Graphic Novel
Von oben sieht man besser
"Anna" von Mia Oberländer handelt von drei Generationen Frauen, zwei davon sind ungewöhnlich groß. Wie es sich anfühlt, ständig ungewollt herauszustechen
Graphic Novel - Von oben sieht man besser
Wer groß ist, fällt auf. Besonders Frauen. Und das ist nicht immer toll
Mia Oberländer
12.06.2023
7Min

Wofür steht die große Frau in Ihrem Buch?

Mia Oberländer: Fürs Anderssein, Auffallen, nicht Hineinpassen. Aber vor der Metaphorik kommt die konkrete Geschichte. Anna 1 ist eine anerkannt schöne Frau in dem Bergdorf Bad Hohenheim. Da gilt: Berge sollten hoch sein, Menschen aber nicht. Und Frauen schon mal gar nicht. Anna 1 bekommt eine Tochter, die in der Wahrnehmung des Dorfs viel zu groß ist. Deshalb hat Anna 2 es schwer, auch bei Anna 1, ihrer Mutter. Anna 3 erbt diese Erfahrung sozusagen und muss damit umgehen.

Grischa Kaufmann

Mia Oberländer

Mia Oberländer, geboren 1995, hat mit der Graphic Novel "Anna" nicht nur ihren Bachelor zum Thema "Grafische Erzählung" an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg vorgelegt, sondern auch gleich noch den Comicbuchpreis 2021 der Berthold-­Leibinger-Stiftung und den Deutschen Jugendliteraturpreis "Neue Talente" 2022 gewonnen.

Warum haben Sie alle drei Frauen "Anna" genannt und durchnummeriert, statt ihnen unterschiedliche Namen gegeben?

Es gibt ein Gemälde von Leonardo da Vinci mit dem Titel "Anna selbdritt". Es zeigt die heilige Maria, ihre Mutter, die heilige Anna, und das Jesuskind mit einem Lamm. Ich ­habe es zum ersten Mal als Schülerin im Kunst­unterricht gesehen und bei der Vorarbeit zu "Anna" ist es mir wieder eingefallen – wegen der drei Generationen. Aus "Anna selbdritt" wurden dann Anna 1, 2 und 3. Ich finde es generell schwierig, Namen für meine Charaktere zu finden, weil man sofort Persönlichkeitsmerkmale mit Namen verbindet. Darum vergebe ich lieber welche, die eher der Funktion entsprechen, die die jeweilige Figur in meiner Geschichte erfüllen soll – hier also eine bestimmte Posi­tion in einer Generationenkette.

Wie haben Sie das Nichthineinpassen von Anna 2 und 3 dargestellt?

Kräftige schwarze Striche, überlange Gliedmaßen, manchmal Verrenkungen. Kräftige Farbflächen, die aufeinanderstoßen. Um die Grausamkeit des Großseins zu zeigen, muss man krass übertreiben. Beim Lesen soll man das fast körperlich spüren. Die eigenen Ängste nehmen ja auch oft ein übertriebenes Maß an. In der Fantasie ist man dann viel, viel, viel zu groß, zu klein, zu dick, eben zu unpassend. In Wirklichkeit ist es meist gar nicht so schlimm.

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Und warum haben Sie den Text auf Schulheftlinien, größtenteils in Schreibschrift, gesetzt?

Das wirkt vordergründig so schön brav. In der Schule lernt man Normen. Das wollte ich konterkarieren. Ich finde aber auch, es sieht gut aus.

Warum ist das Buch Ihrer Mutter gewidmet?

Ich verarbeite darin nicht nur meine Erfahrung, sondern auch die meiner Mutter und Großmutter. Deshalb habe ich während des Schreibens und Zeichnens ganz viel mit ­meiner Mutter gesprochen. Das hat mich ihr viel nähergebracht. Ich fand es am Anfang total schwierig, diese Geschichte zu erfinden.

Anna 1 bekommt eine Tochter, die in der Wahrnehmung des Dorfes viel zu groß ist. Das Gefühl, nicht hineinzupassen, vererbt sich von Anna 2 auf Anna 3

Was war denn so schwierig?

Das Schwierigste war, eine Formsprache für eine Geschichte zu finden, die auf eigenen Erfahrungen beruht, aber nicht eins zu eins meine Geschichte erzählt. Es geht nicht um die 14-jährige Mia Oberländer in Ulm, die darunter leidet, dass sie fünf Zentimeter ­größer ist, als sie möchte. Auch nicht um ihre Mutter oder Großmutter. Sondern um das Gefühl, nicht richtig zu sein – nachvollziehbar für andere Menschen.

Wie haben Sie das erlebt – haben Sie sich als zu groß empfunden?

Ja, ich hatte immer Angst, so groß wie meine Mutter zu werden, also ein Meter achtzig. Als ich 13 Jahre war, wollte ich unbedingt vom Kinderarzt wissen, wie groß ich maximal ­werde.

Und wie groß sind Sie jetzt?

Ein Meter fünfundsiebzig.

Das ist doch gar nicht so riesig.

Ja, aber bei uns war das eben immer Thema. Schon als ich elf, zwölf Jahre alt war, habe ich Sätze gehört wie: "Großsein ist ja jetzt nicht mehr so schlimm wie früher." Meine Mutter hat eben immer gehört, dass es unpassend für Frauen ist, groß zu sein. Dieses Gefühl wollte sie mir und meiner Schwester ersparen, aber das hat nicht so richtig funktioniert. Ich komme aus Ulm. In Süddeutschland waren die Leute kleiner. Erst als ich nach Hamburg gezogen bin, wurde mir klar, dass ich eigentlich Mittelmaß bin. Schon komisch, was sich in Familien so tradieren kann.

Das Umfeld von Anna 2 und 3 versucht, sie kleinzumachen. Wie war das bei Ihnen?

Eine Nachbarin hat mir öfter gesagt, du bist so schmal, wenn du dich zur Seite drehst, bist du verschwunden. Da fühlte ich mich dünn und unweiblich. Überhaupt wird das Aussehen von Heranwachsenden gerne kommentiert. Auch meine Klassenlehrerin hat Sprüche rausgehauen, die vielleicht im ersten Moment witzig wirkten, es aber nicht waren. Meine Mutter musste sich noch ganz andere Dinge anhören. Aber da lassen wir es mal bei der Autofiktion des Buches.

Mia Oberländer: "Anna". Edition Moderne. 220 Seiten, 25 Euro

Welche Glaubenssätze über Frauen ärgern Sie?

Zum Beispiel, dass Frauen kleiner sein sollen als ihr Partner. Im Buch lässt Anna 1 Anna 2 eine ganze Fernsehsendung dazu ansehen – mit dem Tenor, dass große Frauen keinen Mann finden. Den Text dazu habe ich von der Website eines bekannten Fernsehsenders von 2016! Der Titel des Beitrags war "Große Frauen – große Probleme: Ein ‚langes Elend‘ erzählt". Ein Horror! Ich finde es auch ziemlich irritierend, dass Frauen, die nicht hübsch sind, möglichst lustig sein sollen, und Frauen, die als hübsch gelten, gerade nicht. Oder dass Frauen nicht laut sein sollen. Oder als Lästermaul und Tratschtante verschrien ­werden, wenn sie sich mal länger über gewisse ­Themen austauschen.

Sind Sie eher angepasst oder ecken Sie auch öfter an?

Ich bin sehr impulsiv und rede wahnsinnig viel. Das kann lustig sein, aber manchmal schieße ich auch übers Ziel hinaus. Ich möchte eigentlich schon gemocht werden. Aber auch die Sachen machen, die ich eben machen möchte.

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Wie zufrieden sind Sie jetzt, mit 28, mit ­Ihrem Aussehen?

Sehr viel zufriedener. Ich glaube, dass die Arbeit an "Anna" einen Teil dazu beigetragen hat. Am Ende war ich richtig genervt davon, wie sehr fünf Zentimeter mein Selbstwertgefühl bestimmt haben. Außerdem hatte ich jetzt schon ein paar Jahre Zeit, mich an den Körper, in dem ich lebe, zu gewöhnen.

Im Buch wirkt Anna 3, also Ihre Generation, auch schon viel entspannter als die Generationen vor ihr.

Die Probleme kommen ja auch nicht von ihr, sondern von der Figur ihrer Mutter, die wiederum von ihrer Mutter geprägt ist. Anna 3 hat eher eine Beobachterposition, ist aber doch auch involviert. Am Ende wird sie selbstbestimmter.

Vorangestellt haben Sie Ihrem Text ein ­Zitat des österreichischen Dichters Ödön von Horváth. Wie kam es dazu?

Er ist einer meiner Lieblingsautoren, weil er ja auch seinen Spaß an Kleingeistigkeit hat. Das Zitat ist aus seinem Roman "Der ewige Spießer".
Es lautet: "Was ist der Mensch neben einem Berg? Ein großes Nichts ist der Mensch ­neben einem Berg."

Ja, diese Stimmung kann ich sehr gut nachvollziehen. Berge haben dieselbe Wirkung auf mich wie Kirchen: Sie sind so monumental, dass meine Probleme daneben zum Witz werden. Das Größenverhältnis fand ich gut. Dann habe ich mich gefragt: Was ist eigentlich eine große Frau neben einem Riesenberg? Wieso regt ein Dorf sich so darüber auf?

Einen Partner findet man auch, wenn man groß ist, zeigt Anna 3

Anna 3 hat am Ende etwas überwunden.

Und da sitzt sie mit ihrem ebenfalls sehr groß gewachsenen Freund, den sie ganz locker kennengelernt hat, auf einem Gipfel. Und den haben sie, auch das kann man metaphorisch verstehen, zusammen bezwungen. Vielleicht hat sie erkannt, dass Großsein doch etwas Tolles ist, während sie vom Berg auf das kleine Dorf herabsieht, das auf sie herabgesehen hat. Von oben, das ist der letzte Satz, könnte die Aussicht kaum besser sein.

