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Die Mutter musste entscheiden, welches Kind überlebt
Die schlimmsten Katastrophen der Welt wurden von Menschen verursacht. Wie zum Beispiel die von der Sowjetregierung geplante künstliche Hungersnot in der Ukraine, die Millionen Menschen tötete.
Lena Uphoff
28.11.2023

Dieses Bild steht noch immer vor meinen Augen, obwohl ich es noch nie gesehen habe: Meine Großmutter ist sechs Jahre alt und eilt zusammen mit ihrer jüngeren Schwester zum Bahnhof. In wenigen Minuten wird ein Zug vorbeifahren, der wichtige Leute befördert: Beamte, Minister, die mit Stalin selbst zusammenarbeiten!

Sie werden die Kinder auf jeden Fall vom Fenster aus sehen und ihnen etwas Leckeres zuwerfen: zum Beispiel Fischköpfe oder Hühnerknochen. Wenn die Kinder Glück haben, bleibt es sogar etwas Fleisch auf den Knochen übrig. Aber wenn nicht, ist das auch gut – man kann den Knochen lutschen und spürt einen angenehmen, leicht salzigen Geschmack... Hauptsache nschneller sein als die anderen Kinder, sonst bekommst du nichts. 

Eines Tages gelang es meiner Urgroßmutter, irgendwo ein paar Maiskörner zu besorgen. Sie kochte Brei, drei Löffel für jedes Familienmitglied. Meine schon siebenjährige Großmutter sah einen Topf Brei auf dem Tisch und konnte nicht widerstehen, ihn auszuprobieren.

Sie aß, bis sie fast daran starb

Und dann konnte sie nicht widerstehen, aufzuhören. Der Hunger durchdrang ihren Körper so sehr, dass ihr Geist abschaltete. Voller Angst und Verzweiflung aß sie den ganzen Brei auf und leckte den Topf ab. Doch nach ein paar Minuten spürte sie, dass ihr das Atmen sehr schwerfiel. An diesem Tag wäre sie fast gestorben: Über die langen Monate des Hungers war ihr Magen daran gewöhnt, nur sehr kleine, winzige Nahrungsportionen aufzunehmen. Zehn Löffel Brei nacheinander waren zu viel und ihr Magen blieb stehen. Sie saß mehrere Stunden regungslos da und hoffte, dass sie wieder voll durchatmen könnte. Ihre Erzählungen sind mir präsent, als wäre es gestern.

Dies war schon die dritte Hungersnot in der Ukraine: 1946-1947. Es war auch noch zwei künstliche Hungersnöte 1921–1923, 1932–1933. Die Zahl der Toten liegt bei etwa 10 Millionen Ukrainern.

Stalins Beamte nahmen den Menschen alles weg, was zur Zubereitung von Speisen verwendet werden konnte, und wenn sie ein paar im Haus versteckte Weizenkörner fanden, erschossen sie die Menschen. Auf ukrainisch nennen wir es "der Holodomor" (ukr. "Holod" - Hunger/ ukr. "Mor"- verhungern), ein Völkermord. Das Europäische Parlament hat den Holodomor als Völkermord anerkannt.

Damals handelte es sich nicht um eine Missernte der Nachkriegszeit, sondern um eine geplante Aktion des stalinistischen Regimes mit dem Ziel, Getreide von den Bauern abzunehmen und es an brüderliche sozialistische Regime zu verkaufen oder zu spenden. So wurden im 1946 fast 350 000 Tonnen Getreide aus der sowjetischen Ukraine in das Königreich Rumänien exportiert. 1947: 600000 Tonnen Getreide in die Tschechoslowakische Republik und die Polnische Republik erhielt 900.000 Tonnen Brot. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in der Sowjetukraine eine starke Hungersnot. Nach offiziellen Angaben starben im 1946-1947 mehr als eine Million Ukrainer. Allein im ersten Halbjahr 1947 wurden offiziell 130 Fälle von Kannibalismus registriert. Ja, Menschen aßen Menschen und am häufigsten Mitglieder ihrer eigenen Familie.

