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Neulich habe ich für eine Geschichte über eine Solidarische Landwirtschaft Juliane Fengler interviewt. Die ist echt beeindruckend. Unbeirrbar - nicht stur, unbeirrbar auf eine gute Weise. Gärtnern in Vorpommern ist ein unfassbar harter Job. Im Frühsommer regnet es zu wenig, der Winter dauert ewig, der Ostwind fegt übers Feld. Und sie ist immer da draußen, jeden Tag. Zusammen mit ihrem Mann baut sie auf neun Hektar Gemüse an, versorgt damit 500 Leute mit Rettich, Rübchen und anderem lokalen Gemüse und leistet nebenbei einen leisen Beitrag zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit. Als ich sie fragte ob sie das Land gekauft hätten oder es pachteten, kniff sie ihre Augen zusammen und sagte: "Du kommst aus dem Westen, oder?"
Identität ist trügerisch, ähnlich wie Erinnerung. Veränderlich wie ein Kaleidoskop, das sich beim Drehen zu neuen Mustern zusammen setzt. Irgendwann, zwischendurch, so Mitte, Ende der 2000er, Angela Merkel hatte ihre erste Amtszeit noch nicht beendet, die Finanzkrise noch nicht begonnen und ich lebte schon ein paar Jahre hier, da dachte ich das erste Mal, dass die Kategorien Ost und West sich aufgelöst hätten oder zumindest dabei waren sich aufzulösen. Wie diese Badewasserfarben, die es in blau und rosa gibt. Meine jüngste Tochter liebt die. Jeweils eine Ecke der Wanne gekippt, mäandern die Farbverläufe zur Mitte hin zu einem tiefen Violett.
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Ob Ost oder West, das fragte lange niemand mehr. Angeblich sind nur fünf Prozent der Ehen in Deutschland Ost-West-Ehen. In meinem Umfeld, Akademikerblase in einer Universitätsstadt, gilt das nicht, das ist ein einziges kunterbuntes Ost-Westgemisch in dem man schon auch stolz darauf sind, da drüber zu stehen. Herkunft? Spielt doch keine (große) Rolle.
Ich bin im Hamburger Speckgürtel aufgewachsen, meine Mutter war zuhause, bis ich 13 war. Flötenunterricht, Schwimmunterricht, Basteln am Nachmittag. Konfirmation statt Jugendweihe, Sesamstraße statt Sandmännchen.
Ja, ich bin aus dem Westen. Aber es ist lange her. Und wenn mir, wie Juliane Fengler heute jemand meine Herkunft auf den Kopf zusagt, bin ich einen Moment lang beleidigt, weil ich ja schließlich Wahlvorpommerin bin. Ich habe hier studiert! Im Hafen liegt ein Schiff, das ich mit gebaut habe! Ich habe meine Kinder hier bekommen! Ich berichte über das, was hier passiert. Zählt das nicht?
Aber wenn ich über meine Identität nachdenke, fühle ich mich auch ein bisschen verloren. "Klassisches Migrationsschicksal", sagte ein Freund neulich dazu. Denn abgesehen von ein paar Monaten auf einer Journalistenschule in Baden-Württemberg habe ich so lange nicht mehr im Westen gelebt, dass ich, was ich hier erlebe, nur mit meinen Kindheitserinnerungen aus den 1980er und 1990er Jahre abgleichen kann. Diese Welt gibt es nicht mehr. Ich bin keine Westdeutsche. Aber ostdeutsch bin ich eben auch nicht.
Und das verrät sich schon, wenn ich in Betracht ziehe, dass man das Land, das man bewirtschaftet auch kaufen könnte.
Dabei hätte ich es besser wissen können, ich habe schließlich selber darüber geschrieben: Seit Jahren steigen die Bodenpreise, in Mecklenburg-Vorpommern führt das dazu, dass sich fast nur noch große Unternehmen Ackerland leisten können. Und nach der Wende waren es vor allem Westbauern, die sich im Osten ansiedelten.
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Das Land zwischen den Städten, die riesigen, von der Bodenreform zusammengefügten baumlosen Flächen, die sich manchmal über Kilometer erstrecken gehören überwiegend Menschen aus dem Westen. Viele von den schön sanierten Häusern in der Innenstadt gehören Menschen aus dem Westen. Der größte Betrieb meiner Stadt wurde von einem Westdeutschen gegründet. Viele Professorinnen und Professoren an der Uni kommen aus dem Westen. Der Bürgermeister kommt aus dem Westen.
Und auch wenn es nach der Wende viele mit harter Arbeit "geschafft" haben neu anzufangen und sich in einem fremden System zurecht zu finden und einen Platz zu suchen: Wer in meinem Freundes- und Bekanntenkreis westdeutsche Wurzeln hat wird mit höherer Wahrscheinlichkeit von Eltern und Familie finanziell unterstützt. Muss eher kein Bafög zurück zahlen. Erbt mit höherer Wahrscheinlichkeit.
Aus dem Westen kommen heißt immer noch mit einer Perspektive auf die Welt schauen, die mehr Möglichkeiten hat. Mehr Chancen. Die dadurch vielleicht größer ist, bunter, vielversprechender. Übrigens auch weniger unsicher. Aber dazu vielleicht in einer anderen Folge...
Das ist viel relevanter als die Frage ob eine "Kaufhalle" sagt oder "Supermarkt". Herkunft sollte keine große Rolle spielen. Aber wir sind noch lange nicht violett.
Anmerkung der Redaktion:
Ab dieser Folge wechseln sich Christian Kurzke und Anke Lübbert in der Autorenschaft der "Ostpost" ab; die Kolumne kommt weiter regelmäßig alle zwei Wochen. Hier gibt es sie als Abo per Mail direkt ins Postfach. Ganz einfach