Juden in Deutschland
Guck mal, eine Jüdin!
Wie leben die eigentlich? Was glauben sie, und was ist koscheres Essen? Das wollten Sie schon immer mal wissen? Nogah, Jessica und Mascha haben Antworten. Sie machen mit bei "Meet a Jew"
Guck mal, eine Jüdin!
Mascha, Nogah und Jessica (v.l.n.r.) machen bei "Meet a Jew" mit
Michael Kuchinke-Hofer
Lena Uphoff
Andrea Vollmer
08.01.2025
6Min

chrismon: Was ist die Idee hinter "Meet a Jew"?

Jessica: Wir sind ein Begegnungsprojekt. ­Ehrenamtliche Jüdinnen und Juden besuchen Schulklassen, Sportvereine, Kirchengemeinden und Ausbildungsgruppen und reden mit den Menschen dort über das Judentum. Sie können alle möglichen Fragen stellen. Wir spielen weniger jüdisches Wikipedia, sondern wollen zeigen, wie wir heute in Deutschland leben.

Mascha: Juden sind ja eine kleine Minderheit in Deutschland, da sind Begegnungen mit ­ihnen statistisch nicht selbstverständlich. Beim Judentum denken viele an die Zeit des Nationalsozialismus und die Schoah. In den Schlagzeilen heute spielt der Krieg in Israel und Gaza eine große Rolle, und es kommt oft zu Antisemitismus. Darüber hinaus wissen viele Menschen aber wenig über das Judentum.

Sie kommen immer zu zweit. Warum?

Jessica: Es gibt nicht das eine Judentum. ­Eine Person kann nicht für das Judentum in Deutschland sprechen. Auch zwei können das nicht, aber wenn mehrere Jüdinnen und Juden in eine Begegnung gehen, dann lernen die Teilnehmenden die Vielfalt des Judentums besser kennen. In Deutschland gibt es von Orthodoxie bis säkulares Judentum alle möglichen Strömungen, das möchten wir ­widerspiegeln.

Wie viele Begegnungen gab es bisher?

Jessica: Seit 2020 gab es über 3000 Begegnungen. Damit haben wir rund 77.000 Menschen erreicht. Allein dieses Jahr konnten wir rund 1000 Begegnungen erfolgreich durchführen.

Nogah, Sie engagieren sich seit zwei Jahren bei "Meet a Jew". Wie sind Sie zu dem Projekt gekommen?

Nogah: Über einen Flyer, der in meiner ­Gemeinde auslag. Ich war eigentlich gar nicht so interessiert, aber meine Mutter meinte, ich hätte bestimmt viel zu erzählen. Ich bin ­modern orthodox aufgewachsen.

"Ich nehme trotz meines ­religiöseren Elternhauses an einem weltlichen Leben Anteil"

Nogah

Was heißt das?

Nogah: Das bedeutet, dass meine Familie sich an der Orthodoxie orientiert – wir halten uns an traditionelle jüdische Gesetze und Praktiken, beispielsweise an die Kaschrut-­Regeln und an die Feiertage. Gleichzeitig bin ich sehr modern aufgewachsen, war auf nicht­jüdischen Schulen, ich trage Hosen und nicht nur Röcke und Kleider, wie es viele orthodoxe Frauen tun. Und ich nehme trotz meines ­religiöseren Elternhauses an einem weltlichen Leben Anteil. Also kenne ich viele Aspekte der Orthodoxie gut, aber ich kenne auch das ganz normale säkulare Leben in Deutschland.

Wie läuft eine "Meet a Jew"- Begegnung ab?

Nogah: Wir sagen am Anfang, dass wir gern das Du wollen. Dadurch möchten wir den Gruppen das Gefühl geben, dass sie wirklich alle Fragen stellen können. Mir ist es wichtig, dass wir gemeinsam in einem Kreis ­sitzen und einander auf Augenhöhe begegnen. Normaler­weise beginnen wir mit einer Frage. Was ist euer Lieblingsfilm oder euer Lieblings­essen? Dann gibt es eine kleine Namensrunde, und dann kommen die richtigen Fragen. ­Entweder hat die Gruppe schon welche vorbereitet, sonst habe ich auch Gegenstände dabei, um ein Gespräch zu beginnen.

Was für Gegenstände?

Nogah: Zum Beispiel eine Channukkia, ­einen Kerzenleuchter, den wir traditionell zum Feier­tag Chanukka benutzen. Auch Sabbatkerzen oder koschere Gummibärchen. Manches ­haben die Teilnehmenden schon einmal ge­sehen. Manche erkennen zum Beispiel die ­Kippa, das religiöse Käppchen für männliche Juden, und sagen, Muslime haben doch auch so etwas. Das ist für mich spannend, wenn Be­züge zu anderen Religionen hergestellt werden.

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Gibt es Fragen, die besonders oft gestellt werden?

Nogah: Häufig geht es um Antisemitismus. Menschen, die nie Antisemitismus begegnen, können sich gar nicht vorstellen, dass es heute noch Antisemitismus gibt und wie präsent er für uns ist. Viele Fragen drehen sich auch um die jüdischen Speisegesetze: Ihr trennt euer Geschirr und die Töpfe voneinander? Ihr esst in zeitlichen Abständen?

