A street musician plays the piano during a partial electricity blackout in Kyiv
Passanten versammeln sich um einen Straßenmusiker, der während einem Stromausfall in Kyjiw Klavier spielt
Roman Pilipey / AFP / Getty Images
Leben ohne Strom
Auch im Dunkeln gibt es Licht
Stellen Sie sich vor, Sie hätten daheim nur wenige Stunden am Tag Strom! In der Ukraine ist das jetzt oft so. Dadurch ändert sich das Leben - manchmal auch zum Guten
privat
23.07.2024
4Min

Seit fast zwei Monaten kommt es in der Ukraine zu anhaltenden Stromausfällen. Grund dafür sind die Angriffe Russlands auf ukrainische Kraftwerke und kritische Infrastruktureinrichtungen. In den vergangenen drei Monaten wurden durch russischen Beschuss 9,2 Gigawatt der ukrainischen Stromerzeugung zerstört. Es ist kaum zu glauben, aber es ist Realität: Im 21. Jahrhundert wird ein modernes, technologisch entwickeltes Land in Dunkelheit gestürzt, sodass es nicht mehr in der Lage ist, normal zu arbeiten, zu essen und zu leben.

Um im Winter genügend Strom zu haben, ist das Land gezwungen zu sparen. In einigen ukrainischen Städten haben die Menschen nur 3 bis 5 Stunden am Tag Strom. Gleichzeitig wurde das Land seit mehreren Wochen von einer ungewöhnlichen Hitze von bis zu 40 Grad Celsius erfasst. Trotzdem versuchen Ukrainer, die nicht ins Ausland gehen wollen, sich an die neuen Lebensrealitäten anzupassen und finden darin sogar ungewöhnliche positive Momente. Einige meiner Freundinnen und Freunde von dort haben mir erzählt:

Tatjana, Kyjiw:
"Ich habe aufgehört, den Aufzug zu benutzen, weil ich große Angst habe, darin steckenzubleiben, wenn plötzlich das Licht ausgeht. Deshalb gehe ich in meinen 14.Stock zu Fuß. Das ist schwierig, vor allem, wenn ich Tüten mit Lebensmitteln habe. Aber meine Beine und das Gesäß sehen jetzt schon viel sportlicher aus."

Yuliya, Kyjiw:
"Wir mussten unsere Essensgewohnheiten komplett umstellen, denn wenn der Kühlschrank länger als vier Stunden oder die ganze Nacht nicht funktioniert, können viele Produkte verdorben sein. Jetzt ist es in der Ukraine unglaublich heiß, die Temperatur erreicht 38 Grad, Lebensmittel auf dem Balkon zu lagern, ist also auch keine Option. Deshalb kaufen mein Mann und ich jetzt nur noch das, was wir am selben Tag essen können. Wir haben einen Wasserkocher für Touristen gekauft, um Tee zuzubereiten. Jetzt frühstücken wir in irgendeinem Café mit funktionierendem Generator – Kaffee und ein Sandwich oder Rührei. Früher gingen wir kaum in Cafés, mittlerweile kennen wir fast alle Cafés in der Nähe unseres Zuhauses. Mittag- und Abendessen bestehen hauptsächlich aus Obst- oder Gemüsesalat. Ich habe noch nie so viel Gemüse und Obst gegessen. Wir versuchen, dies als Pluspunkt zu sehen."

Kateryna, Kyjiw:
"Ich habe sehr dichtes, langes Haar. Es ist ein Abenteuer, meine Haare zu waschen und zu trocknen. Meine Haare werden sehr lange zum Trocknen brauchen. Also muss ich mich anpassen und um fünf Uhr morgens aufstehen, damit ich alles erledigen kann. Später gibt es möglicherweise den ganzen Tag keinen Strom."

Andriy, Lwiw:
"Das Ausschalten des Stroms am Abend hat viele Menschen gezwungen, nach draußen zu gehen. Früher haben wir nach der Arbeit mit den Kindern Filme angeschaut, oder jeder hat sein eigenes Ding nach dem Abendessen gemacht. Jetzt gehen wir alle zusammen aus (*Frau und zwei Kinder). Bei einem Spaziergang durch die Stadt entdecken wir Innenhöfe, Parks und Ecken neu. So viele Menschen habe ich noch nie mit ihren Familien auf der Straße gesehen."

Iryna, Mykolajiw:
"Ich lebe alleine und arbeite als Marketingmanagerin in sozialen Netzwerken. Für meine Arbeit ist entscheidend, dass ich einen funktionierenden Laptop und zwei Mobiltelefone habe. Deshalb lade ich alles im voraus auf, damit ich auch ohne Licht arbeiten kann. Ich habe auch viele Laternen mit Batterien gekauft, weil ich Angst vor der Dunkelheit habe. Außerdem habe ich drei kleine Taschenlampen für den Fall, dass ich mich in einem dunklen Flur oder auf der Straße befinde. Sie immer bei mir und gibt mir Selbstvertrauen."

Denis, Region Browary :
"Meine Frau, vier Kinder und ich leben im Privathaus. Auch unser Heizkessel und unsere Wasserpumpe werden mit Strom betrieben. Wenn es keinen Strom gibt, haben wir weder Wasser noch Wärme. Es ist jetzt noch warm, aber für den Winter haben wir schon Brennholz vorbereitet. Für die Kleinen sollte es zu Hause immer warmes Wasser geben. Deshalb haben wir auch eine Thermoskanne gekauft, um immer ein bisschen warmes Wasser zu haben. Unsere ältere Kinder, sie sind Teenager, kochen ihr Abendessen jetzt oft auf dem offenen Feuer draußen. Das macht ihnen Spaß - und wir freuen uns über jede Gelegenheit, ihre Kindheit mit glücklichen Momenten zu füllen."

Yanina, Kyjiw:
"Ich habe mit zwei meiner Freundinnen eine Wohnung gemietet. Wir studieren zusammen an einer medizinischen Universität, wir arbeiten und engagieren uns ehrenamtlich in unserer Freizeit. Damit es nicht so traurig ist, das Licht auszuschalten, haben wir eine Romanze erfunden: Wir haben Kerzen und LED-Girlanden und Schilder gekauft. Jetzt sieht unsere Wohnung aus wie ein geheimnisvolles Bar-Restaurant. So ist es viel einfacher, und wir lassen uns nicht in negative Emotionen verwickeln."

Jaroslaw, Region Schytomyr:
"Wir haben ein großes Restaurant in der Nähe des Hauses, mit mehreren Sälen. Sie haben Generatoren in Betrieb, sodass es immer Strom gibt. Und wissen Sie, was sie gemacht haben? In einem der Säle haben sie einen Raum für die Bewohner des Viertels eingerichtet. Dort können alle ihre Geräte kostenlos aufladen - ohne dass man etwas bestellen muss. Junge Mütter wärmen Milch oder Brei für ihre Babys auf, auch ältere Menschen kommen, die sonst oft vergessen, ihre Handys aufzuladen. Es ist jetzt sehr schwierig zu leben, aber es ist auch so, wie das Sprichwort sagt: In dunklen Zeiten sieht man helle Menschen am besten."

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Kolumne

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Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum