Sieben Gesichter, viele Ideen
Sieben Gesichter, viele Ideen
Katharina Langer
Sieben Gesichter, viele Ideen
128 Delegierte bilden die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie kommen aus unterschiedlichen Berufen. Auch diese sieben bestimmen die Zukunft der Kirche. Unter ihnen befindet sich auch die neu gewählte Präses der Synode: die 25-jährige Studentin Anna-Nicole Heinrich.
Tim Wegner
05.05.2021

Der Literaturwissenschaftler: Holger Gemba

Vieles im Leben von Männern ist unklar ge­worden. Sie denken partnerschaftlicher, ­wollen Schwäche zulassen dürfen und Gefühle zeigen. Doch Männer setzen sich nicht gern in Bibelkreise, um über sich und ihre Probleme zu ­sprechen. Sondern lieber ums Lagerfeuer. Deshalb gibt es in den Kirchen seit 30 Jahren die Männerarbeit.

Holger Gemba ist da über einen Freund reingerutscht, der ihn zu einem Vater-Kind-Wochenende mitgenommen hat. Gemba hat drei Söhne und fand es toll, dass sich die Väter nach einem intensiven Tag mit den Kindern abends allein zusammensetzen konnten, weil sich dann die Teamer um den Nachwuchs kümmerten. Heute ist er als Landesvorstand der westfälischen Männerarbeit verantwortlich für Einkehrtage, Klosterwochenenden und Seminare, in denen sich Männer zum Beispiel über Tod und Gesundheit austauschen können und auch mal selbst zu Holz und Leim greifen und einen Sarg zimmern.

Gemba ist 63, Mitglied in der Synode der West­fälischen Kirche und kam 2015 in die EKD-Synode. Dort engagierte er sich im Ausschuss Diakonie, ­Bildung und Jugend. Wie intensiv die Synoden­tagungen sind! In kürzester Zeit würden da die ganz großen ­gesellschaftlichen Themen bis ins kleinste Detail ­diskutiert und Beschlüsse gefasst, mit denen sich die Kirche sehen lassen könne. Das fasziniert ihn sehr. Auch wenn das Ringen um einzelne Worte und Halbsätze bisweilen ermüdend sei. Aber auch dem kann der Slawist und Hochschuldozent etwas abgewinnen. 

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Die Expertin fürs Digitale: Anna-Nicole Heinrich

Zehn Tage Vorlauf, ein klares Logo, eine gute Vernetzung in die Webentwicklerszene und in die junge Glaubenscommunity, schon stand der Hackathon #glaubengemeinsam. 48 Stunden dachten 220 junge Leute Ende März darüber nach, wie Kirchen in ihren Räumen zum Co-Working einladen können, ob eine digitale Seelsorge-App funktioniert, wie sie theologisches Wissen in die Wikipediacommunity einspeisen könnten oder wie Menschen schneller ­eine Gemeinde finden, in der sie sich zu Hause fühlen. ­ Ein Drittel der Projekte vom vorigen Hackathon 2020 wurde umgesetzt. So sieht Aufbruch aus!

Das alles hat die 24-jährige Anna-Nicole Heinrich mitorganisiert. Sie war Jugenddelegierte bei der gerade beendeten EKD-Synode und hatte "Bock, einfach mal so was Kreatives zu machen". Hätte das Kirchenamt versucht, einen Hackathon auf die Beine zu stellen, wäre ein Mitarbeiter wohl ein Jahr beschäftigt gewesen.

Wie verändert die Digitalisierung das Zusammenleben? Das möchte Anna-Nicole Heinrich wissen. Sie studiert in Regensburg interdisziplinär Digital Huma­nities bei den Informationswissenschaftler:innen und Menschenbild und Werte bei den katholischen Theolog:innen. Im Studienschwerpunkt Medizin­ethik beschäftigt sie sich gerade mit der Debatte rund um den assistierten Suizid und damit, wie Corona die Einsamkeit von Menschen verstärkt. Die Mitarbeit in der EKD-Synode fand sie bisher sehr bereichernd. ­"Alle haben erkannt, dass man nicht 40 sein muss, um mitreden zu können." 

Der Konzernchef: Albert Christmann

Anfang der 70er Jahre zog ein ­Pfarrerehepaar in das rhein­hessische Dorf, in dem Albert Christmann aufwuchs. Er war zehn Jahre und fasziniert von der Lebensgeschichte des Mannes, der damals schon in Rente war: Während des Krieges hatte er an der vermeintlichen Wunderwaffe V2 mitarbeiten müssen, nach dem Krieg, auch deswegen, Theologie studiert, in der DDR war er Pfarrer und ging auch unter dem kommunistischen System seinen Weg, als Rentner reiste er in den Westen aus. Dieser Mann habe ihn, neben seinen Eltern, sehr geprägt, sagt Christmann, er habe sogar überlegt, Theologie zu studieren.

Er wurde dann doch Wirtschafts­ingenieur und arbeitet seit 1991 für die ­Oetker-Gruppe. Heute steht er als persönlich haftender Gesellschafter in beson­derer Verantwortung. "Egal, wo du arbeitest, Christen werden überall gebraucht", habe der Pfarrer ihm mitgegeben. Daran erinnere er sich öfter, sagt Christmann. Wenn er schwierige Entscheidungen zu treffen habe oder wenn es um Tierethik und die Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung geht und die Frage, wie Oetker dazu steht.

Er engagiert sich ehrenamtlich und diskret, aber schon immer wollte er sich mit einem richtigen Mandat für seine Kirche einsetzen. Er ist 58 – wann, wenn nicht jetzt? Die Kirche, der Glaube können Menschen Orientierung bieten, das hat er selbst erlebt. Er will mithelfen, die guten Botschaften in einer sich wandelnden Gesellschaft zu vermitteln. Und nicht nur dadurch, dass er, der Oetker-Chef, sich ­öffentlich zu seinem Glauben bekennt.

Der Unternehmensberater: Niklas Alexander Krakau

Seine Kolleg:innen in der Unter­nehmensberatung staunen, wenn sie ­sehen, dass er ein Kreuz um den Hals trägt. In der Kirche trifft er Leute, die nicht wissen, was McKinsey und was überhaupt eine Unternehmensberatung ist. Niklas ­Alexander Krakau pendelt zwischen Welten, die wenig miteinander zu tun ­haben. Was er unbedingt ändern will. Deshalb hat er Betriebswirtschaft in Vallendar und Entwicklungshilfe in London studiert, Praktika bei den Topadressen in der Finanzbranche gemacht, beim EU-Parlament und bei Google. "Ich will von den Besten lernen, um dann Gutes zu tun."

Im Moment arbeitet er in einer Unternehmensberatung und hilft Firmen bei der Energiewende. Vielleicht treibt es ihn danach in die Entwicklungszusammen­arbeit, vielleicht in eine NGO, vielleicht in eine öffentliche Verwaltung? Mal schauen. Er ist erst 25.

Woher kommt sein soziales Gewissen? Krakau schwärmt von der Kirchengemeinde in der Nähe von Frankfurt, in der er groß geworden ist, Teamer war und heute bei den Finanzen hilft. Kurz vor dem Abi besuchte er die Partnergemeinde in Kenia. Das ­habe ihm die Augen geöffnet für die krassen ­Unterschiede zwischen Arm und Reich. ­Eine misslungene OP kurz danach führte dazu, dass er ein Jahr lang nicht ­laufen konnte. Ohne Hilfe konnte er nicht mal Socken anziehen. Ausgerechnet er, bei dem immer alles glatt lief! Das hat ihn Demut gelehrt. Seitdem ist ihm klar, dass der Sinn des Lebens nicht in der Maximierung des Profits einer Firma und des eigenen Kontostands besteht, sondern darin, sich für andere einzusetzen. Aber eben professionell.

Die Theologiestudentin: Julia Rau

"Willst du jetzt Nonne werden oder was?", fragten Freunde, als Julia Rau anfing, Theologie zu ­stu­dieren. Sie ist in der Nähe von Rostock aufge­wachsen, Kirche spielte keine Rolle. Die Religionslehrerin und der Religionslehrer in der Schule sensibilisierten sie für ­religiöse Fragen und waren da, als es in der Pubertät auf und ab ging. Mit 13 ließ sie sich taufen und konfirmieren. Ihre beiden jüngeren Geschwister machten gleich mit.

Als sie ihr Abiturzeugnis in der Schule abholte, sah sie einen Aushang für ein Freiwilliges Soziales Jahr in Israel: behinderte Menschen begleiten. In Israel fragte man sie oft, ob sie Christin sei. Hm, ja, schon, irgendwie. Sie fing an, in der Bibel zu lesen.

Jetzt ist Julia Rau 23, sie hat gerade die Zwischenprüfung hinter sich gebracht und die ersten Glaubenskrisen auch. Die haben sie nicht umgehauen. "Mein Glaube ist dynamisch", sagt sie, und dass das ja gerade spannend sei. Sie engagiert sich im Fachschaftsrat und im Fakultätsrat, führt den Instagram-­Account für die Nachwuchsförderung der Nordkirche, jobbt in einem pharmazeutischen Unternehmen und hat mal so nebenbei erreicht, dass aussortiertes Verbandsmaterial an Geflüchtete abgegeben wird.

