Kurzfristige Erregung im Journalismus
Klicken Sie diesen Artikel – nicht!
Die Schlagzeilen von heute sind grell und verführerisch. Sie locken mit aufgeregter Empörung und untergraben den Qualitätsjournalismus. Was Medienkonsumenten dagegen tun können
Cursor Hand auf orangenem Hintergrund gepixelt
Sean Gladwell / Getty Images
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
20.09.2024
3Min

Die Medien berichten über alles und kommentieren sehr gern. Nur wenn es um sie selbst geht, tritt Schweigen ein (außer, es gibt Probleme bei der Konkurrenz). Deshalb liest man fast nichts darüber, wie sie heute arbeiten und funktionieren oder auch nicht. Wie absurd es mitten in der digitalen Transformation gelegentlich zugeht, davon erzählt die folgende unerhörte Begebenheit. Klicken Sie jetzt! Aber nur, wenn Sie wissen, was Sie damit anrichten.

Leider kennt man auch die Medien nur aus den Medien. Das ergibt ein unvollständiges Bild. Deshalb lohnt es sich, bei Journalisten nachzufragen, wie es ihnen geht und wie ihre Arbeit sich verändert hat. Was man hört, zeugt von einem radikalen Machtwechsel: Online hat gewonnen, Print darf die Reste zusammenkehren. Eine normale Redaktionssitzung beginnt deshalb damit, dass die Klickzahlen ausgerufen werden. Es ist simpel: Je höher, desto besser – egal, wie es um die journalistische Substanz steht. Daraus folgt: Geschichten mit hohen Klickzahlen werden weitergedreht – egal, ob es etwas Neues gibt.

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Deshalb geraten heute die Schlagzeilen so grell und verführerisch. Sie locken mit Aufregung, Empörung, Gier nach Neuem. Das war früher nicht völlig anders, hat aber eine ganz andere Dynamik angenommen und führt zu einer qualitativen und thematischen Verarmung: Trump, Mockridge, AfD, Rammstein. Und es führt zu einer weiteren Entmachtung der Redakteure. Man braucht sie eigentlich nicht mehr, wenn doch die Klickzahlen die Inhalte bestimmen; sie liefern nur noch Content, den Rest erledigt die Maschine.

Nun die versprochene lustige Geschichte.

Erlebt hat sie Edgar S. Hasse, ein sehr erfahrener und qualitätsbewusster Journalist (und Theologe) beim Hamburger Abendblatt. Am 10. Juni veröffentlichte er einen Artikel, der überwältigend oft geklickt wurde. Ursache dafür war die Überschrift, die er erhalten hatte: "Mutter mit 16 und jetzt sind es schon neun Kinder". Das wollten sehr viele Menschen lesen.

Gern hätte ich einige der Gesichter gesehen, die nach ihrem Klick eine ausgeruhte, sauber recherchierte, ebenso sensible wie nachdenkliche Sozialreportage über eine junge Frau zu lesen bekamen, die in verschiedenen Pflegefamilien aufwuchs, als Teenager ein Kind bekam, eine Ausbildung machte, heiratete und nun mit ihrem Mann Pflegekinder aufnimmt. Bis jetzt sind es acht Kinder, aber nicht zeitgleich, sondern nacheinander – eine beeindruckende, aber keineswegs erregungsträchtige Geschichte. Inzwischen wurde die Schlagzeile abgemildert zu: "Elisa wurde mit 16 Mama – und gibt Kindern ein Zuhause auf Zeit" und führt ganz unaufgeregt zu einem Stück Qualitätsjournalismus, den es heute immer noch gibt, wenn auch unter erschwerten Bedingungen.

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Und was ist die Moral von der Geschicht‘? Ich will mir vornehmen, in Zukunft vorher darüber nachzudenken, welche Schlagzeile ich anklicke. Was bloß einen schnellen Anstieg meiner inneren Erregungskurven verspricht, will ich übergehen und stattdessen nur noch sinnvoll Erscheinendes auswählen. Mein Klickverhalten macht natürlich überhaupt keinen Unterschied. Aber wenn überall von der Verantwortung mündiger Kunden die Rede ist, warum nicht auch beim Nachrichtenkonsum? Wenn viele Menschen es ähnlich hielten, könnte das nicht langfristig zu einem besseren Online-Journalismus führen? Man wird ja noch träumen dürfen.

P.S.: In dieser Woche habe ich in der Süddeutschen Zeitung eine theologische Buchbesprechung veröffentlicht. Die Redaktion hat ihr eine ziemlich knallige Überschrift verpasst. Jetzt bin gespannt, zu welch astronomischen Klickzahlen das führen wird.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur