Protestkultur wird zu pittoresker Kulisse - das Treppenhaus im neuen Tacheles in Berlin.
Andreas Honert
Protestkultur versus Luxusimmobilien
Seele verkauft?
Das Tacheles in Berlin war ein wilder Ort - mit einer wilden Geschichte. Nun ist alles domestiziert und vor allem: sehr, sehr teuer. Ist das nur schlecht?

Tim Wegner
10.05.2024
5Min

Was ist „gute“, was ist „schlechte“ Immobilienentwicklung? Ich finde, es lohnt sich immer wieder, darüber nachzudenken. Ein aktuelles Beispiel: Das neue Tacheles in Berlin.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Besuch dort Anfang der 1990er Jahre: Ein gewaltiger, halb zerfallener Bau im Herzen von Berlin an der Oranienburger Straße; echter wilder Osten, so fühlte sich das damals an. 

Besetzt und bespielt von Spontis und viel alternativer Kunst. Irgendwann in den 2000er Jahren wurde es mehr und mehr Party- und Sauftreffpunkt für Touris. Mir das anzugucken, fand ich langweilig. 

Und jetzt?

Alles neu - alles ganz anders. Trotz vieler Proteste aus der Kulturszene hatte die Stadt das gesamte Gelände (immerhin fast 24 000 qm, Premiumlage in der City) an einen Immobilieninvestor verkauft, und es geschah, was in solchen Fällen fast immer geschieht: Der Kommerz übernimmt mit dem üblichen Mix aus Büroflächen, Luxuswohnungen und stylisch gestylten Freiflächen mit "Shopping-Mall". Bei unserem Besuch stand dort lediglich ein einsam wirkender Eiswagen. An einem der vielen leeren Läden hing ein Porsche-Logo vom Pop-Up-Store, an anderen gab es Fotos und Texte zur Geschichte über diesen wirklich unglaublich spannenden Ort, der einst als glamouröse Friedrichstraßenpassage 1908 eröffnet wurde. 

Die Läden würden sich bald füllen, versprechen Webseite und die freundliche Dame von der für das Quartier zuständigen Presseagentur "Markengold". Immerhin: einen Rewe- und einen Rossmann-Markt gibt es bereits. 

Groß, größer, gigantisch - das neue Tacheles-Quartier. Abschreckend oder beeindruckend?

Auch Kultur findet statt - ein Ableger der aus Stockholm stammenden "Fotografiska"-Museumskette ist in die oberen Stockwerke des Altbaus gezogen und hat auch gleich die Bespielung der Gastro übernommen. Überall findet sich Reste der einstigen Spontikunst an dem Wänden, einige sind sogar wie im Zoo hinter Eisengittern geschützt. 

Unabhängig davon war die Fotokunst (Eintritt 16 Euro), die wir letzte Woche dort sahen, in der Tat beeindruckend und wurde großzügig präsentiert. 

Menschen wie Jochen Sandig können das alles nur sehr bitter beurteilen. Der Kulturmanager leitet heute das Radialsystem in Berlin, gründete mit seiner Frau, der Choreografin Sasha Waltz, die gleichnamige Tanzkompagnie und gehörte als junger Mann zu den Machern und Mitbesitzern des Kunsthauses Tacheles. Im Spiegel-Video erzählt er von der "verlorenen" Seele des Ortes und der fehlenden Verantwortung der Stadt für diesen wichtigen historischen Ort: 

Sandig macht nicht die Investoren allein verantwortlich, für das was jetzt an fieser Gentrifizierung stattgefunden hat, er nimmt die Stadt in die Hauptverantwortung. 

Tatsächlich gilt in Berlin nämlich das Modell der kooperativen Baulandentwicklung. Es besagt, dass auf jedem ehemals städtischem Grundstück neben privat finanziertem Wohnungsbau mindestens 30 Prozent geförderter Wohnungsbau entstehen muss. Beim Tacheles kam es nicht zum Tragen, weil der Bebauungsplan schon vor Inkraftreten des Geländes beschlossen wurde und so hätte die Stadt eben nix tun können. Wirklich? 

Weniger ist mehr - der Ökonom Nico Paech im Interview

Und ich frage mich darüber hinaus: Warum hat der Investor nicht freiwillig zumindest einen Mini-Mix gebaut? Warum muss der Luxus in Ausstattung und Größe von Wohnungen in solchen Projekten immer luxuriöser werden? Ist es zwangläufig, dass gewinn- und gemeinwohlorientiert nicht zusammen gehen? Und warum lassen sich Stararchitekten, in diesem Fall u.a. auch das Büro Herzog & de Meuron (Architekten der Hamburger Elbphilharmonie), immer wieder darauf ein, derartige Macht- und Protzarchitektur zu planen und umzusetzen? Mir ist das angesichts der gesamtgesellschaftlichen Diskussion und des Wohnungsmangels in Berlin, der dort auch vor 10 Jahren schon herrschte, schleierhaft. 

Sponti-Kunst mit Olaf als pittoreske Staffage am Eingang zum Luxusquartier

Aber vielleicht sehe ich das auch alles viel zu kritisch? Schließlich bewundere auch ich heute den Louvre in Paris oder die Wolkenkratzer in New York. Bescheidene Architektur war und ist das sicher nicht und war auch nie so geplant...

Hörtipp: 
"Wohnprojekte im Gespräch", heißt die Podcastreihe von Tom Voss. Er unterhält sich mit Menschen, die entweder selbst schon viele Jahre in Wohnprojekten wohnen, sie bauen oder betreuen - sprich eine Reihe mit vielen praktischen Erfahrungen. Neulich war Tom auch bei mir zu Haus und hat mich interviewt. Das war eine schöne Erfahrung und wird im Herbst zu hören sein. Bin gespannt.

Kolumne

Dorothea Heintze

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.