Neulich beim Praktikum im Krankenhaus: Gottesdienst für psychisch Kranke in der Kapelle, Patienten zünden ­Kerzen ­füreinander an. "So ein Gemeinschaftserlebnis!", sagt Julia Rau. So vielen Menschen tut Seelsorge gut! Da will sie mit­helfen. Und die Kirche weiblicher und jünger und digitaler machen. Dass das klappt, sieht man ja an ihr.

Die Regionalbischöfin: Friederike Spengler

Ihr Vater nahm sie 1981 zum Friedensgebet in die Leipziger Nikolaikirche mit. Draußen wartete die Stasi. Friederike Spengler war 13 und wusste, was das bedeuten konnte. Im Sportunterricht verweigerte sie die Schießübungen, als Studentin die paramilitärische Ausbildung. Man warf ihr "abgrundtiefen Idealismus" vor, aus dem Medizinstudium wurde nichts. Sie machte eine Ausbildung zur Kinderdiakonin, arbeitete in der Jugend­psychiatrie, studierte Theologie. Heute ist sie Regionalbischöfin von Gera- Weimar.

Christin zu sein und für Frieden einzutreten, hat für sie existenzielle Be­deutung. Deshalb kann sie nicht darüber hinweglesen, wenn es in der ­Confessio Augustana, der grundlegenden lutherischen Bekenntnisschrift von 1530, heißt, dass Christen "Übeltäter mit dem Schwert bestrafen" und "rechtmäßig Kriege führen" könnten. Bei der Synode 2019 forderte sie, den Glaubenssatz zu revidieren – oder zumindest in einer Fußnote klarzustellen, dass die Kirche das heute anders sieht. Auch die Militärseelsorge ist ihr fremd.

Sie wünscht sich, dass ostdeutsche Sichtweisen nicht als Störfaktor, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden. Und dass die Kirche mehr ausprobiert, ehrlich schaut, was gut läuft – und sich von anderem trennt. Viele mitteldeutsche Gemeinden öffnen die Kirchen so, dass die Feuerwehr ihre Versammlungen darin abhalten kann, die Senioren Kaffee trinken und auch die Jugendlichen zu Hause sind. Wie sie sich die künftige Kirche vorstellt? Da muss sie nicht lange überlegen: "Kirche soll Kirche für andere sein!"

Der Richter: Matthias Kannengießer

So eine Verfassung schreibt man nicht in jeder Landessynode", sagt Matthias Kannengießer und ist zu Recht stolz. Als Präsident der Synode der Hannoverschen Landeskirche hat er eine neue Kirchenverfassung mit auf den Weg gebracht, die innovative Gemeindeformen ermög­licht, es jungen Leuten einfacher macht, in die Kirchenparlamente zu kommen, zum Dialog mit anderen Religionen auffordert und Strukturen verschlankt.

Drei Jahre lang haben die Kirchenparlamentarier diskutiert und miteinander gerungen, sie haben für die neuen Ideen in vielen Gemeinden und Gremien geworben und Hunderte Stellungnahmen gesichtet, die Kirchenmitglieder online eingereicht hatten. 2019 wurde die Verfassung einstimmig angenommen.

Diese gute Erfahrung, dass Reformen möglich sind, wenn man sich Zeit lässt und alle mitnimmt, bringt der 52-Jährige nun zum zweiten Mal in die EKD-Synode ein. Dort versteht er sich auch als Mittler zwischen Basis und Kirchenleitung. Als Kirchenvorstand in seiner Gemeinde in Hannover erlebt er, wie schnell das Gefühl aufkommt, "die da oben" wollten ihnen ­etwas überstülpen. Manchmal reiche eine andere Formulierung, um ein solches Missverständnis zu verhindern.

Kannengießer ist Jurist und Richter am Landgericht in Hannover. "Ich will nicht nur juris­tische Themen beackern", sagt er. In der letzten EKD-Synode hat er im Zukunftsausschuss mitgearbeitet und sich dort unter anderem mit Konfi-Apps beschäftigt. 

Infobox

EKD-Synode

Um sich in grundlegenden Fragen zu verständigen, Ausgaben und Kirchengesetze zu beschließen, trifft sich einmal im Jahr das Kirchenparlament: die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Mitglieder werden von den 20 Landeskirchen und der EKD für sechs Jahre entsandt. Sie wählen den 15-köpfigen Rat der EKD, dessen Vorsitzender der höchste Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland ist. Vom 6. bis 8. Mai 2021 trifft sich die 13. Synode zum ersten Mal - und wegen Corona digital. Und diesmal mit einer ­Jugendquote: 20 der 128 Mitglieder sind unter 27 Jahren alt

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