epd: Frau Kurschus, Sie werden am 14. Februar 60 Jahre alt. Welche
Bedeutung hat das für Sie?
Annette Kurschus: Ich gebe zu: Die Zahl 60 gibt mir zu denken, das
ist ein bisschen Seniorenalter. Aber mein Gefühl sagt mir,
ich bin jetzt eigentlich mittendrin und freue mich auf die Aufgaben,
die vor mir liegen. Bei mir stellt sich eine Menge Dankbarkeit ein.
Annette Kurschus
Empfinden Sie die kirchlichen Ämter und die damit verbundene
zeitliche Beanspruchung nicht manchmal auch als belastend?
Natürlich hat das immer zwei Seiten. Ich liebe meine
Kirche, will mich für sie engagieren und gewinne sehr viel durch
bereichernde Begegnungen und Erlebnisse. Damit sind aber auch
Verluste verbunden.
Zum Beispiel?
Musik hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt.
Aber regelmäßig eine Chor- oder Orchesterprobe zu besuchen, das ist
zurzeit einfach nicht drin. Und das fehlt mir.
"Sich auf der Straße festzukleben: Das schafft eine Menge Unmut"
Sie gehören zu der Generation, der viele junge Menschen
vorwerfen, auf ihre Kosten zu leben, was Ressourcenverbrauch und
Klimaschutz angeht. Fühlen Sie sich schuldig?
Schuldig ist ein Tick zu viel, aber ich spüre Verantwortung. Mir war schon lange bewusst, dass es mit unserem Lebensstil nicht so weitergehen kann, weil er die gesamte Schöpfung extrem belastet und ausbeutet. Aber ich habe das - ehrlich gesagt - beiseitegeschoben. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich mich
von Jugend an konsequent für den Schutz der Umwelt engagiert hätte.
Das Verantwortungsgefühl ist bei mir erst in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Insofern ist "schuldig" womöglich doch nicht das falsche Wort.
Würde sich eine heute 20-jährige Annette Kurschus der "Letzten
Generation" anschließen?
Den Zielen ja, aber die konkreten Aktionen des Protests
sehe ich kritisch. Das wäre vermutlich auch als 20-Jährige so
gewesen. Sich auf der Straße festzukleben und Kunstwerke zu
verunstalten: Das schafft eine Menge Unmut und negative
Aufmerksamkeit. Es lenkt von den wichtigen Zielen ab, und das schadet
dem Klimaschutz eher.
Und als Theologin, könnten Sie mit der Betitelung "Letzte
Generation" leben?
Nein. "Letzte Generation" klingt apokalyptisch, widerspricht jeder Hoffnungstheologie. Und ich halte es auch für eine
Form von Hybris, von sich zu behaupten, man gehöre zu den Letzten,
die noch etwas tun können. Zugleich verstehe und unterstreiche ich
ausdrücklich das Signal, das in der Bezeichnung steckt: Jetzt muss
gehandelt werden, und zwar sofort, es ist höchste Zeit, wir dürfen
nichts mehr aufschieben.
Was tun Sie persönlich für Umwelt und Klima?
Ich versuche, möglichst wenig Strom zu verbrauchen, überlege bei jeder Fahrt, ob ich statt des Autos das Fahrrad oder die Bahn nehmen kann, und fliege so selten wie möglich. Ich ernähre mich fast ausschließlich vegetarisch und achte auf Regionales und Saisonales.
"Wie können wir attraktiver machen, was wir zu sagen haben?"
Die EKD-Synode hat ein Tempolimit fürs Führungspersonal der
Kirche beschlossen, konkret eine Selbstverpflichtung von 80 Kilometern pro Stunde auf Landstraßen und 100 auf Autobahnen. Halten Sie sich daran?
Ja, die Synode hat so beschlossen, und da wird natürlich
auch auf mich geschaut. Tempo 100 finde ich aber persönlich zu
scharf.
Sie haben sich selbst in der Synode kritisch geäußert, warnten
vor einem moralisierenden Auftreten der Kirche. Tatsächlich wurde die
Tempolimit-Entscheidung scharf kritisiert. Hat der Beschluss der
evangelischen Kirche geschadet?
In seiner Zuspitzung hat er stark die öffentliche Aufmerksamkeit gebunden, wodurch andere Themen der Synode in den Hintergrund getreten sind. Das war nicht glücklich. Aber es ist klar, dass ein Tempolimit eine enorme Reduzierung des CO2-Ausstoßes mit sich bringt. Ich stehe ohne Wenn und Aber dahinter, dass wir uns kirchlicherseits beim Klimaschutz engagieren. In jedem Falle macht
der Ton die Musik. Und da ist mir wichtig, dass wir nicht andere belehren, sondern zuallererst bei uns selber anfangen. Darauf habe ich bei der Synode hingewiesen.
Hat die Kirche ein Kommunikationsproblem?
Wir halten in der Gesellschaft die Hoffnung wach. Die Botschaft, die wir in die Welt tragen, hilft Menschen zum Leben und zum Sterben. Sie erlaubt, schuldig zu werden und zu scheitern - und dennoch wieder aufzuatmen und aufzustehen. Das scheint mir gerade angesichts der aktuellen Erfahrungen von Verletzlichkeit und Endlichkeit unverzichtbar. Mich beschäftigt, wie wir bekannter und attraktiver machen können, was wir zu sagen haben.
Was steht dem im Wege?
Möglicherweise ist es der kritische Blick auf die
Institution, der Menschen davon abhält, offen für die Inhalte zu
sein.
"Die Frage der Lieferung von Waffen führt Christen in ein Dilemma"
Ist nicht auch die Vielstimmigkeit in der evangelischen Kirche
Teil des Problems? Ganz konkret gefragt: Wie steht die Evangelische
Kirche in Deutschland (EKD) zu Waffenlieferungen an die Ukraine?
Die evangelische Kirche unterstützt alles, was dem Frieden dient und Leben schützt. Wir stehen an der Seite der Angegriffenen. Die brauchen alle Unterstützung, auch indem wir diejenigen aufnehmen, die aus der Ukraine flüchten. Die Frage der Lieferung von Waffen führt Christen zwangsläufig in ein
Dilemma, denn Jesus setzt eindeutig auf den Verzicht von Gewalt. Zugleich würde Jesus wohl auch sagen: Ihr müsst euch an die Seite derer stellen, deren Leben bedroht ist. Da streiten also zwei wichtige Anliegen miteinander. Die streiten auch in den allermeisten Christen selbst. Ich halte das in dieser Frage für eine unausweichliche und zwingend nötige Mehrstimmigkeit. Die meisten in
unserer Kirche tragen die Lieferung von Waffen notgedrungen mit, wenn
auch mit blutendem Herzen und starken Skrupeln.
Bald wird Deutschland Kampfpanzer an die Ukraine abgeben, und
auch der Wunsch nach Kampfjets steht im Raum. Beunruhigt Sie das?
Ja, das wird mir zunehmend unheimlich. Wir haben immer betont: Die Verteidigung muss Ziel der Waffenlieferungen sein, Angriffswaffen stellen das infrage. Ich befürchte, das könnte nun immer weiter eskalieren.
Sie haben in einer Predigt am Reformationstag gesagt: "Verachtet
Verhandlungen nicht." Das erntete teils scharfe Kritik, weil es als
Abkehr von der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine verstanden
wurde. Wie haben Sie das erlebt?
Die überaus harsche Kritik fand ich überzogen. Im Nachhinein ist mir deutlich: "Verhandlungen" kann missverstanden werden im Sinne von "rechtsverbindliche Friedensverhandlungen". Die habe ich in meiner Predigt nicht gemeint, mir ging es darum, dass die Gesprächskanäle und die Brücken zwischen Menschen nicht abbrechen dürfen.
"Ein Suizid darf keine reguläre Option neben anderen sein"
Zu einem anderen Thema: Der Bundestag berät über eine Regulierung des assistierten Suizids als Form der Sterbehilfe. Welche gesetzliche Regelung befürworten Sie?
Aus evangelischer Sicht ist klar: Ein Suizid darf keine reguläre Option neben anderen sein. Das Recht des Menschen auf Selbstbestimmung und der unbedingte Schutz des Lebens dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, weder am Anfang noch am Ende des Lebens. Menschen in absoluten Grenzsituationen zur Seite zu stehen, muss für uns im Mittelpunkt stehen. Und dabei dürfen wir auch jene nicht alleine lassen, die sich nichts als den eigenen Tod wünschen. Es gibt Extremsituationen, in denen ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr sieht als den Suizid. Der Suizid darf aber nie zu einem
wählbaren Angebot werden. Umgekehrt dürfen wir einen Suizidwunsch nicht verdammen und kriminalisieren. Vielmehr müssen wir alles tun, was in unserer
Möglichkeit steht, damit Menschen nicht in eine solche Situation
geraten.
Kann es unter dieser Maßgabe sein, dass sich Sterbehilfe letzten
Endes in einem juristischen Sinne nicht befriedigend wird regeln
lassen?
Ich bin keine Juristin, aber mir scheint, dass dies so ist. Ich kann mir keine gesetzliche Regelung vorstellen, die dieser vielschichtigen existenziellen Frage in jeder Hinsicht gerecht wird. Das hat wohl damit zu tun, dass unser Leben und Sterben im Letzten ein Geheimnis bleibt.
"Der Schutz des Lebens ist das klare Ziel"
In der Ampel-Koalition gibt es auch Druck, die Regelung zum
Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Besorgt Sie das?
Es ist gut, dass darüber noch einmal intensiv debattiert wird. Seitens der EKD sind wir bereit, in den angekündigten Kommissionen mitzuarbeiten und unsere Sicht einzubringen. Der Schutz des Lebens ist das klare Ziel. Allerdings geht es bei diesem Thema immer um zwei Leben. Das noch ungeborene Leben des Kindes ist unbedingt schützenswert. Doch es kann und darf nicht geschützt werden gegen das Leben der werdenden Mutter.
Erfüllt das die jetzige Regelung, nach der Abtreibung verboten,
unter engen Voraussetzungen aber straffrei ist?
In der aktuellen Debatte geht es in meinen Augen beinahe ausschließlich um das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau. Da kommt mir das werdende Leben, das in Gottes liebender Hand steht, zu kurz. Trotzdem muss die jetzige Regelung sehr genau daraufhin überprüft werden, ob sie die schwangere Frau und ihre Rechte ausreichend berücksichtigt.
Das Interview führten Corinna Buschow und Karsten Frerichs für den Evangelischen Pressedienst (epd).
Schrecklich unheimlich.
Unheimlich ist das schon lange. Putins Einflüsterer Kadyrow, der Scharfmacher aus Tschetschenien, hat jetzt als Reaktion auf die Hilfe an die Ukraine gesagt, dass unsere neuen Bundesländer ja eigentlich russisches Einflussgebiet sind, und deshalb dort ein Einmarsch berechtigt ist. Demnach eine Absicht, auch vollkommen unabhängig von dem Angriff auf die Ukraine. Eine Argumentation und Absicht, wie gegen die Ukraine, auch ganz nach dem Motto: "Wer sich wehrt, ist selbst schuld, wenn er geschlagen wird". Das ist die verbrecherische Schuldzuweisung von mittelalterlichen Folterknechten. Eine andere Methode der Berechtigungs- und Wahrheitsfindung: Einen Nichtschwimmer ins Wasser stoßen. Wenn sich der dennoch retten kann, ist er entweder ein Lügner oder mit dem Teufel im Bunde. In jedem Fall ist er der Folter und des Todes wert. Und mit solchen Leuten also verhandeln! Wer ist denn nun hier unheimlicher? Wer so "angriffslustig" ist oder wer diese Wesensart leugnet, obwohl sie schon vorher immer wieder bewiesen wurde? Und verlassen Sie sich darauf, nur die Befürchtung einer Niederlage könnte den Angriff auf unser Territorium verhindern. Wenn es aber nach der Maxime geht, "Lieber untergehen als zu verlieren" (vermutlich Hitlers letzte Überzeugung), ist endgültig die Toleranz der Intoleranz angekommen. Ein Suizid, weil man, egal was geschieht, zu den "Guten" gehören will. Die Unfreiheit und der Tod als Opfergabe für die Werte, die dann auch verloren sind. So ist nur noch die Naivität unheimlich und ...gefählich!.
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