Netflix
Dokumentation über die ETA
Was Terror aus Terroristen macht
In Spanien wurde über eine Netflix-Dokumentation gestritten. Konservative warfen ihr vor, den ETA-Terror zu verharmlosen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn dieser Film ist ein Lehrbeispiel dafür, wie man Gewalttäter entlarvt
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
05.04.2024

In Spanien wurde über eine Netflix-Dokumentation gestritten. Konservative warfen ihr vor, den ETA-Terror zu verharmlosen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn dieser Film ist ein Lehrbeispiel dafür, wie man Gewalttäter entlarvt

Die Festnahme einer RAF-Terroristin hat vor kurzem gezeigt, wie sehr Deutschland noch im Bann des Linksextremismus der 1970er Jahre steht. Aber das ist kein Vergleich zu Spanien und der ETA. So sorgte der Dokumentarfilm „Im Angesicht der ETA: Interview mit einem Terroristen“ von Jordi Èvole Anfang diesen Jahres für eine intensive Debatte über eine Geschichte, die längst keine Vergangenheit ist. Denn er gibt dem ehemaligen Führungskader José Antonio Urrutikoetxea, genannt Ternera, viel Raum. Doch der Vorwurf, der Film spiele ihm damit in die Hände, geht ins Leere. Denn je länger er redet, umso besser versteht man als Zuschauer die fatale Logik der Gewalt, umso so mehr verliert man die Angst vor ihm und sieht bloß einen leeren, kalten, verlorenen Menschen vor sich. Das ist lehrreich nicht nur mit Blick auf die ETA, sondern auch auf heutige Terrorismen.

Der Film besteht aus drei Elementen. Gerahmt wird er am Anfang und am Ende von einem kürzeren Gespräch mit dem ehemaligen Polizisten Francisco Ruiz, der in den 1970ern bei einem Anschlag schwer verletzt wurde, an dem Urrutikoetxea beteiligt war. Dazwischen ist ein ausführliches Gespräch mit dem Ex-Terroristen zu sehen. Dieses wird wiederholt durch sehr beeindruckendes Archivmaterial unterbrochen.

Urrutikoetxea hat fünfzig Jahre in der ETA verbracht. Mit 17 Jahren trat er bei, kämpfte, verübte Anschläge, lebte im Untergrund, wurde verhaftet, saß lange ein, am Ende setzte er sich erfolgreich dafür ein, dass die ETA sich auflöste und der Spuk ein Ende nahm. Letzteres ist ihm hoch anzurechnen. Im Gespräch gibt er Fehler zu und äußert sein Bedauern. Doch er kommt einem nicht näher. Das liegt an seiner Sprache. Drei Aspekte sind mir aufgefallen. Sie sind durchaus typisch.

Erstens spricht Urrutikoetxea höchst abstrakt und kompliziert. Er redet von „Aktion“ oder „Konflikt“ und windet sich durch lange, verwinkelte Sätze. Er sagt nicht einfach und klar, was Terror will, nämlich: Gewalt, Krach, Gestank, abgerissene Gliedmaßen, Blut, tote Männer, Frauen, Kinder, zerstörte Häuser und Straßen sowie später Albträume und Flashbacks. Das Entsetzen findet bei ihm keinen Ausdruck.

Zweitens gesteht er „Fehler“ ein und beteuert wiederholt, dass es ihm „leid tut“. Von „Schuld“, „Scham“, „Reue“ ist keine Rede. Ganz unangemessen wird es, wenn er erklärt, dass niemand gern töte oder dass auch er einen „Rucksack“ zu tragen habe. Zudem stört sein wiederholter Hinweis darauf, dass auch die andere Seite Schuld auf sich geladen habe (obwohl dies sachlich richtig ist). Spanische Medien haben ihm deshalb Zynismus vorgeworfen. Doch das trifft es nicht. Es ist eher so, dass er entweder wichtige Gefühle nicht hat oder ihm der Zugang zu ihnen fehlt. Dazu passt die durchgängig gleiche, ausdruckslose Mimik.

Drittens fügt er unablässig Wörter ein, die Eindeutigkeit signalisieren: „evident“, „klar“, „absolut“. Sprachlich scheint er keine Schwäche zeigen und keine Ambivalenz zulassen zu wollen. Auch nur die Ahnung, dass sein Leben sinnlos – und schlimmer als das – war, will er so gar nicht erst aufkommen lassen.

Doch in einem entscheidenden Moment des Films verlässt ihn seine Sprache. Es geht um die Ermordung von Unternehmern, die sich geweigert hatten, die „Revolutionssteuer“ zu zahlen. Jordi Évole fragt ihn, ob dies nicht eine Mafia-Methode sei (und die ETA also nichts anderes als eine Gangster-Bande). Urrutikoetxea verstummt, hustet, weiß nichts Rechtes zu antworten.

Dagegen Francisco Ruiz, sein damaliges Opfer – ein alter Mann, der mit seinen Worten und seinem Gesicht vieles, Unterschiedliches und Widersprüchliches auszudrücken vermag: Schmerz, Trauer, Zorn, aber auch Liebe und den Wunsch nach Frieden. Seine Lebendigkeit bildet einen starken Kontrast zu Urrutikoetxeas angestrengter Unbewegtheit.

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Was diese Gegenüberstellung lehrt? Vielleicht dies: Dass in der Mitte des Terrors (jeder Gestalt von Terrorismus) eine tödliche Leere herrscht, dass ein Leben in der Gewalt den Gewalttäter innerlich aushöhlt, dass die Opfer von Gewalt dagegen viel menschlicher, lebendiger und wertvoller sind und dass deshalb die öffentliche Fixierung auf die Täter (als seien diese interessanter) falsch ist.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur