Wegducken geht nicht"
Bürger der Stadt stehen während einer Friedensaktion mit Schildern in den ukrainischen Farben und dem Schriftzug "Recht auf Frieden" auf dem Nikolaikirchhof. Mit einer Friedensaktion und einer anschließenden Kundgebung riefen die Stadt Leipzig, die Leipziger Messe, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde St. Nikolai Leipzig zur Solidarität mit der Ukraine auf. Die Aktion steht unter dem Titel "Recht auf Frieden"
Jan Woitas/picture alliance/dpa
"Wegducken geht nicht"
Der russische Angriff auf die Ukraine jährt sich zum ersten Mal. Was bedeutet das für die Kirche? Arnd Henze, EKD-Synodaler und Journalist, erklärt im Interview, warum wir nicht nur über Waffenlieferungen diskutieren sollten.
Tim Wegner
20.02.2023

Waren Sie überrascht über den russischen Angriff auf die Ukraine?

Arnd Henze: Erschüttert ja, aber nicht überrascht. Der Angriff hatte sich über Monate abgezeichnet. Als Gesellschaft wie auch als Kirche mussten wir aber in ganz kurzer Zeit einen Lernprozess nachholen: Ein Krieg mitten in Europa wird Realität. Das hatten viele als unvorstellbar ausgeblendet.

Arnd HenzeARD-Hauptstadtstudio/Eric Thevenet

Arnd Henze

Arnd Henze ist berufenes Mitglied der 13. EKD-Synode. Als Fernsehjournalist beim WDR beschäftigt er sich seit mehr als 30 Jahren mit internationalen Krisen und Konflikten.

Wie dachten Sie vor einem Jahr über Waffenlieferungen an die Ukraine?

Es ist interessant, dass wir sofort auf das Thema Waffen kommen. Das ist eine Falle, in die wir oft gehen. Diese Falle haben wir uns als Kirche in den ersten Tagen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine selbst gestellt, indem der Friedensbeauftragte der EKD, Bischof Kramer, kategorisch sagte: keine Waffen! Seitdem liegt der Fokus in jedem Interview auf dieser Frage. Ich finde, das ist falsch.

Warum?

Die erste Frage sollte sein: Wie sieht die Realität aus? Und worin besteht unsere Verantwortung angesichts dieser Realität?

Zu welcher Antwort kommen Sie?

Ein Land und die Menschen, die dort leben, sind auf fürchterliche Weise angegriffen worden. Für mich kann es keine andere ethische Haltung geben als glaubwürdig zu machen: Unser Platz ist an der Seite der Opfer. Wir müssen alles tun, was verantwortbar und geeignet ist, um die Opfer dieses Krieges zu schützen und zu unterstützen. Erst daraus leitet sich dann die Frage nach den notwendigen und verantwortbaren Mitteln ab. Und da geht es um viel mehr als um militärische Unterstützung. Stattdessen diskutieren wir seit einem Jahr oft sehr abstrakt über Waffen als solche. Ich wundere mich über jeden, der das alles schwarz oder weiß denken kann.

Mit schwarz und weiß meinen Sie die beiden konträren Haltungen, "Waffen ja, egal, aus welcher Gattung!", und auf der anderen Seite, "Schluss mit den Waffenlieferungen!"?

Der 24. Februar hat alle Gewissheiten erschüttert. Trotzdem müssen wir in ganz fürchterlichen Dilemmata Entscheidungen treffen. Das bleibt der Politik nicht erspart, es bleibt der Gesellschaft nicht erspart – und der Kirche auch nicht.

"Wenn es Waffensysteme gibt, die Flugkörper aus der Luft holen, bevor sie in Wohnblöcke einschlagen, kenne ich kein einziges ethisches Argument, das dagegenspricht"

Ihre Haltung ist: "Alles, was verantwortbar ist." Was heißt das konkret?

