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Es war ein politischer Eklat. Donald Trump und sein Vizepräsident vertraten am 28. Februar 2025 bei einem Treffen im Oval Office in Missachtung der politischen Realität die komplette Umkehr vom Opfer zum Täter: Wir, die Ukraine, hätten den Krieg begonnen, und daher müssten wir, die Ukraine, jetzt auch einem Diktatfrieden zustimmen.
Das ist brutal zu hören für alle Ukrainer*innen, die seit drei Jahren um ihr Leben und um ihre Heimat gekämpft haben. Ich hab in den letzten Tagen und Nächten mit vielen meiner Freundinnen und Freunden in der Ukraine, mit Journalisten und Influencern gesprochen, um die Situation und ihre Meinung zu verstehen.
Folgendes kann ich zusammenfassen:
Donald Trump behauptet, dass Selenskyjs Rating "auf ein Rekordtief von 4 Prozent gefallen sei". Das stimmt nicht.
Laut den neuesten Umfragedaten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie ist das Vertrauen der Bevölkerung in Selenskyj seit Dezember 2024 sogar um fünf Prozent gestiegen und liegt derzeit bei 57 Prozent. Diese Zahlen entsprechen meinen eigenen Recherchen in meinem Umfeld, und den Aussagen der Menschen, denen ich in den sozialen Netzwerken oder in der Presse folge.
Nach Trumps Aussage, Selenskyj sei ein Diktator, kam es in den Socials zu einer Art Flashmob in der ukrainischen Community. Überall äußerten Menschen öffentlich ihre Unterstützung für den Präsidenten. Und das geschah erneut nach Selenskyjs Treffen mit Trump im Oval Office am 28. Februar.
In vielen Beiträgen äußerten Menschen ihre generelle Wertschätzung für Selenskyj, weil er vor den Augen der Weltöffentlichkeit über das redete, was sie alle täglich bewegt: Er erwähnte die fast 20 000 illegal nach Russland verschleppten Kinder. Er sprach über Kriegsgefangene, die gefoltert werden und über das große Leid der Zivilbevölkerung und die vielen, vielen Toten.
Und Selenskyj benannte klar die größte Angst eines jeden Ukrainers: das Fehlen von Garantien dafür, dass Russland nach Kriegsende und der Unterzeichnung der entsprechenden Abkommen in einigen Jahren keinen weiteren Angriff unternehmen werde. Schließlich hat Russland wiederholt gegen Abkommen verstoßen, auch gegen internationale.
Sicher, wir alle träumen von einem Ende des Krieges, aber wir alle fürchten auch, dass ein Diktatfrieden von Trump und Putin nur eine kurzfristige Ruhepause sein wird. Und genau deshalb waren wir erleichtert, als wir diese Sätze unseres Präsidenten im Oval Office hörten: Sein Beharren auf der Notwendigkeit von Sicherheitsgarantien im Austausch für seltene Erden und andere natürliche Ressourcen.
Allerdings hörte ich nicht nur Lob, sondern auch Kritik. Viele Ukrainer*innen hatten von Selenskyj im Oval Office mehr Selbstbeherrschung erwartet. Er hätte seine Emotionen zügeln und die Provokationen ignorieren sollen.
Unabhängig davon äußerte die Mehrheit Verständnis für Selenskyjs Verhalten. Denn wenn er Trump und Vance erlaubt hätte, ihn weiterhin unkontrolliert anzugreifen, wäre er sowohl in der Ukraine als auch im Ausland als schwach angesehen worden. Doch der Präsident eines Landes im Krieg kann es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen.
Lesetipp: Warum Sicherheitsgarantien für die Ukraine so wichtig sind.
Und natürlich, auch das kam in allen Gesprächen zum Ausdruck, können und dürfen nur wir, die Ukrainer*innen selbst, entscheiden, wann und wie Präsidentschaftswahlen in der Ukraine stattfinden. Zurzeit wäre das sehr kompliziert. Millionen leben im Ausland, andere sind an der Front, in Gefangenschaft oder liegen schwer verletzt in Krankenhäusern. Wie könnten wir da faire Wahlen garantieren? Und wer wäre ein würdiger Kandidat? Wem kann nicht nur die Zukunft des Landes, sondern auch das eigene Leben und das Leben der eigenen Kinder anvertraut werden?
Donald Trump hat all dies ignoriert, die Verbrechen Russlands gerechtfertigt und die volle Verantwortung auf die Ukraine geschoben. Was will Trump wirklich? Faire Wahlen oder dass ein ihm genehmer pro-russischer Kandidat als Ersatz für Selenskyj eingesetzt wird? Laut meiner Recherche und Umfrage unter Ukrainern glauben die meisten von ihnen, dass Präsidentschaftswahlen in der Ukraine erst nach Kriegsende und mit klaren Sicherheitsgarantien stattfinden können.
So deprimierend diese Tage für uns alle sind, mir ist erneut klar geworden, wie unendlich freiheitsliebend das ukrainische Volk ist. Wir lehnen gewaltsam aufgezwungene Maßnahmen ab. Je mehr Druck man auf uns ausübt, desto mehr rücken wir zusammen und schlagen zurück. Sicher, wir streiten oft untereinander, aber wenn eine gemeinsame äußere Bedrohung droht, dann verbünden wir uns.
Und genau das ist jetzt nach meinen ukrainischen Quellen wieder geschehen: Der derzeitige US-Präsident hat mit seinen kontroversen Äußerungen zur Einheit eines großen Teils der Ukrainer beigetragen.