Muslimin ­gedenkt Opfer der Schoah
Muslimin ­gedenkt Opfer der Schoah
Imago, Thomas F. Starke
Muslimin ­gedenkt Opfer der Schoah
Auf einer Gedenk­veranstaltung zur Schoah sieht Namé Ayaz-Gür keine anderen Muslime. Das soll nicht so bleiben, beschließt sie.
Ruthe Zuntz
09.03.2021

chrismon: Wie kamen Sie dazu, sich gegen Antisemitismus zu engagieren?

Namé Ayaz-Gür: Ein Freund meines Mannes lud mich 2014 zum jährlichen Gedenken an die Schoah ein. Meine erste Reaktion war: Der Holocaust hat mit mir nichts zu tun. Ich gehöre weder zur Opfer- noch zur Täterseite. Ich wollte aber den Historiker, der die Trauerkundgebung organisierte, nicht ver­letzen und ging hin. Dort sah ich: Keine einzige muslimische Insti­tution war vertreten, obwohl die Stadt Bielefeld Vertreter von Moschee- und anderen muslimischen Vereinen eingeladen hatte. 

Namé Ayaz-GürImago, Thomas F. Starke

Namé Ayaz-Gür

Namé Ayaz-Gür, 49, gründete Anfang 2020 die Bielefelder Initiative gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Dafür bekam sie den Integrationspreis der Stadt Bielefeld. Die zweifache Mutter und gläubige Muslimin aus Bielefeld wurde in Deutschland geboren und wuchs in der Türkei auf.
Ruthe Zuntz

Igal Avidan

Igal Avidan, geboren 1962 in Tel Aviv, studierte englische Literatur und Informatik in Ramat Gan sowie Politikwissenschaft in Berlin. Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Journalist u. a. für verschiedene israelische Zeitungen und den Deutschlandfunk. Sein neues Buch "'… und es wurde Licht!' Jüdisch-arabisches Zusammenleben in Israel" erschien 2023 (Berenberg-Verlag).

Was weckte Ihr Interesse am Thema Judenverfolgung?

Ich las die Biografie von Primo ­Levi, des jüdischen Schriftstellers und Überlebenden des KZ Auschwitz. Ein Satz ließ mich nicht los: "Es ist einmal geschehen, und folglich kann es wieder geschehen." Im Rahmen meines Studiums auf Lehramt schrieb ich dann eine Bachelorarbeit über das Thema Holocaust in der Grundschule.

Sie sind nach der Lektüre von Primo Levi in die Synagoge gegangen. Hatten Sie Berührungsängste?

Ein Gotteshaus ist für mich ein Gotteshaus. Da habe ich kein ­Problem.

Wie wurden Sie dort empfangen?

Ich wurde angestarrt, weil ich die einzige Frau mit einem Kopftuch war. Dieses Anstarren stört mich mittlerweile nicht mehr. Am ­Anfang war man auf jüdischer ­Seite sehr skeptisch. Aber mit der Zeit haben sie gesehen, dass ich das ernst meine.

Sehen Sie Parallelen zwischen Judenhass und Islamophobie?

Das kann man nicht direkt mit­einander vergleichen. Ohne den Holocaust zu relativieren: Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit mit der Vorgeschichte. In der NS-Zeit galten Juden als "der innere Feind" und als eine Bedrohung. Heute werden wir als Bedrohung gesehen. 

Was für Reaktionen bekommen Sie von muslimischer Seite?

Man riet mir zum Beispiel, mich mit den Palästinensern zu beschäftigen, die von den Israelis – so wörtlich – angeblich "abgeschlachtet" würden. Ich wurde mehrmals gefragt, ob ich vom israelischen Geheimdienst Mossad bezahlt werde.

Und was antworten Sie?

Dass ich leider niemanden vom Mossad kenne und dass niemand von denen meine Bankverbindung haben wollte (lacht).

Was gibt Ihnen die Kraft für Ihr Engagement?

Mein Glaube. Mein Prophet hat mir gesagt, wenn irgendwas schief ist und ich das ändern kann, dann soll ich versuchen, das zu tun. Ich möchte Menschen aufklären, damit der Holocaust nicht vergessen wird. Als muslimische Frau und Mutter ist es meine Aufgabe, weil ich hier in Deutschland lebe.

Infobox

Im November 2020 erinnerte die Bielefelder Initiative gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit (BIgAI) an das Novemberpogrom von 1938 und die Deportation von Bielefelder Juden nach Buchenwald am 12. November 1938. Die Gedenkstunde ist auf Youtube dokumentiert. 

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