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Krieg in der Ukraine
Darf ich lachen, obwohl in meiner Heimat Menschen sterben?
Können wir es uns erlauben, Spaß zu haben, während in der Ukraine unschuldige Menschen und Kinder sterben?
Lena Uphoff
31.10.2023
4Min

Vor Beginn des großen Krieges in der Ukraine lebte ich bereits mehrere Jahre in Deutschland und war eine gewöhnliche Imigrantin. Dann kehrte ich in die Ukraine zurück, um ein neues Buch fertigzustellen und zu veröffentlichen, danach wollte ich wieder nach Frankfurt. Hier leben auch meine Schwester und Menschen, mit denen wir befreundet waren. Aber dann musste ich unerwartet und gezwungenermaßen nach Deutschland zurückgekehren: wegen des Krieges.

Deshalb weiß ich nicht, wie ich mich richtig nennen soll: Laut meinem rechtlichen Status bin ich ein "Flüchtling". Andererseits kenne ich in Frankfurt am Main jede Straße; meine Lieblingsbücher werden hier gelagert. Die Stadt ist mein zweites Zuhause.

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Ich erinnere mich, als ich durch die Frankfurter Innenstadt gelaufen bin und nicht glauben konnte, wie die Leute lachten und Spaß hatten. Ich erinnere mich, wie wütend und missverstanden ein junges Mädchen in einem wunderschönen Anzug und hochhackigen Stiefeln mich machte. Ihr langes Haar wehte, ein Lächeln strahlte auf ihren Lippen, sie hatte es eilig, irgendwohin, vielleicht zu einem Date?

Ich stand ein paar Meter von ihr entfernt in einer Jacke, die nach Luftschutzkeller roch, und meine Haare waren schlampig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sirenengeheul hallte in meinem Kopf wider und Bilder zerstörter Häuser erschienen vor meinem inneren Auge. Morgens erwachte ich um 5 Uhr ohne Wecker, schaute hektisch auf die Nachrichten, und gegen 8 Uhr unterhielten wir uns per Messenger mit Freunden. Gestern noch waren wir Ukrainer auf stylischen Partys unterwegs, hatten Start-ups und Designer-Cafés eröffnet, und heute wurden Freunde von mir in ihren Autos erschossen. Das ist ein schreckliches Verbrechen gegen Menschen, das meiner damaligen Meinung nach die ganze Welt hätte schockieren müssen. Aber die Welt lächelte weiter und hatte Spaß, als wäre nichts passiert.

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Größte Verzeifelung packte mich durch zwei Tragödien: die Ermordung von mehr als 600 Menschen im Dramtheater in Mariupol und das Massaker in Butscha. Meine ukrainischen Journalistenkollegen schickten mir Fotos vom Tatort, bevor sie in den sozialen Netzwerken veröffentlicht wurden. Als ich die Massengräber und die Leichen von Kindern sah, wurde ich hysterisch. In diesem Moment kam ich zu dem Schluss, dass nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Welt in Gefahr war. Schließlich passieren schreckliche Verbrechen fast online und niemand wird dafür bestraft! Vielleicht weiß einfach nicht jeder, was genau passiert?

Dann kam mir die Idee, meine Geschichte auf Papier zu drucken, die Geschichte einer Augenzeugin des Kriegsbeginns, die Geschichte einer Person, die aus erster Hand weiß, was gerade in der Ukraine passiert. Ich wollte zum Frankfurter Hauptplatz gehen und diese Flugblätter an Passanten verteilen. Damit sie die Wahrheit herausfinden und darüber nachdenken, welche Konsequenzen diese Verbrechen, dieser Terrorismus, haben können.

Ich habe diesen ehrlichen Text, den Schrei meiner Seele, geschrieben, ihn aber nicht an Passanten verteilt. Ich erinnere mich, wie ich auf der Hauptwache im Innenstadt von Frankfurt stand und anfing zu weinen. Da bin ich zusammengebrochen.

Seitdem sind Jahre vergangen.

Die Verantwortlichen für die Massaker an Zivilisten in der Ukraine wurden nicht bestraft. Der Krieg und die Verbrechen gehen weiter. Darüber hinaus haben in der Welt neue Kriege begonnen, neue Massenverbrechen gegen die Zivilbevölkerung.

Und jetzt kann ich sagen, dass dies wahrscheinlich das Schwierigste für mich war: zu sehen, wie die Menschen in einer Stadt Spaß haben und sich um Kleinigkeiten kümmern, während in einer anderen Stadt Kinder brutal ermordet werden. Und darf ich lächeln und das Leben genießen? Können wir das Leben genießen und gleichzeitig für den Frieden kämpfen? Ist das Verrat? Oder ist das Genießen des Lebens trotz allem letztlich der Kampf um das Beste auf der Welt?

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Ich suche immer noch nach einer Antwort auf diese Fragen. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Gleichgewicht. Aber glückliche Menschen machen mich nicht mehr wütend. Im Gegenteil, sie erinnern mich daran, warum es sich lohnt, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Und was wäre, wenn mein aufrichtiges Lächeln, mein wunderschönes Kleid oder meine im Wind wehenden Haare heute jemandem helfen kann, an sein Morgen zu glauben?

Jetzt, nach so vielen Tagen des Krieges in meinem Heimatland denke ich, dass die Welt nur dann wirklich verlieren wird, wenn wir alles Gute und Schöne aufgeben, was der Mensch oder die Natur geschaffen hat. Solange wir uns über Schönes freuen können, wird die Welt existieren.

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Die Frage beschäftigt mich schon mein ganzes Leben, denn seit früher Kindheit war mir bewusst, daß Menschen an Hunger und Intrigen sterben, während wir als Minderheit ein heuchlerisch-verlogenes Leben auf ihren Knochen feiern, ja dafür wirklich-wahrhaftig hauptsächlich verantwortlich sind.

Kriege sind der Anfang und das höchstwahrscheinliche Ende unseres bewusstseinsschwachen/bewusstseinsbetäubten Glaubens an das "gesunde" Konkurrenzdenken im nun "freiheitlichen" Wettbewerb um die Deutungshoheit dieser manipulativ-schwankenden Welt- und "Werteordnung".

Kolumne

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Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum