Ukrainische Familie findet Wohnung dank Nachbarschaftsnetzwerk
Helfen zieht Kreise – und macht glücklich
Eine Wohnung für eine ukrainische Familie finden, dazu Möbel und nicht zuletzt Freunde: ein fulminantes Erfolgserlebnis für chrismon-Autorin Gabriele Bärtels.
Illustration von mehreren Menschen mit Möbeln, Pflanzen
Die neue Wohnung war ja komplett leer, es fehlte eine Küche, und die Familie besaß bis auf ein paar wacklige Bettgestelle fast nichts
Nina Kaun
02.02.2023
6Min

Als ich erfuhr, dass die ukrainische Familie, die ich im März nach ihrer Flucht aus Irpin bei Kiew übergangsweise beherbergt hatte (­chrismon plus 05/2022), aus ihrer derzeitigen Unterkunft ausziehen musste, bekam ich es mit der Angst.

Beide Kinder waren mittlerweile eingeschult, spielten mit Freunden aus der Nachbarschaft, gingen zum Fußball und in einen Schachkurs. Kariina, die Mutter, hatte 15 Stunden Deutsch­unterricht in der Woche, und seit ein paar ­Wochen war nun auch ihr Mann ange­kommen – krank, sonst hätte er nicht aus­reisen dürfen.

Seit Monaten sah ich die ­Familie nur sporadisch. Sie hatten ihr wackliges Leben in einem fremden Land einigermaßen selbst im Griff, und so war es ja auch gedacht.

Doch nun sollte diese Familie wieder ihre Sachen packen und ins Ungewisse ziehen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Flüchtlingsunterkunft bedeutete, denn es gibt keine Wohnungen in Berlin. Die Kinder würden aufs Neue aus allem rausgerissen, sie hätten wieder nur ihre Rucksäcke mitnehmen können.

Ringförmige Wellen der Hilfsbereitschaft

Wochenlang war Kariina treppauf, treppab gelaufen, um Angebote zu besichtigen, aber entweder war sie eine von Hundert Interessenten oder wurde auch schon mal zur Seite geschoben: "Ukrainer? Nein, nein."

Ihr Deutsch war viel zu schlecht, um irgend­einem Vermieter zu verdeutlichen, dass sie, Mann und Kinder eine ordentliche Mittel­stands­familie waren, mit denen es nie Schwierig­keiten geben würde. Ihr Gatte verstand kaum ein Wort Englisch. Über Be­ziehungen verfügte Kariina nicht. Es waren nur noch drei Monate bis zum Auszugstermin.

Als ich im Nachbarschaftsnetzwerk ­nebenan.de einen Post mit den Worten "­Suche das Unmögliche: eine Wohnung für eine ukrainische Familie" veröffentlichte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass er wie ein Kiesel­stein war, den ich in stilles Wasser warf. Es entstanden ringförmige Wellen der Hilfs­bereitschaft, die weit nach außen rollten.

Die Erste, die half, war die Nachbarin, die mir den Tipp mit der leeren Wohnung gab, zusammen mit der Durchwahlnummer des zuständigen Hausverwalters. Der Zweite, der half, war eben dieser Hausverwalter, der nicht sofort wieder auflegte, sondern sich meine Geschichte anhörte. Er bat mich, diese noch einmal schriftlich zu formulieren, und versprach, die Mail an den Eigentümer weiter­zuleiten.

Diese mir bis heute unbekannte Person war die Dritte, die half, denn sie war einver­standen, dass die Familie die leerstehende Wohnung besichtigte. Als ich Kariina diesen Termin mitteilte, fühlte ich mich wie eine stolze Lottogewinnerin.

Eine Viertelstunde vorher warteten ­Kariina, ihr Mann Petro und ich vor der Haustür auf den Hausmeister. In den weitläufigen Grün­anlagen um die Mietshäuser standen ­Fußballtore und baumelten Schaukeln. Die Wohnung lag nur wenige Kilometer vom ­j­etzigen Aufenthaltsort der Familie entfernt, die Kinder würden weiter ihre Schule be­suchen können.

Sorge und Hoffnung standen ihr ins Gesicht geschrieben

Petro, der in seiner Heimat Programmierer ist, hier aber sprachlos war, lächelte unsicher. Kariina fror. Ihre Sorgen und ihre Hoffnung standen ihr ins blasse Gesicht geschrieben. Dann näherte sich der Hausmeister mit den Schlüsseln, und ich sah gleich, dass er Herzensgüte besaß. So wurde er der Vierte, der half.
Die Vierzimmerwohnung, die er uns aufschloss, war hell, sauber und mit 80 Quadratmetern groß genug. Kariina stand im Flur und brach in Tränen aus.

"Do you want it?", fragte der Hausmeister in einem berlinerisch gefärbten Englisch.

"Yes", schluchzte Kariina und fiel erst mir um den Hals, dann dem Hausmeister.
Dessen Augen wurden feucht, er knurrte: "Naa!", und klopfte der schmalen Ukrainerin ungeschickt auf den Rücken.

Den Umzugstransport übernahm ein mir vollkommen fremder Mensch mit seinem Firmentransporter. Er machte gar kein Aufhebens davon, sondern lächelte, schleppte und sagte ruhig, er freue sich, helfen zu können.

Eine deutlich spürbare Wolke des Glücks ließ sich über uns allen ­nieder und übertrug sich auf den Haus­verwalter, der augenblicklich telefonisch informiert wurde und nur jubelnde Stimmen im Ohr hatte.

Am nächsten Tag rief der Hausmeister an: "Keene Ahnung, wie viele Wohnungsbesichtigungen ich in meinem Leben absolviert habe – gestern war mit Abstand die emotionalste."

Wir lachten und waren schnell beim Du.

Fängt man erst mal an, zu helfen, dann stellt man fest, dass man sich nicht einfach wieder herausziehen kann. So auch jetzt. Die neue Wohnung war ja komplett leer, es fehlte eine Küche, und die Familie besaß bis auf ein paar wacklige Bettgestelle fast nichts. Zwar hatten sie beim Jobcenter einen Antrag auf Einrichtungspauschale gestellt, doch das Amt ließ nichts von sich hören.
So kam es, dass der Hausmeister und ich über Wochen eine Standleitung unterhielten. Er schaffte Waschmaschine, Herd, ­Kühlschrank und ein kleines Sofa herbei, warb bei den Nachbarn um Unterstützung für die neuen Mieter, schenkte Petro Werkzeug.

An jeder Türschwelle ergab sich ein Gespräch

Man macht sich selten ein Bild, aus wie ­vielen großen und kleinen Einzelteilen ein Haushalt sonst noch besteht. Alles musste nun kos­tenlos organisiert werden. Das ukrainische Ehepaar konnte dazu wenig beitragen: Selbst wenn sie in Internetkleinanzeigen ein zu verschenkendes Möbel entdeckt hätten, konnten sie nicht in flüssigem Deutsch darum bitten. Hinzu kam, dass ihnen jeglicher Transport unmöglich war, denn sie hatten kein Auto.

Wieder postete ich eine Nachricht im Nachbarschaftsnetzwerk. Von da an hagelte es Angebote, und ich war plötzlich vollzeit­beschäftigt. Fünfzig Nachrichten beantworten, Termine vereinbaren, um Fotos und Maße ­bitten.

Dann setzte ich mich ins Auto und kurvte kilometer­weit durch die Nachbarschaft, stand vor ­Villen, Häuschen und Wohnungstüren, sammelte Mikrowelle, Staubsauger, Steh­lampe, Kinderschreibtische, Esszimmerstühle, Gardinenstangen, Kinderfahrrad, Töpfe, ­Pfannen, Geschirr, Besteck, Dübel, Dreierstecker und vieles andere mehr. An jeder Türschwelle ergab sich ein Gespräch und ich lernte lauter freundliche Menschen kennen. Zwei Männer waren spontan bereit, die gespendeten Möbel in ihren ­eigenen, größeren Autos zur neuen Wohnung der Familie zu bringen.

Die stand inzwischen voller alter Küchenmöbel, die Petro mit engagierter Hilfe des ­früheren Eigentümers, der zum Glück Russisch sprach, anderswo ausgebaut und hertransportiert hatte. Die Möbel waren fettverklebt, aber solide. Ohne Unterstützung und mit einer geliehenen Stichsäge machte Petro die Sachen für die neue Küche passend, während Karii­na sie tagelang putzte.

Allerdings: Ist man in den Netzwerken erst mal sichtbar, wird man heutzutage auch schnell zur Zielscheibe einer Handvoll Hasserfüllter, die sich ­darüber hermachten, dass diese ­Ukrainer nun eine Wohnung hatten und sie nicht. Sie schrieben, wie sie in jungen Jahren mit Orangenkisten gelebt hätten und dass Flüchtlinge nicht anspruchsvoll zu sein hätten. Und dass solche wie ich schuld daran seien, wenn Putin hier einmarschiere.

Nach drei Wochen Möbelsammeln zieht die Familie endlich um

Die Dame eines gemeinnützigen Umzugsunternehmens, die ich freundlich fragte, ob sie eventuell ein paar schwere Wohnzimmerschränke umsonst transportieren könnten, spuckte mir am Telefon entgegen, dass es zahlreiche Studenten gebe, die keine Wohnung kriegten, worauf ich zurückfragte, ob sie mich etwa für diesen Mangel verantwortlich mache. Das Gespräch endete frostig.

Den Umzugstransport übernahm dann ein mir vollkommen fremder Mensch mit seinem Firmentransporter. Er verschob ­seinen Feier­abend, machte gar kein Aufhebens davon, sondern lächelte und schleppte und sagte ­ruhig, er freue sich, helfen zu können. Ver­mittelt hatte dieses Herz aus Gold die ­Besitzerin der Schränke. Zum Abschied bedankten wir uns alle gegenseitig und schieden froh und erschöpft voneinander.

Inzwischen dürften es mehr als 30 Menschen sein, die etwas gegeben oder geholfen haben. Auch die direkten neuen Nachbarn, die alle selbst Kinder haben, boten Rat und Tat an. Eine konnte einen Arzttermin für Petro vermitteln, der andere brachte ein Bettgestell für den Jungen.

Morgen, nach drei Wochen des Kücheneinbaus und Möbelsammelns, zieht die Familie endlich um. In der Wohnung herrscht noch Chaos, aber es ist bereits ein funktionierendes Heim in der Fremde und jedes gespendete Stück darin ­atmet ein herzliches Willkommen.

Mir ist bewusst, dass die meisten der Hunderttausend Ukrainer, die mittlerweile in Berlin gestrandet sind, keinen deutschen Für­sprecher haben, der sich für sie einsetzt. Da ich die ­ ganze Welt nicht retten kann, bin ich ­zufrieden, ­wenigstens in meinem kleinen Teich ein paar Wellen erzeugt zu haben. Und abends gehe ich mit dem wohltuenden Gefühl ins Bett, das Richtigste getan zu haben. Das kann ich nur jedem als Schlaftablette empfehlen.

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Sehr geehrte Frau Bärtels,

vielen Dank für Ihren Artikel und Ihr Engagement für die urkrainische Familie, die mit Ihrer und der Hilfe anderer eine Wohnung gefunden hat. Das ist eine schöne Geschichte und ich freue mich für die Familie.

Ich bin aber über ihren Satz mit der "ordentlichen Mittel­stands­familie, mit denen es nie Schwierig­keiten geben würde" gestolpert. Hat so eine Familie mehr Recht auf Wohnraum als eine nicht ordentliche Mittelstandsfamilie? So könnte man Ihren Artikel verstehen. Und was sind eigentlich die Kriterien für eine ordentliche Mittelstandsfamilie? Können Sie mir das erklären?

Im Übrigen warten nicht nur hunderttausend in Berlin gestrandete Urkainer auf deutsche Fürsprecher, sondern auch viele Geflüchtete aus aller Welt. Meine Beobachtung des letzten Jahres ist, dass diese Menschen, wie auch in Ihrem Artikel geschehen, nicht mehr beachtet werden und auch ansonsten gegenüber urkrainischen Geflüchteten benachteiligt werden.

Umso wichtiger ist es, dass sie in den Medien, z. B. in Ihren Artikeln Beachtung finden.

Mit freundlichen Grüßen
Lisa Hammel

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"Und abends gehe ich mit dem wohltuenden Gefühl ins Bett, das Richtigste getan zu haben." Es freut mich immer, wenn eine gut schlafen kann. Und wer das kann, weil es ihr sogar gelingt, das Adjektiv "richtig" zu steigern - Bitteschön!

Da beschließen also die Führer von Staaten und Staatenbündnissen, ordentlich die Waffen krachen zu lassen. Die Untertanen sind bemüht, das Richtige zu tun. Sie ziehen also in den Krieg, denn im Krieg geht es immer um die Höchstwerte, die ganz oben im Wertehimmel hängen. Das "Richtigste" eben.

Manchen gelingt die Flucht. Jetzt brauchen sie eine Wohnung. Die bekommen sie nicht, auch wenn sie die richtige Hautfarbe haben und von der richtigen Seite der richtigen Front kommen. Sie können nicht bestehen in der Konkurrenz der Wohnungssuchenden.

Weil das allen klar ist, ist es einen Zeitschriftenartikel wert, wenn eine Familie mit Unterstützung doch eine Wohnung ergattert.

So schaut dann ein fulminantes Erfolgserlebnis aus. Die Welt ist also ein Erlebnispark, der Erlebnisse, insbesondere schöne Erfolgserlebnisse, bietet. Bei solchen Ein-, An- und Aussichten würde ich eher eine schlaflose Nacht riskieren und mir das mit dem Erlebnispark und seinen "Ringförmige(n) Wellen der Hilfsbereitschaft" noch mal gut überlegen. Vielleicht ist diese Vorstellung von der modernen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Staatenwelt doch nicht ganz das "Richtigste".

Friedrich Feger