Stefan Moes mit Schwiegermutter Margarete
Foto: Sophie Kirchner
Trauerrede für Margarete
"Ich glaub, ich sterbe. Aber", fügte sie mit fester Stimme hinzu: "Ich will noch nicht." Margarete wurde von Schwiegersohn Stefan Moes zuhause in der Dreieinhalbzimmerwohnung versorgt. Jetzt ist sie gestorben. Der Schwiegersohn hat eine anrührende Trauerrede gehalten, die Sie hier lesen können.
09.06.2015

Margarete hat sich bis zuletzt gegen den Tod gewehrt. Am 27. April spürte sie zum ersten Mal, dass es zu Ende ging. Da hatte sie schon seit sechsundvierzig Tagen so gut wie nicht mehr gegessen. Mit schwacher Stimme sagte sie: „Ich glaub, ich sterbe.“ „Aber“, fügte sie mit fester Stimme hinzu: "Ich will noch nicht.“

Leben mit Margarete

Im August 2014 hat Stefan Moes für chrismon aufgeschrieben, wie es ist, die Schwiegermutter ohne Kurzzeitgedächtnis bei sich zuhause aufzunehmen und zu pflegen. Er erzählt von diesem Ausnahmezustand, der besonderen Respekt erfordert, von Intimsphäre und Schamgrenze. Und den vielen herzlichen, bewegenden Momenten mit Schwiegermutter Margarete. Hier den ganzen Text "Zu dritt in der Ehewohnung" nachlesen

Schon ein paar Tage zuvor hatte sie gesagt, sie wolle nicht sterben, sondern noch bei A. [ihrer Tochter - Anmerkung der Redaktion] bleiben. Ich fragte, wie sie sich das vorstelle. Margarete antwortete: „Man soll sich über ungelegte Eier keine Kopfschmerzen machen.“

Margarete und Sterben: Das schien kein Thema zu sein.

In den ersten Jahren, in denen sie bei uns wohnte, sagte sie: „Ich sitze in der ersten Reihe. Aber ich drängele nicht.“ Da war sie 93, 94 Jahre alt.

Erst am Ende ihres Lebens zeigte sich, wie stark der frühe Verlust ihrer Eltern Margarete geprägt hatte. Und wie tief eine Erfahrung saß, die sie als Fünfjährige gemacht hatte. Damals wäre Margarete fast gestorben.

Ihr Vater fiel im Oktober 1914 an der russischen Front. Da war Margarete drei. Das war schon schlimm. Ohne den Vater verarmte die Familie.

In den Notjahren des Ersten Weltkriegs muss es der Mutter mit den vier Kindern sehr schlecht gegangen sein. Margarete war unterernährt.

Erst kurz vor ihrem Tod erzählte Margarete ausführlich, wie sie als fünfjähriges Mädchen fast an Masern gestorben wäre.

Sie war – im dritten Kriegsjahr 1916 – wegen Unterernährung in ein Erholungslager gekommen. Dort hatte sie so starke Sehnsucht nach ihrer Mutter, dass sie das Essen verweigerte.

Sie verlor sogar noch Gewicht und besaß kaum noch Widerstandskraft, als sie an Masern erkrankte. Schon fast ohnmächtig hörte sie, wie jemand sagte: „Sie wird sterben“. Das mobilisierte ihren Willen zu leben: „Jetzt erst recht nicht“, sagte sie sich immer wieder vor – und überlebte.

Als Zehnjährige erlebte sie ihre größte Lebenskatastrophe: Ihre Mutter starb.

Wie schrecklich das für Margarete war, können wir nur ahnen. Etwas Schlimmeres könne ihr nicht mehr passieren. Mit diesem Gefühl lebte sie von da an, so hat sie es unserer Freundin Birgit erzählt.

Kurz vor ihrem Tod erzählte sie mir noch einmal, sie habe Rotz und Wasser geheult, als sie nach dem Tod ihrer Mutter nach Braunschweig umziehen musste. Dort übernahm eine Tante die Erziehung der vier Waisenkinder. Eine harte Frau, gegen die sich Margarete behaupten musste. Auch diese Erfahrung stärkte ihren Willen.

Ich habe Margarete vor rund zwanzig Jahren kennen gelernt. Sie kam regelmäßig aus Bremen zum Samstagsfrühstück bei ihrer Tochter . Margarete und ich verstanden uns von Anfang an.

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Wir waren zusammen im Kino, kauften gemeinsam ein und trafen uns in Cafés. Ich bewunderte ihre Vitalität und die Offenheit, die sie noch im hohen Alter besaß. Deshalb war ich dafür, dass sie zu uns zog, als sie ihren Haushalt nicht mehr bewältigte.

Dass daraus elf gemeinsame Jahre werden würden, hätte niemand gedacht. Aber es ging gut, auch weil sich Margarete nicht in unsere Angelegenheiten einmischte.

Sie sagte von sich, sie sei oberflächlich. Aber das war sie nicht. Sie war diskret und sie hatte die Gabe, über Dinge, die ihr nicht gefielen, hinweg zu sehen.

Sie hätte sich nie einfach so zu uns ins Wohnzimmer gesetzt.

Nachdem ihr der Tod als Kind so nahe gekommen war, hatte sie das Privileg, achtundneunzig Jahre nicht von ihm behelligt zu werden.

„Es ist nicht schön, 103 Jahre alt zu werden“, sagte sie manchmal. „Denn dann muss man bald sterben.“

Margarete hing am Leben. Nicht an Dingen.

Bis zuletzt war sie großzügig und hilfsbereit. Sie lag schon im Sterben, hatte die Augen geschlossen und sprach zu sich selbst, als sie sagte: „Ich habe wenig Geld. Aber Bettlern gebe ich immer was.“

Oft hat sie erklärt: „Man kann nichts mitnehmen.“ Ich provozierte sie dann: „Aber man kann etwas da lassen.“ Davon wollte sie nichts hören.

Ein materielles Erbe hinterlässt sie nicht. Was hat sie uns dagelassen?

Neben vielen schönen Erinnerungen vor allem die Gewissheit, dass Reichtum im Füreinander-da-sein besteht.

Und natürlich den Rat, der Margaretes Lebenseinstellung zusammenfasst: sich über ungelegte Eier nicht den Kopf zu zerbrechen.

So kannten wir sie.

Margarete hätte selbst wohl am allerwenigsten damit gerechnet, dass ihre frühen Sterbenserfahrungen am Ende ihres Lebens wieder die Oberhand gewinnen würden.

Die als Kind erlebte Angst zu sterben und die Angst vor dem Verlust der Mutter drängten ins Bewusstsein. Margarete hat die letzten Wochen gebraucht, um diese Ängste durchzuarbeiten. Sie tauchte in ihre Kindheit ein. Dieser Prozess hat sie sehr angestrengt.

Nachdem sie neun Wochen nichts gegessen hatte, musste sich ihr Wille ihrem geschwächten Körper beugen: Margarete hörte fast unmerklich auf zu atmen. Sie ist sanft entschlafen.

Als die fünfjährige Margarete an Masern zu sterben drohte, hatte ihr der Arzt gesagt: „Wenn man ganz fest leben will, stirbt man nicht.“

Margarete wirkte so, als hätte sie bis zuletzt gehofft, dass das stimmt.