Lothars Wohnung vorher und nachher
Lothar hat lange in dieser Wohnung ­gelebt. Sein Schwiegersohn Christoph Schieder hat sie fotografiert. Mit Lothar (links) - und nach Lothar
Christoph Schieder
Vorher, nachher
Lothar ist gestorben, seine Möbel sind weg. Bei seinen Kindern oder beim Entrümpler, bald sind es die Sachen anderer Menschen. Die Bilder erinnern chrismon-Autor Rainer Moritz an den Tod seines eigenen Vaters – und an den Gang der Dinge
Gunter Glücklich
25.11.2015

Als ich elf Jahre alt war, zogen wir um, in eine „bessere“ Gegend, in ein Haus mit weniger „Parteien“ und einer Terrasse für uns. In der neuen Wohnung bin ich erwachsen geworden. Das Jugendzimmer im dritten Stock – ab vom Schuss, nicht im Einzugsbereich der Eltern, was für ein Glück! – hat sich kaum verändert.

###autor###Nachdem ich zum Studium fortgezogen war, nahm es meine Schwester in Beschlag. Ein ­Mobile, ein bunt bemalter Gartenstuhl, ange­fertigt als Präsent zu ihrem Abitur, ein paar Jungmädchenbücher – manches hat bis heute seinen Platz behalten, und in einem Schrank, dessen Furnier an den Ecken abgesprungen ist, lagert eine Handvoll Langspielplatten aus den 1970er Jahren, stolz getätigte Taschengeldeinkäufe, von denen Elektro Weber, der Fachhändler am Ort, profitierte.

Das Geschäft existiert nicht mehr, die dort gekauften LPs schon: Bernd Clüvers „Der Junge mit der Mundharmonika“ und Lobos „Of a Simple Man“. Abspielen werde ich sie wahrscheinlich nie mehr...

Seit 1969 wohnten wir in diesem Haus, in dieser Wohnung. Meine Geschwister und ich leben längst anderswo. Im Frühjahr 2015 starb mein Vater, am 12. Februar, kurz nachdem wir seinen neunundachtzigsten Geburtstag gefeiert hatten.

Die Welt schmolz auf die Dimension seiner Wohnung

Friedlich eingeschlafen ist er, am helllichten Nach­mittag, im Bett. Friedlich eingeschlafen, wie man das so sagt und damit meist den Wunsch verbindet, dass einen selbst der Tod genau so ereilen möge. Mit nicht auszuhaltenden Schmerzen, mit Zorn, mit Hass im Gesicht will niemand gehen.

###mehr-galerien###In den letzten Jahren seines Lebens konnte mein Vater das Haus kaum noch verlassen. Seine Sehkraft hatte er zu weiten Teilen eingebüßt; zaghaften Schrittes ertastete er sich seinen Weg, halbwegs sicher nur, wenn er sich auf vertrautem Terrain bewegte, in unserer Wohnung. Wenn er einen Arzttermin hatte oder wenn wir alle paar Monate ein Restaurant aufsuchten, um einen Geburtstag zu begehen, fühlte er sich unwohl, sträubte sich sein Körper dagegen, sich auf Fremdes einzulassen. Er, der als junger Mann Feldhandball gespielt und als Vater im Sommerurlaub keine Almhütte und keinen Berggipfel links liegengelassen hatte, bezog nun wohl oder übel ein Schneckenhaus, das Verlässlichkeit bot.

Fünfundvierzig Jahre lang lebte er in dieser Wohnung, sie war sein Ruhepunkt, aber vor allem auch der Ort, von dem aus er in die Welt aufbrach, tagtäglich ins Büro, gelegentlich zum Besuch der Kinder und selten zu großen Reisen nach Italien und in die USA, nach Colorado und Kalifornien. Von diesen Expeditionen ins Ungewohnte erzählte er immer wieder, ohne wehmütig zu werden und darüber zu klagen, dass er am Ende nicht einmal mehr in der Lage war, die wenigen Hundert Meter zum nächsten Park zurückzulegen.

Die Welt schmolz auf die Dimension seiner Wohnung zusammen; sein Leben reduzierte sich von Jahr zu Jahr. Da meine Mutter ihn bis zuletzt versorgte, blieb es ihm erspart, in ein Heim zu ziehen, seine vier Wände in der gewohnten Gegend zu verlassen.

Sessel und Stuhl - das gehörte zu meinem Vater

Was waren, fragte ich mich, die Gegenstände, an denen sich mein Vater zuletzt festhielt, die ihm ein Urvertrauen schenkten bei aller seinen Körper ereilenden Schwäche? Auch für ihn, der unsicher auf seinen mager gewordenen Beinen stand, boten die Sitzgelegenheiten verlässliche Stützpunkte.

Sein Sessel zum Beispiel inmitten einer – wie man früher sagte – Wohnzimmer­garnitur, die Jahrzehnte gelebten Lebens aufgesogen hat. Die dunkelbraune Farbe der Armlehnen bleichte nach und nach aus, dort, wo Vater Platz nahm, wenn er Radio hörte – am Samstagnachmittag die Fußballberichterstattung des Bayerischen Rundfunks – oder wenn er seinen Mittagsschlaf genoss, in sich gekehrt auf die Schrankwand blickte und jeden Abend fernsah, obwohl er trotz Spezialbrille nicht allzu viel davon mitbekam.

Und sein Stuhl im Esszimmer, jener Bauernstube, auf die er als gebürtiger Bayer stolz war, sein Stuhl am Tischende, der ihn als Familienoberhaupt auswies, inmitten von Zinnkrügen, handbemalten Wandtellern und Wagenrädern.