Mascha: Wir wollen nicht nur über das ­sprechen, was die Menschen vielleicht schon über das Judentum wissen. Wir wollen zeigen, dass niemand nur jüdisch ist, dass wir nicht nur aus Geboten und Verboten bestehen. Die Ehrenamtlichen sollen sich nicht scheuen, auch über nichtjüdische Themen zu ­sprechen. Natürlich ist das Jüdische ein großer Teil ­unserer Identität, aber es ist nicht so, dass sich den ganzen Tag alles um die Religion dreht. Da geht es uns genauso wie den Christen und Muslimen.

Erzählen Sie uns bitte von Ihren Erfahrungen.

Nogah: Mein Lieblingsmoment ist ­immer, wenn Teilnehmende hinterher zu uns ­kommen und sagen: Hey, ihr seid ja ganz ­normal und eigentlich wie ich, nur, dass ihr noch jüdische Feiertage feiert oder anders esst. Dann freue ich mich, dass wir etwas erreicht haben und Menschen, die vorher nicht viel über das Judentum wussten, mehr ­darüber erzählen konnten.

Jessica: Eine meiner eindrücklichsten Erfahrungen hatte ich in meiner Heimatstadt Halle, kurz nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019. In einer Begegnung mit Schülerinnen und Schülern aus dem Paulusviertel fühlten wir uns plötzlich tief miteinander verbunden. In dieser Zeit war der Antisemitismus greifbar und sie konnten nachempfinden, was es bedeutet, wenn das eigene Zuhause in Gefahr ist. Das hat mich sehr berührt.

"Natürlich können wir über den Nahostkonflikt sprechen, aber dafür sind wir nicht da"

Nogah

Ist es auch schon zu unan­genehmen Situationen ge­kommen?

Nogah: Manchmal kann es unangenehm werden, wenn die Teilnehmenden über den Nahostkonflikt diskutieren möchten. Natürlich können wir darüber sprechen, aber dafür sind wir nicht da. Sondern dafür, um von unserem persönlichen Judentum zu erzählen – und nicht als Vertreterinnen und Vertreter des Staats Israel.

Was können Sie tun, damit es nicht zu solchen – oder schlimmeren Situationen – kommt?

Jessica: Wir führen immer ein Vorgespräch, um ein Gefühl dafür zu ­bekommen, warum Interesse an unserem Format besteht. Wir fragen, inwiefern sich die Gruppe schon mit dem Judentum beschäftigt hat, und schicken Material zur Vorbereitung. Wir wünschen uns so viele Begegnungen wie möglich, aber wir sind auch sehr selektiv. Wir schicken unsere Ehrenamtlichen nirgendwohin, wo sie auf Hass stoßen oder mit Vorurteilen konfrontiert werden.

Wie hat sich der 7. Oktober auf das Projekt ausgewirkt?

Jessica: Die Anzahl der Anfragen hat sich verdoppelt, so dass wir nur schwer hinterher­kommen. Das schätzen wir sehr, aber irgendwann sind unsere Kapazitäten ausgeschöpft. Natürlich sind wir auch sehr viel vorsichtiger und aufmerksamer, was die Sicherheit ­unserer Ehrenamtlichen angeht.
Mascha: Es gibt Anfragen, die wir ablehnen müssen, weil es dabei nicht mehr um Präven­tion geht, sondern um Intervention. Wir wollen nicht, dass Vorurteile entstehen, und bemühen uns, erste Stereotype aufzubrechen. Aber in manchen Teilen der Gesellschaft sind wir an einem Punkt, der weit darüber hinausgeht. Unser Projekt ist ein Baustein in der ­Arbeit gegen Antisemitismus, aber es braucht viele Hände. Begegnungen allein reichen nicht aus, es fehlen strukturelle Konzepte zum Umgang mit Antisemitismus. Das merkt man häufig daran, dass Schulen nicht ­wissen, wie sie mit Anti­semitismus umgehen sollen, und erst nach Lösungen suchen, wenn bereits etwas passiert ist. Wir hoffen, dass wir die ein oder andere Person motivieren können, sich gesellschaftlich zu engagieren. Wir müssen alle etwas tun, um die Demokratie zu stärken.

Kann eine Begegnung dabei ­helfen, um Vorurteile und Stereo­type aufzubrechen?

Nogah: Meiner Meinung nach auf jeden Fall. Wir haben bei "Meet a Jew" ein Motto: Mit­einander reden statt übereinander. Wir können die Menschen ganz anders erreichen, wenn wir mit ihnen reden. Das kann mehr bewirken als ein Buch oder eine Dokumentation.

Jessica: Als ich vor ein paar Jahren als Ehren­amtliche in einer Begegnung war, hat eine junge Schülerin gesagt: Ich verstehe nicht, warum es Hass gibt und wir uns nicht alle mögen. Genau darum geht es. Wenn die ­Teilnehmenden danach Vorurteilen über das Judentum begegnen, können sie sich an die Ehrenamtlichen erinnern, die Situation besser einordnen und sagen: Nein, so stimmt das nicht.

Die Interviewten Jessica und Mascha machen Projektarbeit, Nogah ist Ehrenamtliche. Alle drei möchten nur mit Vornamen genannt werden.
 www.meetajew.de.

Infobox

Der Zentralrat der ­Juden will über das ­Begegnungsformat "Meet a Jew" Menschen in Sport­vereinen, Kirchen­gemeinden, Schulen und Uni­versitäten erreichen, um über ­jüdisches ­Leben in Deutschland zu ­sprechen – und nicht nur über Anti­semitismus, die ­Schoah und den Nahostkonflikt. Schirmherr ist Bundespräsident Frank-Walter ­Steinmeier.

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