Das Grauen war und ist unbeschreiblich

Wenn eine Familie mehrere Kinder hatte, der Vater schon getötet wurde und die Mutter wusste, dass sie auch bald verhungern könnte, wählte sie das schwächste Kind und kochte daraus Suppe. Für viele war dies der einzige Weg zu überleben. Die Menschen rissen sogar Mauselöcher auf, weil Nagetiere dort Futterkörner oder -krümel lagern konnten. Andere schnitten sich selbst die Finger ab oder machten Jagd auf bereits sterbende Nachbarn. Tote Frauen lagen auf der Straße und in ihren Händen saugten noch lebende Babys an der Brust.

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Eine weitere Chance zu Überleben besteht für die Frauen darin, ihren Körper einem russischen Soldaten zu übergeben, die ihnen im Gegenzug, wenn sie Glück haben, eine Brotkruste schenken. Nicht jede Frau hatte aber dies Glück. Es war auch möglich, andere Ukrainer zu denunzieren und mit etwas Glück ein paar Ähren zu ergattern. Manche bekamen eine Kugel in den Kopf, nicht der Weizen. 

Ich schätze jeden Brotkrümel

Ich wurde 1986 geboren und habe die Hungersnot nicht erlebt. Aber meine Großmutter und meine Mutter haben mir immer gesagt, dass man mit Brot und bis zum letzten Krümel essen muss. Die Traditionen der ukrainischen Küche und die Einstellung zum Essen im Allgemeinen wurden maßgeblich durch das Traumata dieser dreier Hungersnöte geprägt, Psychologen sprechen von "transgenerationaler Traumatisierung". Unsere Küche ist sehr sättigend und unsere Gerichte sind reichhaltig. Für die Feiertage versuchen wir, so viele Gerichte wie möglich zuzubereiten und wünschen uns gegenseitig, dass der Tisch im Haus immer voller Essen ist, dass es immer Brot gibt. 

Der Samstag, 25. November, war der Gedenktag für die Opfer des Holodomors. In Deutschland wurden auch in verschiedenen Kirchen besondere Gottesdienste abgehalten. An diesem Tag zünden wir eine Kerze an und stellen sie auf die Fensterbank. Und wir beten, dass es nie wieder zu einer Hungersnot kommt. Nirgendwo auf der Welt. Denn sechsjährige Kinder sollten nicht darauf warten, dass reiche Beamte ihnen einen Heringskopf oder einen Hühnerknochen aus dem Expressfenster werfen.

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"Die schlimmsten Katastrophen der Welt wurden von Menschen verursacht "
Endlich mal ein wahrer Satz! Und ich füge hinzu: Und kein einziger Gott hat irgend eine von Menschen gemachte Katastrophe verhindert. Gibt es
Gegenargumente? Nein! Unsere Pollitiker von Gott verlassen, Beten sinnlos, zwecklos. Die Wahrheit ist, Hilf dir selbst, dann hilft dir ein Gott. Goethe

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Im wettbewerbsbedingten System des "Zusammenlebens", wo "gesundes" Konkurrenzdenken propagiert wird, ist es keine Unmöglichkeit, dass die unternehmerisch-denkenden Bauern, die/"ihre" Erzeugnisse der Landwirtschaft zurückhalten um der besseren Preise willen, so daß Hungersnot nicht nur künstlich auf die "Dritte Welt" beschränkt ist.

Die Sowjetunion, die mit der Kollektivierung aller Produktivität im Grunde den besseren Weg beschreiten wollte, war im "Kalten Krieg" leider auch nicht frei von manipulativ-schwankenden "Werten", so kam es wieder nur zu bewusstseinsschwachen Zuständen, wie Lenin sie sicher schon erahnte, als Europa, bzw. England, Deutschland und Frankreich, die Revolution zu wirklich-wahrhaftiger Vernunft und Verantwortungsbewusstsein nicht mitmachen wollten.

In Gedenken an Lenin und Jesus, die im Grunde aller ... das Selbe wollten:

"Es war seit jeher den Epigonen vorbehalten, befruchtende Hypothesen des Meisters in starres Dogma zu verwandeln und satte Beruhigung zu finden, wo ein bahnbrechender Geist schöpferische Zweifel empfand." Rosa Luxemburg

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Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum