Woran denken Sie, wenn Sie sich fünf Jahre zurückerinnern, an den März 2020? Als sich der erste Corona-Lockdown ankündigte?
Ich denke an eine Frau, die ich im Supermarkt sah. Noch trug niemand Masken. Aber die Frau hatte sich weiße Handschuhe angezogen, die sie an der Kasse kurz ablegte. Ihre Hände hatte sie sich fast schon blutig gewaschen. Ich denke an einen Mann, der mir unter einem strahlend blauen Frühlingshimmel entgegenkam, als wir alle schon gelernt hatten, eineinhalb Meter Abstand zu halten. Er war zu Fuß, ich auf dem Rad unterwegs. Und weil er meinte, ich würde ihm zu nahekommen, drohte er mir mit seinem Gehstock. Vor allem aber denke ich an die unfassbar traurigen Augen meines Vaters, der meine Mutter, die – schwer demenzkrank – in einem Pflegeheim lebte, nur selten und kurz besuchen durfte. Und manchmal auch gar nicht.
Nils Husmann
Am Freitag, 13. März 2020, wurde die Schließung der Kitas und Schulen beschlossen und verkündet. Am 18. März hielt Angela Merkel ihre berühmte TV-Ansprache. "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst", sagte die damalige CDU-Bundeskanzlerin.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich eine ruhige Minute nehmen und sich erinnern?
Meine Gefühle aus dieser Zeit sind immer noch stark, wenige Erlebnisse aus den Jahren danach haben mich verzweifelter, ohnmächtiger oder wütender gemacht. Alles ist sofort wieder da - verdrängt, weggeschoben, aber nicht wirklich verarbeitet. Corona hat nur den nächsten Krisen Platz gemacht, Ukraine, Putin, Trump. Ich fürchte, es geht vielen so.
Was damals passierte, zahlt auf die 20 Prozent ein, die eine teils offen rechtsextreme Partei in Deutschland bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 erreicht hat. Wir Medien haben viel zu viele Menschen verloren, die uns nicht mehr vertrauen und sich im Internet ihre eigenen Quellen zusammensuchen. Manche misstrauen dem Staat seit dieser Zeit, bekämpfen ihn sogar. "Querdenker" und "Reichsbürger" wollten den Bundestag stürmen, andere den Gesundheitsminister entführen. Vermutlich kennen viele von uns alte Wegbegleiter oder Verwandte, die man zwar noch regelmäßig trifft. Aber irgendwas stimmt nicht mehr. Man meidet bestimmte Themen, redet nicht mehr über Politik. In einer aktuellen Umfrage für den "ARD-DeutschlandTrend" sagen 46 Prozent, sie hätten in der Corona-Zeit im engeren Freundes- oder Familienkreis ernsthafte Meinungsverschiedenheiten erlebt.
"Ich habe es nur mit Gottes Hilfe geschafft": Was Corona in einem Pflegeheim anrichtete.
Es ist höchste Zeit, die Erfahrungen mit Corona aufzuarbeiten, weil sie uns den gemeinsamen Weg in die Zukunft versperren. Mir persönlich hilft die Erinnerung an die Anfangszeit von Corona, an das Frühjahr 2020. Denn damals gab es immerhin noch einen Konsens: Wir wissen wenig, wir sind unsicher und beunruhigt. Die Wissenschaft füllte die Wissenslücken. Das "Coronavirus-Update", ein NDR-Podcast mit dem Virologen Christian Drosten, erzielte enorme Reichweiten. Wenn Christian Drosten heute, fünf Jahre später, Interviews gibt, erinnert er an zwei Gewissheiten, die es inmitten aller Unsicherheit schon früh gab: Infizierte Menschen waren schon ansteckend, wenn sie von ihrer Infektion noch gar nichts bemerkt hatten. Und das Virus war - besonders in einer Gesellschaft mit vielen älteren Menschen – so gefährlich, dass es das Gesundheitssystem überlastet hätte, wenn man keine Maßnahmen ergriffen hätte. "Maßnahmen" – auch so ein Wort, das unangenehme Erinnerungen weckt.
Lesetipp: Was Esoterik und Verschwörungsmythen miteinander zu tun haben.
Die Wissenschaft, das erklärt Christian Drosten heute immer wieder, gab der Politik auf Basis dieser zwei Gewissheiten den Rat: Man müsse die Kontakte zwischen Menschen begrenzen, damit das neue Virus nicht durchrauschen und die Krankenhäuser lahmlegen würde. Wie das zu erreichen sei – das müsse die Politik entscheiden.
Und die Politik traf Entscheidungen, aber in einer Blackbox namens Bund-Länder-Konferenz. In Videokonferenzen schaltete sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten zusammen. Denn die Bundesländer sind für den Infektionsschutz zuständig, aber die Kanzlerin moderierte, um die Regeln der einzelnen Bundesländer anzugleichen.
Transparent war das Verfahren selten. Am Ende hatten fast alle Bundesländer ihren eigenen Expertenrat. Doch lange Zeit fehlte der wissenschaftliche Sachverstand, der auf die Folgen für Kinder und Jugendliche hingewiesen hätte. Wohl auch deshalb blieben die Schulen in Deutschland länger ganz oder teilweise geschlossen als in vielen anderen Ländern - insgesamt 183 Tage. Zum Vergleich: In Frankreich, Spanien und Schweden waren es je 56, 45 und 31 Tage. Die Folgen sind verheerend. Bis zu 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden heute an einer psychischen Störung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dieser Wert ohne die Einschränkungen für Kinder und Jugendliche erklären ließe. Aber die Politik in Deutschland entschied sich damals, die Kontakte vor allem unter jungen Menschen zu beschränken. Die Wirtschaft sollte eben möglichst ungestört weiterlaufen. So musste man die Botschaft wohl verstehen. Mich macht das bis heute wütend.
"Weil sich die Politik wegduckte, stand die Wissenschaft am Pranger"
Nils Husmann
Weil sich die Politik in der Corona-Zeit wegduckte und den Eindruck erweckte, als träfen Forscherinnen und Forscher die Entscheidungen, stand die Wissenschaft am Pranger. Seuchen waren in der Menschheitsgeschichte immer schon ein Einfallstor für Verschwörungsmythen. Menschen – verunsichert oder verärgert ob der Maßnahmen – suchten in ihrer Wut im Internet nach Argumenten, die sie in ihrer Meinung bestärkten: alles Fake, alles nicht gefährlich, der Staat ist gegen und die Forscher belügen uns! Und viele Medien folgten der gelernten Praxis von Rede und Gegenrede. Man müsse immer beide Seiten hören, hieß es. So stand die Expertise von namhaften Wissenschaftlern oftmals gleichberechtigt neben Mutmaßungen von selbst ernannten Experten. Eine gefährliche false balance war entstanden.
Die Klimaforschung und die Energiewende leiden darunter bis heute. Kein physikalischer Zusammenhang ist manchen Medien und auch Politikern evident genug, als dass nicht unter dem Deckmantel der "Technologieoffenheit" wissenschaftsferner Quatsch behauptet werden und gleichberechtigt neben gesicherten Aussagen stehen könnte. Wer, wie ich, oft über die Klimakrise berichtet, kann daran mitunter schier verzweifeln.
Was kann Wissenschaft leisten? Wie kann die Politik gute und transparente Entscheidungen treffen und dabei die Grundrechte achten? Welche Bevölkerungsgruppen verdienen besonderen Schutz? Eine Enquete-Kommission, eingesetzt durch den Bundestag, könnte diese Fragen aufarbeiten und Fachleute aus allen wissenschaftlichen Disziplinen Wissen in einen Austausch bringen, vom Virologen bis zur Professorin für Geriatrie, vom Kinder- und Jugendpsychiater bis zur Wirtschaftswissenschaftlerin: Was lief falsch, was muss beim nächsten Mal besser laufen? Es ist beschämend, dass sich der Bundestag immer noch nicht darauf einigen konnte.
Aber auch eine Enquete-Kommission wäre kein Forum, in dem die Gefühle zur Sprache kämen, die viele von uns bis heute plagen. Ein persönliches Beispiel: Einen Text über neueste virologische Erkenntnisse überschrieb ein großes Nachrichtenmagazin während der Corona-Zeit sinngemäß mit So werden Kinder zu einer Gefahr für ihre Eltern. Ich kann das bis heute kaum verzeihen. Denn was sollten Kinder, die damals schon lesen konnten, bei so einer Überschrift denken? Welche Last wurde ihnen auf die schmalen Schultern gepackt? Andererseits bin ich sicher: Wer auch immer die Überschrift textete, wollte aufrütteln, aufklären, war auch nur getrieben von Emotionen wie Panik oder Wut, weil sich mit der Zeit immer mehr Menschen nicht mehr an die Regeln halten wollten.
Konflikte haben immer mit Gefühlen zu tun, das gilt auch für gesellschaftliche Großkonflikte. Deswegen träume ich von Bürgerforen, die mit dem Handwerkszeug der Mediation arbeiten. Mediatorinnen und Mediatoren sind geschult darin, Gespräche so zu moderieren, dass Empathie entsteht für die Gefühle anderer. Sie werden nachvollziehbar, manchmal sogar erlebbar. Man könnte diese Foren so organisieren, dass sie die Bevölkerung in ihrer Vielfalt abbilden. Hier könnten auch junge Menschen ihre Nöte in der Pandemie schildern. Menschen, die den Lockdown von Schulen gut fanden, könnten zuhören und ihre Ängste vor der Verbreitung des Virus schildern. Menschen, die Angst vor Impfungen haben, träfen auf Long-Covid-Patienten. Vielleicht könnte ein großes, repräsentatives Bürgerforum sogar live im Fernsehen und Internet übertragen werden?
Bürgerforen könnten an vielen Orten stattfinden. Würde ich zur Teilnahme ausgelost, könnte ich endlich erzählen, wie es war, als mein Vater meine Mutter nicht besuchen durfte, obwohl sie Geburtstag hatte. Es war der 29. Dezember 2021. Schließlich machte doch noch jemand im Pflegeheim eine Ausnahme und schob die Vorschriften beiseite. Nachdem wir in einem Testzentrum waren, durften wir sogar beide zu ihr. Dass es ihr Geburtstag war, wusste meine Mutter nicht mehr. Den traurigen Blick meines Vaters werde ich nie vergessen, aber er war hinterher froh für diese eine Stunde. Drei Wochen später starb er. Ich glaube, diese vermaledeite Zeit hatte ihm das Herz gebrochen.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns solche Geschichten endlich erzählen, weil Mitgefühl die Basis dafür ist, gemeinsam weitermachen zu können. Vielleicht gelingt uns so, immerhin noch die Gemeinsamkeit zu erkennen: Corona war eine Zeit, in der es manchmal kein Richtig und kein Falsch gab - ein einziges Dilemma.