Lage im Libanon
Schlimmer als die Bomben ist die Stille danach
Unsere Autorin telefoniert fast täglich mit Verwandten im Libanon. Manchmal hört sie Explosionen und sieht schreckverzerrte Gesichter. Krieg bedeutet aber auch Langeweile - und der Tod kommt nicht nur durch Bomben
Schlimmer als die Bomben ist die Stille danach
Eine israelische Bombe explodiert in Beirut
Fadel Itani/Middle East Images/IMAGO
Privat
16.11.2024
6Min

Seit Wochen schaue ich meiner Familie im Libanon beim Flüchten und beim Fürchten zu. Über den Bildschirm auf meiner Handfläche stelle ich ihnen jedes Mal verlegen diese eine Frage: "Wie geht es euch?" Wie unverschämt. Wie soll es einem schon im Krieg gehen? Ich wünschte, sie würden mich schnippisch zurechtweisen und mir Taktlosigkeit vorwerfen. Ich wünschte, sie würden mir sagen, ich solle doch bitte mit diesen dummen Fragen aufhören.

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Nohma El-Hajj

Nohma El-Hajj ist Ärztin und freie Autorin mit palästinensisch-libanesischen Wurzeln. Sie lebt in Heidelberg.

Stattdessen höre ich: "Gott sei Dank, uns geht es immerhin besser als den Menschen in Gaza." Als würde sich die Angst dafür interessieren, dass es noch größere oder kleinere Ängste auf dieser Welt gibt. "Wie geht es dir?" Ich rechne ihnen hoch an, dass sie die Kapazität haben, nach meinem Wohlbefinden zu fragen. Die Frage mag aufrichtiges Interesse sein, sie mag aber auch nur der Versuch sein, im Ausnahmezustand Normalität vorzugaukeln. Aber diese Normalität wurde längst von der Realität verschluckt. Dafür muss ich keine Bomben oder Trümmer sehen. Denn Krieg bedeutet mehr als bloße Zerstörung.

Den Krieg sehe ich bereits an den zerzausten Haaren meines sonst so gepflegten Onkels. An seinen Bartstoppeln, die in alle Richtungen ragen. An demselben Pullover, den er schon seit Tagen trägt. Ich frage ihn, ob es in seiner Unterkunft eine Dusche gibt. Die gebe es wohl. Ja, auch im Krieg duschen die Menschen. Sie bekommen auch Infekte oder die Periode und ihre Babys haben auch im Bombenhagel Koliken.

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"Duschen, Infekte, Koliken – im Krieg werden Alltäglichkeiten zu Kostbarkeiten"

Ich kann mich nicht an diese selbstverständliche Gleichzeitigkeit von Alltäglichkeiten und Ausnahmen gewöhnen, sie irritiert mich als Zuschauerin immer wieder. Zwar nehme ich sie dankend wahr, weil Duschen, Infekte, Koliken das Bindeglied zur Gewöhnlichkeit sind. Doch im Krieg werden sie zu zerbrechlichen Kostbarkeiten des Alltags, deren Existenz mit jeder Explosion in Frage gestellt wird. Ja, es ist seltsam, dass zivilisatorische Handlungen wie der Einkauf von Nahrungsmitteln und das Aufsuchen eines Arztes gleichzeitig mit dieser primitiven Flucht vor der rohen Gewalt existieren können, dass sie sich auf derselben Achse befinden können.

Zwischen diesen beiden Polen liegt manchmal unendlich viel Zeit. Zeit, die gefüllt werden will. Nahezu täglich rufe ich meine Familie an, auch mit der Hoffnung, für etwas Ablenkung zu sorgen und für wenige Minuten ihre Zeit zu füllen: Die jungen Töchter meines Cousins wollten kürzlich einen Kamerarundgang durch das Zimmer meines kleinen Sohnes. Also filme ich ihnen die verschiedenen Spielzeuge und gebe Auskünfte über die Namen diverser Kuscheltiere, stelle Spielküche und Bausteine vor oder erkläre die Entstehungsgeschichte mancher Basteleien und Bilder. Sie lassen sich bereitwillig berieseln und ich verstehe: Krieg bedeutet auch Langeweile.

"Viel schlimmer als die ohrenbetäubenden Bomben ist die Stille danach." Ich denke immer wieder über diesen Satz meiner Cousine nach und kann nur erahnen, was sie meinen könnte. Meint sie vielleicht die Geister, die in der Ruhe aufsteigen, um mit jedem Moment der Stille immer feinere Konturen und Formen einer düsteren Zukunft zu malen? Sie prophezeien eine Zeit, die nie mehr so sein wird wie zuvor und hinterlassen die Ungewissheit, ob es denn wieder gut und schön werden kann – für sich, für die Kinder, für dieses Land. Und dann ist da diese laute Explosion, vor der sich meine Cousine versteckt. Und sie wird sie vielleicht in diesem Moment wie eine Erlösung empfinden von all diesen ungnädigen Geistern. Denn Krieg bedeutet, in der Stille die ohrenbetäubende Angst zu ertragen.

