Rund 110 000 Libanesen sind aus dem Grenzgebiet zu Israel geflohen, wie diese fünffache Mutter
Scott Peterson/Getty Images
Angst vor Krieg im Libanon
"Man lernt, mit den Eskalationen zu leben"
Im Libanon ist die Lage angespannt wie seit Monaten nicht. Karin Uckrow gibt Einblicke in einen Alltag zwischen Angst, Hoffnungslosigkeit und Zuversicht
Lena Uphoff
20.09.2024
4Min

chrismon: Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist die Lage sowieso angespannt. Jetzt hat Israel hunderte Hisbollah-Ziele im Libanon angegriffen. Wie nehmen Sie die Stimmung in Beirut wahr?

Karin Uckrow: Die Anspannung nach dem 7. Oktober war extrem hoch, weil jeder im Libanon wusste, was der Angriff der Hamas für den Libanon bedeuten würde. Aber fast alle gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee finden im Süden des Landes statt, nur vereinzelt kommt es zu Angriffen in anderen Teilen des Libanons. Die Eskalation Anfang August versetzte viele Menschen im Libanon wieder in Angst, so ist es auch jetzt wieder, Unzählige haben das Land verlassen. Fluggesellschaften haben immer wieder ihre Flüge eingestellt, NGOs und Hilfsorganisationen haben ihre Mitarbeiter zurückgerufen.

Das Auswärtige Amt hat deutsche Staatsangehörige aufgerufen, das Land zu verlassen. Sind Sie noch da?

Hilfsorganisationen wie Misereor haben Sicherheitsbeauftragte, die entscheiden, wann das Risiko zu groß wird. Wir hatten Angst davor, dass der Flughafen gesperrt wird und es keine Gelegenheit mehr gibt, auszureisen. In einer solchen Situation muss auch jeder für sich entscheiden: Gehe oder bleibe ich? Unsere Organisationen sagen: Wenn ihr euch unsicher fühlt, dann könnt ihr jederzeit das Land verlassen. Ich war vier Wochen in Deutschland, bin jetzt aber wieder in Beirut.

Der Krieg fühlt sich anders an, wenn man im Land ist. Wir sehen die Situation nicht als so gefährlich an, wie es in den Medien außerhalb des Libanons häufig dargestellt wird. Es gibt trotz des Krieges einen Alltag. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen finden zum großen Teil im Süden des Landes statt und die Angriffe werden meist kontrolliert und begrenzt, sodass die generische Partei nicht zum offenen Krieg herausgefordert wird. Und dennoch gab es gezielte Angriffe gegen hochrangige Führer der Hamas und der Hisbollah in anderen Teilen des Libanons – auch in Beirut.

Karin UckrowPrivat

Karin Uckrow

Karin Uckrow lebt in Beirut und leitet die Dialog- und Verbindungsstelle Nahost bei Misereor. Die Betriebswirtin engagiert sich auch in der deutschen evangelischen Gemeinde zu Beirut.

Bereiten Sie sich auf einen möglichen Krieg vor?

Ich glaube, alle im Libanon sind mental irgendwie darauf vorbereitet. Man hat als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation immer genug Bargeld und die wichtigsten Papiere und Unterlagen liegen bereit. Viele von uns haben einen gepackten Koffer. Die wenigsten von uns rechnen aber wirklich mit einem offenen Krieg, der den gesamten Libanon betreffen würde. Wir gehen davon aus, dass keines der Länder an einer Eskalation interessiert ist. Mit diesem Gefühl leben wir hier und gestalten unseren Alltag.

Wie sieht der Alltag in dieser Krisenzeit aus?

Im Süden des Libanons herrscht seit dem 7. Oktober Krieg. Rund 110.000 Menschen wurden evakuiert oder sind zu ihren Familien in den Norden gefahren. Das sind sehr viele Menschen, deren Alltag sich vollkommen geändert hat. Ihre Kinder gehen nicht mehr zur Schule und sie leben nicht mehr in ihren Häusern. Es gibt auch immer wieder zivile Opfer. Für diejenigen, die im Norden leben, geht der Alltag weiter: Man arbeitet, verbringt seine Freizeit normal, geht tanzen und plant Hochzeiten. Und trotzdem ist der Krieg durch die Nachrichten und die Sozialen Medien immer präsent.

Lesetipp: Ein Überlebender des Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023 berichtet

Der Libanon ist schon seit Ende des Bürgerkriegs 1990 von politischen, wirtschaftlichen und humanitären Krisen geprägt. Was hat sich durch den Krieg in Israel und Gaza verändert?

Die Hoffnungslosigkeit steigt. Es gibt noch immer keinen neuen Präsidenten, der Finanzsektor ist zusammengebrochen, die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch und Fachkräfte wandern ab. Dazu kommt jetzt der Krieg in Israel und Gaza. Die Reaktionen der Libanesen sind sehr unterschiedlich. Viele verlassen das Land und sagen: Es reicht. Andere zucken nur mit den Schultern und sagen: That’s Lebanon. Aber sie haben auch keine Wahl. Ohne finanzielle Mittel und ein Visum kann man das Land nicht verlassen.

Aber die Libanesen sind auch sehr widerstandsfähig. Man passt sich immer wieder an und lernt, mit den Eskalationen und Unwägbarkeiten zu leben.

Welche Projekte führen Sie bei Misereor durch, um den Menschen vor Ort zu helfen?

Ein großer Teil unserer Arbeit sind Bildungsprojekte. Zum Beispiel unterstützen wir Projekte von Partnerorganisationen mit dem Ziel, dass syrische Geflüchtete zur Schule gehen können oder bieten Förderunterricht für Kinder in öffentlichen Schulen an. Wir fördern Ausbildungsprojekte für syrische und irakische Geflüchtete und Libanesen und unterstützen Gesundheitseinrichtungen. Außerdem unterstützen wir Sozialzentren, wo sich vor allem geflüchtete Kinder, Jugendliche und Frauen in einem geschützten Raum austauschen können und psychosoziale Unterstützung bekommen. Alle Projekte beziehen auch vulnerable libanesische Bevölkerungsgruppen mit ein. Es ist uns wichtig, den sozialen Zusammenhalt zwischen Geflüchteten und der lokalen Bevölkerung zu fördern.

Alle unsere Projekte laufen grundsätzlich weiter. Darüber sind wir sehr froh. Aus Sicherheitsgründen kann ich mich allerdings nur im Norden des Libanons und im Großraum Beirut, bewegen und nicht reisen, um Projekte zu besuchen und mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Das ist für mich die einzige Einschränkung. Wenn die Eskalationsgefahr zu groß wurde, haben einige Schulen für ein paar Tage geschlossen. Das ist im Verhältnis betrachtet aber eine wirklich kleine Einschränkung.

Wie blicken Sie auf die nächste Zeit? Haben Sie Hoffnung, dass sich die Lage beruhigt?

Natürlich habe ich Hoffnung. Ich glaube nicht, dass sich der Krieg ausweitet. Aber es sieht auch nicht nach einem baldigen Waffenstillstand aus. Schaut man sich die gesamte Situation in der Region an, wird klar, wie groß die Aufgabe ist, einen langfristigen Frieden zu schaffen und Gaza wieder aufzubauen. Es ist so schwierig. Meine Hoffnung ist, dass es eine charismatische Figur wie Nelson Mandela irgendwann auch für die Region Nahost gibt.