"Das sind aber Oschis!" Reporter Yared Dibaba staunt, als er die Herbstkönige sieht, die vor einer Scheune in Klixbüll auf dem Rasen liegen. Adelige sind sie nicht, die Herbstkönige, sondern eine Möhrensorte. Sie sehen ganz anders aus als das, was man in Supermärkten kaufen kann, krumm, verwachsen, dick und riesig. "Die lagern wir nun ein, daraus wollen wir nächstes Jahr Saat machen", sagt Johanna Albertsen in dem NDR-Fernsehbeitrag mit Yared Dibaba.
Johanna Albertsen ist Vorsitzende des Vereins "Solawi Kirchenhof Klixbüll". Solawi? Die Abkürzung steht für "Solidarische Landwirtschaft". Der Verein in Klixbüll in Nordfriesland, im äußersten Norden Deutschlands, lebt den Grundgedanken der Solawisten: Weil Landwirtschaft nie wirklich planbar ist – Unwetter oder Dürren können zu Ernteausfällen führen –, teilt sich eine Gemeinschaft das Risiko.
Konkret heißt das in Klixbüll: Wer einen Ernteanteil kauft, zahlt 45 Euro im Monat. Was genau man dafür bekommt, weiß zu Jahresbeginn noch niemand. Die Natur ist unberechenbar. 41 Anteile hat der Verein an die Frau oder den Mann gebracht. 65 Mitglieder zählt der Verein, viele packen in ihrer Freizeit mit an – zum Beispiel, als ein Orkan einen Folientunnel verwüstet hatte, in dem kälteempfindliche Pflanzen wachsen.
Seit Jahren wächst die Zahl der Betriebe in Deutschland, die sich dem Solawi-Gedanken verschrieben haben. Allein im Netzwerk Solidarische Landwirtschaft sind 500 zusammengeschlossen, 2011 waren es erst 20. Das Besondere in Klixbüll ist, dass die Solawi mit der Kirche zusammenarbeitet. Rote Bete, Mangold und Grünkohl wachsen hier auf Kirchenland. Die Idee hat sich herumgesprochen, deswegen war auch NDR-Mann Dibaba zu Besuch.
Diese Woche im Ernteanteil: Kartoffeln, Wirsingkohl, Paprika, Tomaten, Ringelbete, Rote und Gelbe Bete
Nach Angaben der Evangelischen Kirche in Deutschland besitzen die etwa 12.000 Kirchengemeinden im Land 325.000 Hektar Land. Auf einem Teil steht Wald. Ein anderer Teil wird an Landwirte verpachtet. Lange war das öffentlich kaum ein Thema, aber je größer die Umweltprobleme wurden, desto häufiger stand die Frage im Raum: Wie geht die Kirche mit ihrem Land um? Sie spricht viel von Erhaltung der Schöpfung, aber was tut sie konkret dafür?
Die Kirchengemeinde Braderup-Klixbüll verpachtet 50 Hektar Land. Als alte Pachtverträge ausliefen, erkannte der Kirchengemeinderat die Chance, dass ihr Land naturnäher bewirtschaftet werden könnte als früher. Knapp zehn Jahre ist das her. Damals besaß die Kirchengemeinde viele kleinere Flächen, die über die Region verstreut waren. Bisherige Pächter – meist konventionell wirtschaftende Betriebe – gingen durch den Kurswechsel der Kirchengemeinde nicht leer aus, was für Ärger hätte sorgen können. Denn die Kirchengemeinde tauschte Flächen und Altpächter konnten ihre bisherigen Äcker und Felder von den neuen Eigentümern pachten. Die Kirchengemeinde übernahm dafür andere Flächen und bündelte sie. Den Großteil bewirtschaftet seitdem ein Biobetrieb. Einen Acker aber verpachtet die Kirchengemeinde an den Verein Solawi Kirchenhof Klixbüll.
In diesem Jahr ist die Ernte gut ausgefallen, berichtet Stephan Schirmer, der Vorsitzende des Kirchengemeinderates Braderup-Klixbüll. Das war er auch schon, als das Gremium die Neuverpachtung des Kirchenlandes auf den Weg brachte. Im Hauptberuf ist er Chemieingenieur und der Region sehr verbunden. "Weg aus dieser Gegend war ich nur zum Studium, danach bin ich gern wieder nach Hause gekommen."
Kirchenland neu genutzt: Vorbild Klixbüll?
Vor eineinhalb Jahren erkrankte der Landwirt, der den Solawi-Acker anfangs bestellt hatte. Stephan Schirmer reduzierte seinen Hauptberuf auf 70 Prozent. "Seitdem bin ich Teilzeitlandwirt", sagt er. Gedacht ist das Projekt so, dass ein Bauer davon leben kann. In Schirmers Stimme schwingt Stolz mit – und auch ein bisschen Trotz. Denn anfangs habe es Getuschel gegeben: Der kann das nicht, der hat das doch gar nicht gelernt! Schirmer entgegnet, Landwirt zu sein, sei ein Menschenrecht, anbauen dürfe jeder das, was ihn nährt. Manches wusste er aus seinem Garten zu Hause, vieles hat er sich selbst in den vergangenen Jahren beigebracht. Noch immer lernt er dazu - und staunt, was der Acker hergibt. Wenn er etwas nicht weiß, hilft die Gemeinschaft.
Mitte September hat die EKD eine große Klimakampagne gestartet und will dafür sensibilisieren, dass wir alle Verantwortung übernehmen können. Auf der Kampagnenseite gibt sie Tipps und Hintergrundinfos zu Mobilität, Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit.
Und was gibt es derzeit, Ende September, Anfang Oktober? Stephan Schirmer legt los: "Kartoffeln, Zucchini, Wirsingkohl, Paprika, Tomaten, Rote und Gelbe Bete und Ringelbete." Dazu kommen noch Äpfel, auf dem Kirchenhof bauen sie alte Sorten an, die sogar Allergiker vertragen – Purpurroter Cousinot, Goldrenette, Schöner aus Boskoop, Finkenwerder Herbstprinz …
Auch jetzt, kurz vor Erntedank, hat Schirmer die wöchentliche Ernte wieder in der Scheune abgeliefert, in der die Solawi Kirchenhof Klixbüll zu Hause ist. Eine Gruppe von Ehrenamtlichen sortiert und verteilt die Ernte auf 41 Eimer, einer pro Ernteanteil; eine andere Gruppe gibt die Eimer aus, zwei Stunden lang, immer dienstags.
Längst ist die Ernteausgabe in der Scheune neben dem "Dörpscampus" ein weiterer wichtiger Treffpunkt im Ort, an dem Menschen zusammenkommen und kurz "klönen" können, wie man im Norden sagt. "Es entstehen Freundschaften. Man holt das Gemüse nicht wie im Supermarkt ab, ohne mit jemandem zu reden", sagt Vereinsvorsitzende Johanna Albertsen. "Kirche heißt ja, dass Menschen sich begegnen", meint Stephan Schirmer. Ob die Kunden selbst in der Kirche sind oder nicht, danach fragt keiner.
Lecker sei das, was sie ernten, optisch hätten die krummen Möhren im Supermarkt keine Chance
2024 gab es in 32 Wochen eine Ernteausteilung, in diesem Jahr sind es schon 24. Die Kohlsaison hat angefangen. Manche Gemüsesorten sind lagerbar, die werden nun nach und nach noch ausgegeben. Wahrscheinlich werden sie die 32 Wochen aus dem Vorjahr toppen. Und der Grünkohl, in Schleswig-Holstein so etwas wie das Nationalgericht, kommt erst noch. Lecker sei das, was sie ernten, meinen Albertsen und Schirmer, es habe noch richtig Geschmack. Optisch hätten die krummen Möhren oder dicken Kartoffeln im Supermarkt aber keine Chance. Sie würden durch die Norm fallen.
Gedacht ist ein Ernteanteil für eine Person und eine Woche. "Aber so viel kann niemand essen", erzählt Johanna Albertsen, "ich bin schon die ganze Zeit am Einwecken." In Weckgläsern macht Albertsen Gemüse haltbar, das kann sie dann im Winter essen. Das Wort "solidarisch" in Solawi hat für sie viele Bedeutungen. Wenn jemand keine Ahnung hat, wie das geht mit dem Einwecken, könne er jederzeit auf sie zukommen. Dann gibt sie ein Tutorial. "Die findet man zwar auch auf Youtube, aber die Feinheiten bleiben auf der Strecke."
Und noch ein Gedanke ist Johanna Albertsen wichtig, wenn es um Solidarität geht: das Saatgut. Die Vereinsvorsitzende wird kämpferisch: "Früher hat man sich Samen über die Gartenzäune gereicht, sich damit ausgeholfen. Das führte automatisch dazu, dass die Menschen Gemüse und Obst anbauten, das zu einer Region passt. Das haben Konzerne monetarisiert, zu Geld gemacht. Nun gibt es überall die gleichen Samen, die wir Kundinnen kaufen müssen. Das müssen wir uns zurückerobern!" Bei Worten belässt sie es nicht, auf dem Kirchenhof betreibt sie einen Samengarten. "Wahrscheinlich sind wir die einzige Solawi, die Saatgut nachbaut."
Am Sonntag wird Stephan Schirmer zum Erntedankfest den Altar wieder mit Obst und Gemüse vom Solawi Kirchenhof schmücken. Er muss nichts dazukaufen, damit es bunt aussieht in der Kirche. Sie haben selbst genug. Für manche mag das nach nordischer Sturheit klingen, für Schirmer ist es aber viel mehr: "Wenn in Zukunft – wie zu Corona-Zeiten – Lieferketten zusammenbrechen, aus welchen Gründen auch immer: Dann haben wir erst mal genug!"
Stephan Schirmer wird auch weiterhin Vorträge halten, um für das Solawi-Prinzip zu werben; das Infoportal Kirchenland listet Klixbüll schon als gutes Beispiel aus der Praxis. "Jede evangelische Kirchengemeinde, die Land verpachtet, kann eine Solawi auf den Weg bringen!", meint Schirmer. Und wer weiß, vielleicht kommt Yared Dibaba dann auch dort vorbei.
Mehr zum Thema Klixbüll, Kirchenland und Solawi
Den NDR-Beitrag über das Dorf Klixbüll finden Sie in der ARD-Mediathek oder mit einem Klick hier.
Das Infoportal Kirchenland, auf dem sich Kirchengemeinden und Interessierte informieren können, finden Sie hier.
Mehr Infos über das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft finden Sie hier.