Christen und Hisbollah im Libanon
"Die Angst vor der Hisbollah ist genauso groß wie die vor Israel"
Das ist nicht unser Krieg, trotzdem werden wir hineingezogen, sagt Nicolas T., ein Christ in Beirut. Er fürchtet, dass die Lage weiter eskaliert, womöglich bis zum Bürgerkrieg
Was denken Christen in Beirut nach dem Tod von Hassan Nasrallah?
Ein Porträt des getöteten Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah in einem von israelischen Luftangriffen zerstörten Gebäude im Süden des Libanons
AFP/Getty Images/Mahmoud Zayyat
30.09.2024
5Min

Am 27. September wurde der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah in Dahiyeh, im Süden von Beirut, durch einen schweren Bombenangriff Israels getötet. Was denken Sie als libanesischer Christ darüber?

Nicolas T.*: Ich bin schockiert. Niemals hätte ich das erwartet. Keiner weiß, wie es weitergeht, ob es schlimmer wird oder ob der Krieg beendet ist. Hassan Nasrallah ist nicht der Führer der Christen, aber viele meiner Freunde und auch ich sind der Meinung, dass er ein starker Anführer war. Er hat die Schiiten im Libanon für eine lange Zeit angeführt und es geschafft, dass die Schiiten einflussreich wurden. Wir Christen haben das geschehen lassen und nichts dagegen unternommen. Im Gegenteil: Ein Teil der Christen unter der Führung von Michel Aoun, der von 2016 bis 2022 Staatspräsident war, hat ihn sogar unterstützt. Der 27. September 2024 ist ein bewegender Tag für den ganzen Libanon, der in die Weltgeschichte eingehen wird.

Libanon, Hisbollah und die Christen

Im Libanon leben sehr viele religiöse und ethnische Gruppierungen zusammen. 70 Prozent der Libanesen und Libanesinnen sind Muslime (Sunniten, Schiiten, Alawiten u.a.). Die Hisbollah (arab. "Partei Gottes") ist eine schiitische Partei und bewaffnete Miliz, die hauptsächlich im Libanon aktiv ist. 30 Prozent der Bevölkerung sind Christen (Maroniten, Griech-Orthodoxe, Katholisch-Orthodoxe, Armenier u.a.). Damit ist der Libanon das Land mit den meisten Christen im Nahen Osten. Diese Zusammensetzung hat in der Vergangenheit mehrfach zu Kriegen geführt. Im libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) haben sich Muslime und Christen bekriegt, aber auch zwischen den unterschiedlichen Parteien derselben Konfession gab es Auseinandersetzungen.

Um der religiösen Vielfalt gerecht zu werden, wird der Präsident des Libanon traditionellerweise von den Christen gestellt, der Premierminister ist Sunnit und der Parlamentspräsident ist Schiit. Die schiitische Partei Hisbollah unter der Führung von Hassan Nasrallah wollte die Kontrolle über das gesamte Parlament übernehmen und hatte bereits mehrere Parteien auf ihre Seite gezwungen, sodass seit Jahren keine Regierung zustande gekommen ist.

Wie wird der Krieg deiner Meinung nach weitergehen?

Alles hat sich jetzt verändert. Die Hisbollah und der ganze Libanon haben sich verändert. Die Hisbollah ist so geschwächt wie nie zuvor, und sie muss mit etwas Großem reagieren, um zu zeigen, dass es nicht zu Ende ist mit ihr - oder Israel hat gewonnen. Die nächsten Tage werden entscheidend sein, denn die Hisbollah muss sich neu sortieren und einen neuen Anführer finden. Ich glaube aber nicht, dass sich die Christen militärisch einmischen, sondern mehr auf einer diplomatischen Ebene reagieren werden.

Wie ist die Stimmung in den christlichen Vierteln in Beirut?

Ich wohne in Dekouaneh, einem größtenteils christlichen Viertel in Beirut. Wir haben Angst, dass dieser Krieg auch zu uns nach Hause kommt, in die christlichen Gebiete der Stadt. Nach dem Krieg 2006 haben viele Christen schiitische Flüchtlinge aus dem Süden des Landes aufgenommen. In der Schule hier die Straße runter haben sie Schutz gesucht, so wie jetzt auch wieder. Aber dieser Krieg jetzt ist kein libanesischer Krieg, und trotzdem werden wir zwangsläufig mit hineingezogen. Das ist ein Krieg des iranischen Terrorregimes, den sie auf libanesischem Boden austragen wollen. Benjamin Netanjahu wird in seinem Wahn, die Hisbollah auszuschalten, nicht davor zurückschrecken, auch die Christenviertel anzugreifen. Die Angst vor der Hisbollah und der Amal-Bewegung ist genauso groß wie die Angst vor Israel.

Was ist die Amal-Bewegung?

Die Amal-Bewegung, auch Bewegung der Hoffnung genannt, wurde in den 1970er Jahren von dem schiitischen Geistlichen Musa as-Sadr gegründet und ist seit den 1990er Jahren im libanesischen Parlament vertreten. Sie ist wie die Hisbollah eine schiitische Partei, die vor allem im Süden ihre Anhänger hat. Heute kämpfen die Hisbollah und die Amal-Bewegung Seite an Seite im Süden des Libanons gegen Israel.

Lesetipp: Wer hat die Religion erfunden?

2006 hat die Hisbollah zwei israelische Soldaten entführt, um einen Gefangenenaustausch zu erzwingen. Israel reagierte darauf mit einem schweren Bombenangriff auf den ganzen Libanon. Was hat sich seit damals im Verhältnis von Hisbollah und Christen verändert?

In den Jahren um 2000 standen viele Libanesen noch hinter der Hisbollah, denn sie hat den Süden vor einer israelischen Invasion verteidigt. 2006 griff Israel vor allem die Infrastruktur an, Straßen, Brücken, Flughäfen, Häfen und Fabriken. Heute bombardiert Israel mehrstöckige Wohnhäuser von Zivilisten, in denen nicht nur Hisbollah-Mitglieder leben. Außerdem gibt es unterschiedliche christlich-politische Fraktionen. Die Partei Freie Patriotische Bewegung unter der Führung von Michel Aoun hat die Hisbollah 2006 noch unterstützt. Heute ist das innerhalb der Partei umstritten. Die andere christliche Partei Forces Libanaises unter dem Vorsitzenden Samir Geagea, eine Mitte-rechts-Partei und christliche Miliz, hat die Hisbollah noch nie unterstützt. Die Hisbollah hat über Jahre hinweg langsam die Macht im Libanon an sich gerissen und kontrolliert mittlerweile fast alle Parteien und auch die Zivilbevölkerung.

Nicolas T.

Nicolas T., 34, ist maronitischer Christ und lebt in Beirut. Er ist gelernter Juwelier, verlor während der Wirtschaftskrise seine Arbeit und will nun ein Restaurant mit seinem Bruder in Beirut eröffnen. Die Maroniten bilden die größte und älteste Religionsgemeinschaft im Libanon, sie sind eng mit der katholischen Kirche verbunden. Der Name leitet sich ab von Maron, einem Einsiedler, der im fünften Jahrhundert im Libanon lebte.

Was meinst du mit "Sie kontrollieren die Zivilbevölkerung"? Kannst du mir die Situation in den gemischten Vierteln in Beirut näher erklären?

Hisbollah-Anhänger lassen sich vor allem in Vierteln nieder, in denen die Mieten günstiger sind. Aber hier wohnen auch viele Christen, weil auch sie in der Wirtschaftskrise ihre Arbeit und Geld verloren haben. Gegenüber von meinem Viertel Dekouaneh liegt das Viertel Naba’a. Dort leben Christen und Hisbollah-Anhänger zusammen, jedoch trennt sie eine "Khutut Tamez", eine sogenannte Frontlinie. Jeder hier kennt diesen Ausdruck. In die Straßen, die von der Hisbollah kontrolliert werden, wagen sich Christen nicht hinein, weil fremde Autos, die den Hisbollah-Mitgliedern nicht bekannt sind, sofort auffallen, beobachtet und gegebenenfalls angehalten und befragt werden. Ich kann dort hinein, weil ich Freunde dort habe. Schiiten wohnen seit den 1970er und 1980er Jahren in Naba’a und breiten sich seitdem aus. Sie übernehmen und kontrollieren das Viertel langsam, so wie sie es auch in der Politik tun. Sie stehen an jeder Straßenecke wie Wächter, auch nachts. Sie wissen alles über jeden und kontrollieren und bedrohen diejenigen, die sich zu wehren versuchen. So haben es mir meine Freunde erzählt.

Die Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen eskalierten zuletzt vor drei Jahren. 2020 explodierte der Hafen von Beirut. Während der Ermittlungen danach gab es Demonstrationen der Amal-Bewegung und der Hisbollah in Tayouneh, einem gemischten Christen- und Schiiten-Viertel in Beirut, die in einem Blutbad endeten. Christen, die den Forces Libanaises angehörten, töteten und verletzten einige Schiiten. Könnte es jetzt wieder zu solchen Ausschreitungen kommen?

Im Libanon, besonders in Beirut, geht es immer darum: Welche Konfession darf welche Gebiete beanspruchen. Wir Christen wollen keinen Krieg, wir wollen unser Leben genießen, aber wir wissen auch, wie man sich im Falle eines Angriffs verteidigt. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die ihr ganzes Leben lang für das Überleben der Christen gekämpft hat, gegen Syrer, gegen libanesische Muslime und Palästinenser im Libanon. Ich habe Geschichten von meinem Vater gehört, wie er allein, versteckt in einer Kirche, sein Dorf verteidigte.

Es kann auch gut sein, dass ein Bürgerkrieg ausbricht, denn Konflikte zwischen den verschiedenen Religionen und Gemeinschaften entflammen im Libanon schnell. Sehr viele Menschen hier haben Waffen zu Hause für den Fall eines direkten Angriffs. Die libanesische Geschichte hat gezeigt, dass all diese Religionen und Gemeinschaften nicht unter einen Hut zu bringen sind. Es gibt zu viele kulturelle Unterschiede und Differenzen in politischen Ansichten, die jede Gemeinschaft, wenn nötig, mit Gewalt durchsetzen will. Und der christliche Widerstand existiert seit Jahrzehnten und hat sich bis heute gehalten.

*Nicolas T. heißt eigentlich anders. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt. Er möchte ihn nicht öffentlich nennen aus Angst vor den libanesischen Geheimdiensten.