Wir haben gelernt, dass es nichts bringt, etwas auszuschließen, was Wochen oder Monate später von der Realität überholt wird. Warum ein einzelner Waffentyp eine große qualitative Veränderung bringen würde, müsste immer neu begründet werden. Es ist unstrittig, dass es auf keinen Fall darum gehen kann, aus der Abwehr des russischen Angriffs eine Offensive gegen Russland zu ermöglichen. Eine andere Frage ist, wie lange die Unterstützung der Ukraine noch einen so großen Rückhalt in der Bevölkerung hier bei uns, aber auch in anderen Ländern hat. Das Frühjahr wird da möglicherweise entscheidend sein. Wenn es gelingt, die russische Offensive abzuwehren, entsteht vielleicht eine Chance auf ernsthafte Verhandlungen. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass in den USA bald der Wahlkampf beginnt. Wie wird die Unterstützung der USA weitergehen? Das kann heute niemand wissen. Und damit kalkuliert auch Putin.

Was erleben Sie, wenn Sie sich in Kirchengemeinden Diskussionen stellen?

Ich erlebe auf Veranstaltungen viel Offenheit dafür, unvoreingenommen nachzudenken. Es gibt zwar auch dort einzelne, die genau wissen, was richtig und was falsch ist. Aber wenn man zwei Stunden Zeit hat, kann man Argumente, Sorgen und Fragen abwägen. Am Ende sind da oft zwei bleischwer gefüllte Waagschalen, aber sie können nicht in der Schwebe bleiben. Und manche Entscheidungen fallen mir leichter: Wir haben zum Beispiel eine Verantwortung, die Menschen in den Städten Hunderte Kilometer entfernt von der Front vor den dauernden Terrorangriffen aus der Luft zu schützen. Wenn es Waffensysteme gibt, die Flugkörper aus der Luft holen, bevor sie in Wohnblöcke einschlagen, kenne ich kein einziges ethisches Argument, das dagegenspricht. In den Diskussionen erlebe ich dann, dass man sich auf so eine konkrete Verantwortung gemeinsam verständigen kann. Und schon sind wir weg von der pauschalen Frage, "Ja oder Nein zu Waffenlieferungen?", sondern denken von der konkreten Aufgabe her, Menschen zu schützen.

Aber damit hören die Fragen ja nicht auf, es geht längst auch um Panzer oder Flugzeuge.

Auch hier geht es um konkrete Abwägungen: Was ist jetzt notwendig, um die schon begonnene russische Offensive so abzuwehren, dass nicht in ein paar Wochen oder Monaten wieder Städte wie Cherson oder Charkiw von russischen Truppen besetzt sind? Und wo sind unkalkulierbare Eskalationsrisiken? Ich höre dazu viele Sorgen, und ich habe sie auch. Die Offensive abzuwehren und die Menschen in der Ukraine vor den verbrecherischen Angriffen zu schützen, machen die Panzerlieferungen für mich schweren Herzens notwendig. Es ist eine Entscheidung mit furchtbaren Konsequenzen. Und es kann sein, dass ich in ein paar Monaten anders denke. Genau diese Offenheit, eine suchende Haltung einzunehmen, erlebe ich aber auch auf den Veranstaltungen.

In Deutschland werden Rufe lauter, zu Verhandlungen mit Russland zu kommen. Die Petition "Manifest für Frieden" wurde knapp 500.000 Mal unterschrieben. Auch Margot Käßmann gehört zu den Unterzeichnerinnen. Was meinen Sie?

Ich kenne niemanden, der nicht lieber heute als morgen zu Verhandlungen kommen würde, die zum Ziel haben, dem Völkerrecht wieder Geltung zu verschaffen. Und genau das wäre doch die Voraussetzung dafür, dass Verhandlungen sinnvoll sind. Ins Leere hinein Verhandlungen zu fordern, ist perfide. Denn es unterstellt denen, die derzeit Waffenlieferungen befürworten, oder gar den Ukrainern, die um ihr Leben kämpfen, den Krieg auf ewig fortsetzen zu wollen.