Der Sessel, der Stuhl – sie sind geblieben nach Vaters Tod, und sie werden bleiben, solange meine Mutter in dieser Wohnung leben wird. Sie gehören zu meinem Vater, zu seinem Körper. Wenn ich ihn urplötzlich vor mir sehe und nicht bewusst die Bilder der Kindheit heraufbeschwöre, dann sehe ich ihn in seinem Sessel, wie er zur Begrüßung nach meinem Arm griff, oder im Esszimmerstuhl, wenn er ängstlich darauf bedacht war, seine Würde nicht zu verlieren, und die Hilfe meiner Mutter mitunter brüsk zurückwies. Nein, das kann ich sehr gut allein. Hilflos wollte er nicht wirken. Eine Selbsttäuschung, die ihm nicht entging und an der er dennoch festhielt.

Heute meide ich seine Sitzmöbel 

Sein Selbstbild von einem tatkräftigen Mann, der stolz auf seine Kinder war und der es im Leben zu etwas gebracht hatte, wollte er als gebrechlicher Mann nicht vollends aufgeben. Nie hätte er sich außerhalb seiner Wohnung Schwächen zugestanden, nie hätte er diese vor allen Leuten gezeigt, und nie hätte er es über sich gebracht, mit Nordic-Walking-Stöcken oder gar einem Rollator auf die Straße zu gehen. Dieses Bild wollte er niemandem zumuten, sich selbst am wenigsten.

Wenn ich heute meine Mutter besuche, halte ich kurz inne, wo immer mich etwas an Vater erinnert, wo die Gegenstände – ein Schnapsglas, ein Wäschekorb, ein Rasierapparat – von ihm erzählen. Das hat Vati immer so gern gegessen, sagt meine Mutter, wenn sie davon erzählt, was sie, die viele Jahre daran gewöhnt war, eine Familie satt zu be­kommen, nun unwillig für ihren Einpersonenhaushalt an Lebensmitteln einzukaufen hat.

Das hat Vati immer so gern gegessen: Maultaschensuppe, Flammkuchen, breite Nudeln mit Rindsrouladen, Nürnberger Stadtwurst... Wenn ich heute meine Mutter besuche, mache ich mich auf allen Stühlen, Sofas und in allen Sesseln breit – nur nicht auf Vaters Stamm­plätzen. Der Sessel im Wohnzimmer, der Stuhl im Esszimmer – ich meide sie, ich berühre sie beiläufig, ich betrachte sie, doch ich benutze sie nicht.

Als gälte es, ihnen und ihm nach dem Tod Respekt zu erweisen, als ließe er sich dadurch zurückholen, dass sein Sessel und sein Stuhl frei bleiben. Wann wird sich das ändern? ­Werden sie einmal ihre Aura verlieren? Wird Vaters Geist sie verlassen? Was werden sie dann sein in meinen Augen, der Sessel, der Stuhl? So speichern die Gegenstände das Leben ihrer Besitzer.

Noch ist es Vaters Bild, aber in 20 Jahren?

Das meiste von dem, was uns seit langem umgibt, spricht nur zu denjenigen, die damit groß oder alt geworden sind. Dem fremden Betrachter sagt dieser Lebensraum wenig, den Verwandten und Freunden schon mehr, Menschen, die die Geschichten dazu kennen, selbst etwas beizutragen haben. Vieles in unseren Wohnungen trägt untergründig unsere Vergangenheiten in sich, vieles erinnert an unser früheres Leben. Weil wir wissen, wo wir den heute so abgetreten aussehenden Teppich kauften, wie lange wir darauf gespart hatten. Oder was es mit den Gardinen auf sich hat, deren Muster aus einer lange zurückliegenden Epoche zu stammen scheint.

Lothars Wohnung

###drp|5gpQB_gGIjUqb93f1MEolAYZ00130006|i-45||###

Die Fotos von Christoph Schieder und der (gekürzte) Text von Rainer Moritz stammen aus dem Buch „Lothars Wohnung. Was bleibt, wenn wir gehen“ – jetzt erschienen in der edition chrismon (erhältlich über die Hotline 0800 / 247 47 66 oder unter www.chrismonshop.de).

Die Fotos sind noch bis zum 10. Januar in Berlin in der Galerie im Tempelhof Museum ausgestellt.

„Pferde im Gewitter“ heißt ein Gemälde des pommerschen Malers Alfred Roloff. Es zeigt sich ängstlich aneinander drängende schwer­gewichtige Pferde, die hinaufblicken zu schwarzen Gewitterwolken. Als junger Mann hat mein Vater dieses Bild nach einer Postkarte kopiert. Seitdem ich denken kann, hängt es über unserer Wohnzimmercouch. Was mögen Gäste, die zum ersten Mal zu uns kamen, gedacht haben, als sie es erblickten? Kein Meisterwerk der Kunstgeschichte gewiss, doch auch keine geschmacklose Idylle eines Spitzweg-Epigonen, kein Sonnen­untergang, kein Hirsch am Waldrand. „Pferde im Gewitter“, das war Vaters Bild, ein Teil von ihm, aus der Zeit, als er noch malte. Es ist Vaters Bild, noch. Wo wird es in zwanzig Jahren sein?

Ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Mannes fühlte sich meine Mutter stark genug, seine Kleider und Wäsche zu begutachten. Mehr als einen halben Schrank habe ich nicht geschafft, beschied sie mir. Bei jedem Kleidungsstück wusste sie zu sagen, wo und wann es gekauft worden war. Und dass Vater diese helle Windjacke besonders mochte. Die würde mir sicher passen... ob ich nicht... Ja, sagte ich mit halber Überzeugung, die steht mir sicher. Beim nächs­ten Mal werde ich sie in meinen Koffer packen, und ich werde sie anziehen oder wenigstens in meinen Schrank hängen, als ein Stück aus Vaters Leben.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.