im Kirchenparlament. Gerade weil der Text die Schuldfrage nicht ausklammere und die "Zerrissenheit" verdeutliche, sei er so wertvoll. "Ich kann ihn gut verwenden in der Diskussion mit jungen Soldaten und Soldatinnen."
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Ja, die neue Denkschrift wolle keine Wahrheit verkünden, betonten die Autoren, sondern Menschen auch außerhalb der Kirchen dabei helfen, ihr Gewissen zu schärfen und sich ein ethisches Urteil über Krieg und Frieden zu bilden.
In der Debatte wurde immer wieder deutlich, wie sehr die eigenen Lebensleistungen, die Erfahrungen in der DDR oder in der westdeutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre die Haltung gerade bei diesem Thema prägen. Ein älterer Synodaler mahnte an, doch bitte mehr zu würdigen, "welche Arbeit auch von uns Älteren" in diesem Papier stecke.
"Ich bin als Pazifistin in der DDR aufgewachsen und muss mich damit auseinandersetzen, was es bedeutet, dass Gewalt das letzte Mittel sein kann", bekannte die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt. Das falle nicht leicht. "Aber wir können die, die unter die Räuber gefallen sind, nicht einfach liegen lassen." Auch sie machte sich für das Zweifeln stark, dafür, "sich sicher zu sein, dass ich mir nicht sicher bin".
Heftige Kritik gab es auch – vor allem von außen: Vor dem Saal verteilte die pazifistische Gruppe "Initiative Christlicher Friedensruf" Flyer, auf dem sie die "Verengung des jesuanischen Prinzips der Gewaltfreiheit auf den Schutz vor Gewalt" beklagte. Die kirchliche Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) kritisierte, die neue Denkschrift betone zu sehr "die Notwendigkeit militärischen Handels und unterschätze die Möglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung". Der Vorstand der Bonhoeffer-Niemöller-Stiftung nahm die Neuausrichtung der evangelischen Friedensethik "erschüttert zur Kenntnis. "Das Ziel, die Institution des Krieges aus der internationalen Politik zu entfernen, ist aufgegeben", schrieb die Stiftung in einer Pressemitteilung. Damit falle das Papier "hinter die Charta der Vereinten Nationen und hinter den aktuellen friedensethischen Diskurs zurück".
Im Tagungssaal blieb die Debatte bei aller Emotionalität konstruktiv, wofür man einander auch mehrfach zurecht auf die Schulter klopfte. "Wir tragen hier stellvertretend für die Gesellschaft eine Debatte aus, ohne aufeinander loszugehen", sagte Göring-Eckardt.
Am Ende forderte Friedrich Kramer, Bischof der Mitteldeutschen Landeskirche und bekennender Pazifist, alle zum Singen auf. Und so standen alle auf und sangen: "Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine." Den Text hat Martin Luther 1529 gedichtet.



