chrismon: Herr Stanišić, hatten Sie eine schlimme Zeit in der Schule? Oder woher kennen Sie die Dynamik, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?
Saša Stanišić: Während meiner Schulzeit in Heidelberg habe ich beobachtet, wie einem meiner Schulkameraden das Leben zur Hölle gemacht wurde, systematisch, aus Lust am Quälen. Wir waren 15 oder 16 Jahre alt, als das losging. Und alle, mich eingeschlossen, haben sehr, sehr wenig dagegen getan. Das ist eine passive Täterposition, wie ich jetzt weiß. Man darf nicht einfach nur Zeuge bleiben, man hat als Zeuge eine Verantwortung. Das falsche Bewusstsein von damals – wenn ich selbst nicht mitmobbe, bin ich nicht der Böse: Das hat mich sehr lange beschäftigt.
Und jetzt haben Sie einen Kinderroman darüber geschrieben.
Ja, es war mir ein Anliegen, meine eigenen Ängste, meine Ohnmacht und Passivität von damals in einem Text zu verarbeiten.
Warum treibt Sie das Thema so um?
Einerseits, weil solche extremen Ausprägungen des sozialen Drucks sowie Aggressionen und Übergriffe nach wie vor zu häufig geschehen und harte Spuren im Leben der Opfer hinterlassen. Und andererseits, weil ich überzeugt bin, dass man den Dynamiken einer systematischen Schikane zuvorkommen kann, wenn man früh genug nicht nur erkennt, dass jemand leidet, sondern auch handelt. Sich organisiert als Klassenverbund, als Gruppe, als schulische Unterstützung. Das Buch ist ein Appell an die große schweigende Mehrheit – nicht zu schweigen.
Was kann Literatur, was ein Sachtext über Mobbing nicht kann?
Die Sachbücher, die ich zum Thema gelesen habe, richten sich fast alle an die Erwachsenen und reflektieren deren Rolle bei diesen Prozessen. Das ist ja auch okay. Meine Hoffnung ist, dass erzählende Literatur direkter wirkt: Dass sie durch die beschriebenen Emotionen näher an die Emotionen der Betroffenen herankommt. "Ich sehe dich" – dich, das Opfer –, sagt meine Geschichte. Ich versuche mir darin vorzustellen, was du durchmachen musst, du bist nicht allein. Aber auch: Ich sehe die Täter, und ich sehe auch euch, die schweigende Mehrheit. Tut etwas! Ich zeige in meiner Geschichte nach jedem Mobbingakt sogar Handlungsanleitungen auf, ohne zu moralisieren oder es so darzustellen, als sei es der einzig mögliche Weg. Jedes Mobbing ist individuell.
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In "Wolf" trifft es einen Jungen im Ferienlager . . .
Genau. Jörg wird in der Schule und auf der Gruppenreise gemobbt. Andere Kinder suchen geradezu nach Gründen, um ihn zu terrorisieren. Etwa weil er große Ohren hat und nicht so sportlich ist. Er wandert und zeichnet gerne und wirkt oft selbstversunken. Mit Kemi, dem Ich-Erzähler, hat er in der Schule wenig zu tun. Dieser ist nie um Worte verlegen, hasst aber Gemeinschaftsausflüge in die Natur. Da hat er übrigens was von mir.
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