Der Philosoph Jürgen Habermas hat sich in der "Süddeutschen Zeitung" zu Wort gemeldet, auch er hofft auf Friedensverhandlungen. Und er unterscheidet zwischen zwei Positionen. Einerseits, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe. Andererseits wertet er die Position als bellizistisch, dass die Ukraine den Krieg gewinnen und Russland ihn verlieren müsse. Hilft Ihnen diese Unterscheidung weiter?

Ich lese Habermas' Text als Versuch, eine Lagerbildung aufzulösen - hier das Verhandlungs-, dort das Waffenlieferungslager. Da droht eine Spaltung der westlichen Gesellschaften. Seine Antworten überzeugen mich weniger, aber Habermas zeigt uns Wege auf, wie wir auch sprachlich runterkommen. Die Formulierung, dass Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe, hat eine doppelte Stärke. Sie verhindert das - von niemandem gemeinte - Missverständnis, als ginge es um mehr als eine Beendigung der russischen Aggression. Und sie ermöglicht, ein Ende des Krieges mitzudenken, bei dem auch die ukrainische Regierung ihrer Bevölkerung schmerzliche Zugeständnisse vermitteln müsste. Umso mehr finde ich es unglücklich, hier von "Kompromissen" zu reden. Grundlage für einen Kompromiss ist, dass zwei Seiten legitime Interessen haben und einen Ausgleich finden. Es gibt aber keine legitimen Interessen Russlands in diesem Krieg. Ein Land anzugreifen, bleibt ein durch nichts zu rechtfertigender Verstoß gegen das Völkerrecht, der nicht durch einen "Kompromiss" legitimiert werden darf.

"Es kann gelingen, vernünftig miteinander ins Gespräch zu kommen"

Sie sind Journalist. Vor dem Entschluss der Bundesregierung, Leopard-Panzer zu liefern, wurde den Medien vorgeworfen, sie würden Gegenargumenten nicht ausreichend Raum geben und die Überlegungen des Kanzlers als Zaudern verunglimpfen. Zu Recht?

Mediale Debatten werden oft von denen bestimmt, die für klare Pole stehen: "Entweder – oder", "zu schnell – zu langsam". Abwägende Positionen gehen in solchen Polarisierungen oft unter. Darüber wird in Redaktionen auch intensiv gesprochen. Auf der anderen Seite hat der Kanzler auch selbst dazu beigetragen, dass ihm Zaudern vorgeworfen wurde, weil er ein Erklärungsvakuum geschaffen hat. Er hat seine abwägende Haltung nie ordentlich kommuniziert und erklärt. Umso mehr brauchen wir Räume, in denen wir die Erfahrung machen: Es kann gelingen, vernünftig miteinander ins Gespräch zu kommen und auszuhalten, dass andere auch gewichtige Argumente haben. Das ist eine riesige Möglichkeit für die Kirche!

Inwiefern?

Als Kirche haben wir solche geschützten Räume, in denen nicht die lautesten und entschiedensten Stimmen alles übertönen. Viele Menschen sind verunsichert und suchen nach Orientierung. Viele wollen die Dilemmata ansprechen und haben viele Fragen. Und trotzdem bestärken wir uns darin: Wegducken geht nicht. Wir sollten auch viel selbstbewusster zeigen, was für eine steile Lernkurve wir genommen haben. Wir haben es zum Beispiel als EKD-Synode geschafft, eine sehr differenzierte Position zu formulieren, die unsere Verantwortung für die Ukraine gemeinsam benennt und zum Maßstab des notwendigen Ringens um die geeigneten Mittel macht. Und dabei auch den Horizont weitet auf die globalen Folgen der russischen Kriegsführung durch die Blockade von Getreide und Energie.

Auch in der Kirche tun sich Gräben auf. Können wir sie wieder zuschütten?

Es ist für manche wie eine Vertreibung aus dem Paradies, wenn man sich das Friedenswort der EKD-Synode 2019 heute ansieht. Die Welt war damals schon nicht so friedlich, wie die Synode sich das gewünscht hat. Diesen schmerzhaften Prozess der Rückkehr in eine unfriedliche Realität machen nun viele durch. In dieser Realität muss sich der Primat der Gewaltlosigkeit bewähren und der Versuchung widerstehen, in einem schmutzigen Krieg nach einer sauberen Ethik zu suchen. Ich sehe darin eine Aufgabe öffentlicher Seelsorge - im Raum der Kirche dürfen wir hadern, klagen und Unfertiges sagen. Aber auch die Kraft finden, der Realität standzuhalten und mit der Übernahme von Verantwortung auch auf Vergebung zu hoffen.

Sollte die Kirche den Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche in Russland halten?

Patriarch Kyrill ist ein Kriegsverbrecher wie Putin. Wenn ich eine Hoffnung auf eine zivilgesellschaftliche Kraft in Russland suche, dann schaue ich auf die Soldatenmütter, die Ehefrauen, Partnerinnen und Familien. Es hat sich im ersten Tschetschenienkrieg gezeigt, wie groß der Einfluss der Mütter gerade in einer so konservativen Gesellschaft sein kann. Wenn sich so eine Protestbewegung wieder bilden sollte, würde das auch die Geistlichen in den Gemeinden vor die Frage stellen: Bin ich loyal zu meiner Gemeinde, die um ihre zwangsrekrutierten Männer bangt und trauert? Oder zu meinem Patriarchen, der den Krieg religiös verbrämt? Ökumene ist sinnvoll, wenn wir die verbliebenen Kontakte in die Gemeinden pflegen und sehr sorgsam jede Stimme des Widerspruchs zum Krieg behutsam unterstützen.

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Die Zwiespältigkeit hat einen Namen und einen Wert. 1. Zu den Guten und Edlen gehören. 2. Um jeden Preis. Auch einen Preis, den andere mit dem Leben bezahlen müssen, damit man selbst zufrieden in den Spiegel schauen kann. Ist Nächstenliebe nur eine tatenlose Sympathie oder ein tätiges Opfer? Schauen Sie zu und beten, statt abzuwehren, wenn ein Kind vergewaltigt wird? Ist der Krieg keine Vergewaltigung? Es gibt in beiden Kirchen (Rom in Bezug auf die menschlichen Eigenschaften) eine unverantwortliche bigotte Selbstsicht und -Sucht. . Was hätte Jesus gemacht? Er hätte den Angreifern den Sieg, das Paradies verweigert. Er hätte ein Nadelöhr als nicht zu überwindendes Hindernis aufgestellt. Und was kann ein Panzer? Der kann das Nadelöhr vor einer gewalttätigen Öffnung schützen. Aber so weit kann man nicht denken, wenn man glaubt, im sicheren Hafen zu sein.

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Pazifismus ist edel und gut. Auch hilfreich? Ist er auch dann noch gut, wenn der andere die Zähne fletscht und der Edle lächelnd die Stirn zum Kopfschuss hinhält? Siehst Du nicht, wie edel ich bin! Bitte sei wie ich! Nein, meine Freiheit, meine christlichen Werte will ich nicht verteidigen. Ich will auch nicht, dass ein Anderer mich und meine Werte verteidigt. Das Christentum kann untergehen, das Böse kann siegen, Hauptsache ich bin auch noch als Toter edel und nie gegen das Böse hilfreich gewesen! Das ist in letzter Konsequenz die Toleranz der Intoleranz. Was sind das für Christen, oder sind das überhaupt welche, die nicht einmal bereit sind, ihren Glauben zu verteidigen, ihre Freiheit gering achten und beide ihrem subjektiven Wohlfühlempfinden unterordnen!