Krieg in Israel und Gaza
Nur Verlierer, auf allen Seiten
Hundert palästinensische Patientinnen und Patienten aus Gaza sitzen im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Ostjerusalem fest. Sie kamen vor dem 7. Oktober. Ein Besuch
Der Eingang des Augusta-Viktoria-Krankenhauses auf dem Ölberg in Ost-Jerusalem
Der Eingang des Auguste-Viktoria-Krankenhauses auf dem Ölberg in Ostjerusalem
Jonas Opperskalski
12.03.2024
6Min

Das Auguste-Viktoria-Krankenhaus liegt auf dem Ölberg in Ostjerusalem. Die Aussicht ist großartig: Auf der einen Seite schaut man über die Dächer der hügeligen Stadt, auf der andere Seite reicht der Blick über die judäische Wüste bis nach Jordanien. Die Luft ist angenehm kühl und es ist sehr ruhig. Die Zimmer sind hell und freundlich, die Ausstattung modern. "Wir bekommen hier alles, was wir brauchen", sagt Jamal Olwan und fängt an zu schwärmen: Die Behandlung sei optimal, das Personal so freundlich, das Essen gut. Doch genießen können er und sein Bruder Fayek das alles nicht. Die beiden stammen aus einem Dorf im Gazastreifen und sind seit dem 3. Oktober hier oben untergebracht. Fayek Olwan, 65, hat Krebs und eine Chemotherapie und zwei Operationen hinter sich. Er ist erschöpft und kann beim Sprechen nur mühsam den Kopf heben. Sein Bruder Jamal ist als Begleitperson mitgekommen.

Die beiden dachten, sie würden nur ein paar Wochen in Jerusalem bleiben und sind mit leichtem Gepäck angereist. Doch dann hat die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfallen, und nun sitzen die Brüder schon seit über fünf Monaten hier oben fest. Zur Sorge um die eigene Gesundheit ist die Sorge um die Verwandten und Freunde in Gaza gekommen. Sind noch alle am Leben? Wie geht es ihnen? Ihre Häuser sind zerstört, Hab und Gut verloren. Jamal Olwan beginnt zu weinen und es dauert eine Zeit, bis er wieder sprechen kann. Dann sagt er: "Wenn ich wieder zurück bin, baue ich unser Haus wieder auf." Der schwer kranke Bruder sagt dazu nichts.

Das Auguste-Viktoria-Krankenhaus (AVH) auf dem Ölberg in Ostjerusalem wird vom Lutherischen Weltbund getragen und ist die einzige Klinik, in der die etwa 5,5 Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland Strahlentherapie bekommen können, wenn sie an Krebs erkrankt sind. Als einziges palästinensisches Krankenhaus verfügt das AVH zudem über eine Kinderdialysestation. Vor dem 7. Oktober kamen sehr viele Patientinnen und Patienten aus dem Gazastreifen.

Seit dem 7. Oktober dürfen keine Kranken mehr von dort kommen, und die rund 100 Personen aus dem Gazastreifen, die schon vor Beginn des Krieges in das Krankenhaus nach Ostjerusalem gebracht worden sind, können jetzt auch nicht mehr in ihre Heimat zurück. Wann sich das ändert, ist völlig offen.

Die Begleitpersonen der Patienten hat das Krankenhaus in Hotels in der Nähe des Krankenhaues untergebracht. Tagsüber sind sie bei den Kranken in der Klinik, denn es sei ist hier durchaus üblich, dass Patienten von ihren Angehörigen unterstützt werden, etwa beim Essen oder bei der Pflege, sagt Sieglinde Weinbrenner, die Beauftragte des Lutherischen Weltbundes in Jerusalem, die auch für die Klinik zuständig ist.

Wijdan Froukh, 29 Jahre alt und Palästinenserin, arbeitet als Sozialarbeiterin im Krankenhaus und erlebt jeden Tag, wie schwer es die Patientinnen und Patienten aus dem Gazastreifen und ihre Angehörigen gerade haben. "Sie kämpfen nicht nur gegen die Krankheit, sie haben oftmals auch Familienangehörige oder ihre Häuser verloren." Bei einigen Patienten sei zur Krebserkrankung jetzt eine Depression hinzugekommen, sagt Froukh. Das Krankenhaus bietet deshalb nun eine psychosoziale Betreuung in Gruppentherapien an. In der Gruppe können die Patienten Sorgen und Ängste teilen. "Viele befürchten zum Beispiel, dass ihnen ihre Angehörigen in Gaza aus Rücksicht auf ihre Krankheit nicht alles erzählen", so Wijdan Froukh. Die junge Frau wirkt sehr traurig, als sie ergänzt: "Das ist alles schwer auszuhalten. Seit dem 7. Oktober gibt es nur Verlierer, auf allen Seiten."

Lesen Sie hier, wie ein junger Israeli den Angriff der Hamas am 7. Oktober überlebt hat.

Das Sozialarbeiterteam kümmert sich auch um praktische Dinge, besorgte für die Menschen aus dem Gazastreifen zum Beispiel Winterkleidung und versucht, mit Klinik-Clowns, Bastelkursen für die Kinder oder Filmabenden für die Erwachsenen ein bisschen Ablenkung zu bieten. Der achtjährige Ali wollte gerade raus zum Fußballspielen, als die Journalistin und der Fotograf in der Kinderstation anklopfen. Dass er nun ein paar Minuten warten soll, passt ihm nicht so richtig, und er dreht sich demonstrativ zur Seite. Er ist seit dem 13. September mit seiner Mutter Mai Jneineh hier. Die beiden stammen aus Gaza-Stadt, Ali ist an Leukämie erkrankt. "Ali macht gute Fortschritte", erzählt die Mutter. Es sehe gut aus, dass er wieder ganz gesund wird. Dennoch sei sie voller Sorge: "Es ist sehr schwer. Ali ist hier, und drei andere Kinder musste ich in Gaza zurücklassen." Sie zeigt ein Foto ihrer Tochter: ein lächelndes Mädchen mit langen Haaren.

Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern sei sie täglich über Whatsapp in Kontakt. Die Familie sei nach Rafah im Süden des Gazastreifens geflohen, sie hoffe so sehr, dass sie und alle anderen Familienmitglieder den Krieg überleben. "Meine Kinder vermissen mich sehr. Denn die Liebe einer Mutter ist doch anders als die eines Vaters", sagt sie noch. Dann darf Ali endlich raus zum Fußballspielen.

Vor dem Krieg seien jährlich rund 5000 bis 7000 Menschen aus den palästinensischen Gebieten im AVH behandelt worden, sagt der Chefarzt Fadi Atrash, auch er ist Palästinenser. Momentan dürften Patienten aus dem Westjordanland nur mit einer medizinischen Ausnahmegenehmigung kommen und niemand mehr aus Gaza - eine schwierige Situation auch für die Koordination im Krankenhaus. Fadi Atrash ist Radiologe und hat seine Facharztausbildung im israelischen Haifa abgeschlossen. Vor dem 7. Oktober sei die Zusammenarbeit mit den israelischen Behörden gut gewesen.

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