"Mein Sohn ist vor einem Jahr auf dem Schlachtfeld verschwunden. Sie sagen mir, dass er wahrscheinlich durch eine Minenexplosion gestorben ist und in Stücke gerissen wurde. In den ersten Monaten wollte ich Selbstmord begehen, weil ich nicht genau wusste , was mit ihm passiert ist und wo sich sein Körper jetzt befindet. Ich konnte nichts tun, nicht einmal Anrufe entgegennehmen. Eine Todesdoula hat mir geholfen, mit dieser Hölle klarzukommen", erzählt die Ukrainerin Irina.
Der Krieg zerstörte die gewohnte Lebensweise der Ukrainer – unabhängig von Alter, Geschlecht und Beruf. Die Zahl der täglichen Todesfälle ist immer noch groß. Das Gefühl der Sicherheit ist verschwunden.
In Friedenszeiten denkt ein Mensch nicht jeden Tag an den Tod und das ist absolut normal. Das tägliche Nachdenken über den Tod kann zu akuter Neurose, völliger Demotivation oder schwerer Depression führen. Wenn sich ein Land jedoch im Krieg befindet, müssen seine Bewohner jeden Tag an das Schlimmste denken.
"Neben meinem Kissen im Bett liegt immer eine Pfeife", sagt die 25-jährige Yana aus Odessa. "Wenn nachts eine Bombe ins Haus einschlägt und ich mich unter den Trümmern befinde, kann das mein Leben retten: Die Retter hören die Pfeife und können mich finden. Wenn ich überleben will, muss ich auf den möglichen Tod vorbereitet sein."
Das Bedürfnis, ständig über den Tod nachzudenken und sich ihm zu stellen, beeinflusste die Entwicklung des Berufs der Todesdoula in der Ukraine. Vor drei Jahren hatten nur wenige Menschen davon gehört. Heute wenden sich immer mehr Ukrainer den Todesdoulas zu.
Der Beruf der Todesdoulas entstand in den 2000er Jahren. Die Pioniere waren Ärzte und Freiwillige, die in Krankenhäusern arbeiteten. Der Sozialarbeiter Henry Fersko-Weiss sah seine Freundin als Geburtsdoula arbeiten und beschloss, ihren Ansatz auf die Arbeit mit sterbenden Menschen anzuwenden. Fersko-Weiss gründete später die International Association of Death Doulas, wo man sich weiterbilden und viele nützliche Informationen finden kann.
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Heutzutage erlernen die zukünftigen Todesdoulas nicht nur klinische und psychologische Praktiken, sondern erklären auch, wie die technischen und logistischen Probleme im Zusammenhang mit dem Tod gelöst werden können: eine Beerdigung organisieren, ein Testament verfassen, den Besitzstand des Verstorbenen auflösen und einen Sarg kaufen. Wenn ein Mensch dazu am Ende seines Lebens nicht mehr in der Lage ist oder seine Familie aus Trauer keine Haushaltsangelegenheiten erledigen kann, springen die Todesdoulas ein.
Traditionell bieten Todesdoulas folgenden Dienste an:
- Sterbebegleitung: wenn Menschen unheilbar erkrankt sind oder aus anderen Gründen im Sterben liegen und Unterstützung benötigen
- (bevorstehender) Tod eines geliebten Menschen: wenn Unterstützung zur Vorbereitung auf den Tod/die Beerdigung benötigt wird
- Trauerbegleitung nach dem Tod eines geliebten Menschen: egal, ob es der Tag nach dem Tod ist oder ein Verlust bereits 10 Jahre zurückliegt
- Unterstützung bei perinatalen Verlusten (Fehlgeburt, erfolglose In-Vitro-Fertilisation, Totgeburt, Abtreibung)
Der Unterschied zwischen Todesdoulas und Psychologen besteht darin, dass sie nicht versuchen, etwas im Leben eines Menschen zu ändern, und nicht mit Traumata arbeiten. Todesdoulas helfen nur, eine schwierige Zeit im Leben zu überstehen, auch praktisch. Und in einem Land, in dem Krieg herrscht, kommt diesem Beruf automatisch eine besondere Rolle zu.
"Als Todesdoula in einem Land zu arbeiten, in dem Krieg herrscht, ist eine einzigartige Herausforderung", sagt Katya, die seit sechs Jahren als Todesdoula in der Ukraine arbeitet. "Schließlich sind wir nicht nur mit dem Tod an sich, sondern auch mit dem gewaltsamen Tod konfrontiert. Oft ist das auch der Tod unschuldiger Kinder. Ein gewaltsamer Tod ist gegen die Natur und verursacht daher mehr Emotionen und Verzweiflung. Es ist schwieriger, damit umzugehen, aber notwendig. Andernfalls beginnt die Gesellschaft, sich vor überwältigender Trauer selbst zu zerstören."
Wenn es in einem Land Krieg gibt, ist jeder Einwohner in Gefahr. Daher helfen Todesdoulas in der Ukraine den Menschen, mit dem plötzlichen Tod durch Beschuss zu Hause, im Supermarkt oder auf der Straße umzugehen.
"Wir bringen den Menschen nicht bei, wie man ein Feuer oder einen Schusswechsel überlebt. Wir helfen den Menschen, mit ihren Gefühlen umzugehen, wenn dies einer nahestehenden Person passiert ist", erklärt Todesdoula Katya. "Die Ukrainer sind traumatisiert von der hohen Sterblichkeitsrate im Land und der schwierigen häuslichen und wirtschaftlichen Situation. Oftmals brauchen sie einfach jemanden in der Nähe, der emotional nicht involviert und in der Lage ist, kritisch zu denken, wenn ein geliebter Mensch stirbt."
Eine Doula muss ihre eigene, imaginäre Beerdigung planen
Eine Todesdoula beginnt ihre Ausbildung mit der Erforschung ihrer eigenen Sterblichkeit. Eine der Trainingsaufgaben besteht darin, sich vorzustellen, dass man noch drei Monate zu leben hat, dies in einem Rollenspiel mit dem Klassenkameraden zu besprechen und einen Sterbeplan zu erstellen. Beispielsweise muss eine zukünftige Doula ihre eigene, wenn auch imaginäre Beerdigung planen. Die Sterbedoula wird ihren Klienten dabei helfen, einen ähnlich Plan für die eigene Zukunft auszuarbeiten.
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Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch, die Erinnerungen an die Verstorbenen zu bewahren: Fotos, Erfolge, Lebensweg und Lehren einer Person. Eine Todesdoula kann dabei helfen, dies aufrechtzuerhalten, denn oft sind Menschen nach dem Tod eines geliebten Menschen nicht in der Lage, konstruktive Maßnahmen zu ergreifen und verpassen viele wichtige Dinge.
In einem Land, in dem Menschen auch auf dem Schlachtfeld gewaltsam sterben, hat die Erinnerung an diese Menschen einen hohen Wert. Denn das Leben jedes einzelnen Menschen wird so besonders wichtig und wertvoll. Jeder, von einem Aggressorland getötete Mensch, wird für immer Teil der Geschichte der Ukraine. Und die Geschichte des Landes ist die Grundlage für die Selbstidentifikation der Nation. Genau dafür kämpfen die Ukrainer.