Einmal erlebe ich während eines Videotelefonats mit meiner Tante, wie im Hintergrund eine Bombe detoniert. Es ist nicht dieser laute Knall, der mich so erschreckt, sondern das kurz aus der Contenance geratene Gesicht meiner Tante. Diese kurzzeitig aufgeschreckte Mimik, die Augen, die in Richtung Schallquelle verharren, um sich zu vergewissern, dass der Abstand zwischen ihr und dieser Bombe groß genug ist. Ausgerechnet in diesem Moment lässt die Internetverbindung nach, und ich schaue viele Sekunden lang auf ein in Angst erstarrtes Gesicht. Zuerst kommt die Stimme wieder, dann das bewegte Bild. Sie verliert kein Wort über das Geschehen und plaudert stattdessen über den fad schmeckenden Kaffee im Laden nebenan. Denn Krieg bedeutet das Ringen um Fassung.

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Meinen anderen Onkel ertappe ich dabei, wie er im Hintergrund wie ein Tiger im Käfig auf und ab geht. "Er hält es in dieser kleinen Wohnung nicht mehr aus, er wird mir noch verrückt", erzählt mir seine Frau, die sichtlich erschöpft wirkt. Dann werde ich einfach herumgereicht an alle Anwesenden in der Wohnung, mal bin ich interessant, mal weniger. An manchen Tagen lande ich so achtlos auf einem Tisch oder auf einem Schoß, höre dann die Stimme der Nachrichtensprecherin und die Kommentare meiner Verwandtschaft zu den Kriegsereignissen. Manchmal höre ich, wie sie sich wegen Banalitäten anschreien. In diesem Moment wünschte ich mir, ich könnte ihnen Erleichterung verschaffen. Doch Krieg bedeutet Ohnmacht.

"Wie viele Menschen unter diesen Trümmern liegen, kann ich nur erahnen"

Ständig erreichen mich Videos und Bilder von dem zerstörten Dorf meiner Familie. Von diesem für mich so physischen Dorf scheint nicht mehr viel übrig zu sein außer Trümmern und verkohlten Autos. Wie viele Menschen unter diesen Trümmern liegen, kann ich nur erahnen. Das Dorf ist ein zertretenes Etwas. Wie oft spazierte ich durch die Gassen dieser Ortschaft, als Kind, als junge Frau, als Mutter und ließ mich in die Häuser rufen von Bekannten und Unbekannten, die in meinem Gesicht das Gesicht meiner Mutter erkannt hatten. "Bist du etwa die Tochter?" "Ja!" "Komm her und trinke einen Tee mit uns." Nicht einmal mehr Wasser soll es in einigen Dörfern des Südens geben.

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Meine jüngste und mir liebste Tante stützt bei unserem letzten Telefonat ihren Kopf auf die Hand und sagt: "Siehst du, was aus uns geworden ist?" Dann schweigen wir uns lange an. Sie ist nun tot. Nicht durch eine Bombe. Nicht durch Beschuss. "Sie ist durch den Schreck gestorben", erklärt die Frau meines Onkels unter Tränen. Sie wurde in ihrem Zimmer leblos auf dem Boden aufgefunden. Der Arzt vermutet einen Herzinfarkt. Die unerträgliche Lautstärke der Luftangriffe seien ihr an die Substanz gegangen. Immer und immer wieder ein Aufschrecken in Panik. Immer und immer wieder die Befürchtung, dass eigene Ende stünde nun bevor. Diese vernichtenden Schallpegel waren zu viel für diesen zarten Körper meiner Tante. Ich muss an einen zierlichen Wellensittich im Käfig denken, der durch Hundegebell stirbt. Ein Phänomen, das in der Tierwelt durchaus vorkommt. Ein Schreck, der den Kreislauf versagen lässt.

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Der Körper meiner Tante wird in die Klinik gefahren und aufbewahrt. Sie soll zunächst in einem Massengrab beigesetzt werden. Nach dem Krieg darf sie nach den Wünschen der Familie bestattet werden. Heute wird sie in einem schwarzen Sack in eine Kiste gelegt, ihre erste Ruhestätte. Auf der Kiste stehen ihr Name und eine Nummer. Meine Tante, die Nummer 125. Denn Krieg bedeutet Verlust von Würde, lebendig oder tot.

Mein Cousin begleitet meine Tante auf diesem Weg, von der Totenwaschung bis in die provisorische Kiste. Ich erhalte von ihm ein Bild mit ihrem erstarrten Gesicht, ausgestopft mit weißen Tüchern. "Du bist doch Ärztin, das schockt dich doch nicht." Denn Krieg bedeutet rücksichtsloses Teilen von Leid. Ich bin zu traurig, um wütend über diese Aktion zu sein. Ich nehme es hin. Betrachte das letzte Mal ihre mir so vertrauten Züge. Ich sehe keine Angst mehr.

Oft ertappe ich mich dabei, wie ich aus der sicheren Entfernung versuche, Hoffnung zu verbreiten. "Es geht bald vorbei. Ihr könnt bald wieder zurück in eure Häuser", entgegne ich meiner Familie dann mit gedämpfter Stimme. Während diese Worte über meine Lippen kommen, möchte ich mir gerne selbst glauben, dass ihre Häuser noch stehen. Zumindest mein Gesicht, welches oben rechts auf dem Bildschirm eingeblendet ist, scheint zuversichtlich. Doch Krieg bedeutet auch, dass man seinen eigenen Worten nicht mehr glaubt.

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