Letztes Jahr haben Sie den Deutschen ­Jugendliteraturpreis in der Sparte "Neue Talente" erhalten, dazu ein Preisgeld von 10 000 Euro. Zuvor wurde "Anna" bereits mit dem Comicbuchpreis der Berthold-­Leibinger-Stiftung ausgezeichnet, der mit 20 000 Euro dotiert war. Was bedeutet das für Sie?

Es ist natürlich toll, dass mein erstes Buch gleich so viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Zumal ich nach dem Bachelor zuerst dachte: Was ich da mache, ist doch ganz schön brotlos. Durch das Preisgeld kann ich jetzt an meiner Masterarbeit arbeiten, ohne nebenbei zu jobben. Und die Preise haben mir auch Mut gemacht. Aber es ist auch eine Art Ironie des Schicksals, dass ich ausgerechnet den Jugendliteraturpreis bekommen habe.

Warum?

Ursprünglich wollte ich Kinderbuchillustra­torin werden. Aber die Verlage, mit denen ich in Kontakt trat, haben mir gesagt, mein Stil eigne sich nicht für Kinder. Er würde eher in die Comicszene in Frankreich passen. So habe ich Comics für mich entdeckt. Deshalb ­musste ich ein bisschen lachen, dass die Jury des ­Jugendliteraturpreises mich ausgesucht hat.

Was fasziniert Sie am Comic?

Comic ist ein Zusammenspiel zwischen Schreiben und Zeichnen, eine literarische Arbeit. In Frankreich haben die "Bandes ­dessinées" einen anderen Stellenwert als hier, sind mehr als künstlerische Position akzeptiert. Langsam ändert sich das aber auch in Deutschland. Es werden mehr ­Comics im Feuilleton besprochen. Viele davon sind ­übrigens von Frauen. Darauf ist man in Frank­reich fast neidisch. Und es ist toll, dass das hier noch so ein unbeackertes Feld ist. Es gibt keine Älteren, die man stürzen müsste. Das bedeutet eine unglaubliche Freiheit im Umgang mit dem Medium. Allerdings kann man auf dem Buchmarkt bis jetzt noch nicht so viel Geld damit verdienen.

Und was sagt Ihre Mutter zu Ihrem Erfolg?

Sie freut sich. Und sie hat das Buch an viele Verwandte und Freund*innen – auch aus ­ihrer Jugendzeit – verschenkt. Das habe ich als großes Kompliment aufgefasst.

Infobox

Mit "Anna" hat Mia Oberländer, 28 Jahre, ihren Bachelor im Fach "Grafische Erzählung" bei Anke Feuchtenberger an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft in Hamburg vorgelegt. Der grafische Essay ist 2021 bei der Edition Moderne in Zürich verlegt worden. Dafür erhielt sie 2021 den Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung und 2022 den Sonderpreis des deutschen Jugendliteraturpreis für neue Talente. [Jetzt arbeitet sie an ihrer Masterarbeit zum Thema Streit, das sie ebenfalls als Frauenthema behandelt: Wieviel Raum darf man sich nehmen, wann äußert man seine Bedürfnisse, wann soll man sich trauen, sich zu wehren, wann ist es aber auch mal genug?]

Produktinfo

Mia Oberländer: "Anna". Edition Moderne. 220 Seiten, 25 Euro.

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Liebes Leserpost-Team,

ich bin 1,80 Meter groß.
Anfang der 60er Jahre war ich 15 und gehörte immer zu den Größten in der Klasse. Oft wurde ich gehänselt und im Vorbeigehen gefragt: "Wie ist den die Luft da oben?" In diesem Alter und auf der Suche nach der eigenen identität, ist es schon nicht einfach aus der Masse herauszuragen und aufzufallen.

Sogar viele Jahre später, als ich mit meinem Sohn im Kinderwagen unterwegs war , stellte mir ein Rentner, den ich nicht kannte, diese Frage.

Mich hat gerettet, dass ich irgendwann die Antwort auf diese Frage hörte. Und ich habe mit Freude und einer Art von Genugtuung darauf geantwortet: "Hier stinkt's nicht so nach kleinen Leuten!"
Das ist zwar frech, aber wer so doofe Fragen stellt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er die entsprechende Antwort bekommt.

Groß zu sein hat viele Vorteile: Ich werde selten übersehen, ich kann bei einer Ansammlung über die Anderen hinwegsehen, ich komme im Supermarkt an die oberen hinteren Obstkisten und zuhause muss ich nicht ständig die Leiter holen.

Inzwischen gibt es viele große Menschen und auch die Mode hat sich angepasst. Ich erinnere mich, dass mir die Damenhosen immer zu kurz waren und ich Herrenhosen gekauft und sie am Bund angepasst habe.

Ich gehe sehr gerne mit meiner fast 17jährigen Enkelin ins Museum oder Theater und ich genieße es auch, weil sie ist 1.83 Meter groß ist!

Christa Steinmetz