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Die Freundschaft zwischen den einstigen Erbfeinden Deutschland und Frankreich ist eines der großen europäischen Wunder. Die großen Wunder in der Geschichte fallen nicht vom Himmel. Kleine Wunder bahnen ihnen den Weg. Eines dieser kleinen Wunder jährt sich demnächst zum hundertsten Mal. Es ist eine unerwartete Begegnung, die sich Ende März 1923 im Lutherhaus zugetragen hat, dem Versammlungshaus einer Zechensiedlung in Datteln im nördlichen Ruhrgebiet.
Gerade jetzt, da Frieden so quälend aussichtslos erscheint und jeder Weg dahin verbaut; gerade jetzt, da neue Feindschaften sich gefährlich verfestigen, brauchen wir Geschichten von solchen kleinen Wundern. Geschichten, die davon erzählen, wie unüberwindbare Verfeindungen auf wundersame Weise doch überwunden wurden.
1923, die Zeit des Ruhrkampfes. Gewalt, Erschießungen und Anschläge prägen den Alltag auch in Datteln, wo der französische Besatzungsoffizier Etienne Bach für Ordnung sorgen soll. "Durchglüht von Hass" sei der Mann nach Verwundung und persönlichen Verlusten gewesen, sagt der Historiker Eitel Wolf Dobert. Antipode des französischen Offiziers ist Karl Wille, ein glühender Patriot. Er ist stellvertretender Amtsmann, sozusagen der Bürgermeister, und hat klipp und klar erklärt, er werde keinen französischen Befehl ausführen. In Kürze soll er deswegen verhaftet werden.
Annette Kurschus
Am 30. März 1923, es ist Karfreitag, zieht es Etienne Bach in den Gottesdienst. In Uniform nimmt er Platz in einer Ecke des Lutherhauses. Nach der Predigt feiert die Gemeinde das Abendmahl. "Langsam lösen sich rechts und links aus den dunklen Säulengängen die Gestalten und schreiten zum Altar", berichtet Dobert. "Da plötzlich, das Blut stockt allen Anwesenden, treten die beiden größten Feinde vor den Tisch. Werden die beiden aus demselben Kelch trinken? In der kleinen Kirche starrt jedermann wie gebannt auf zwei kniende Menschen."
Sie haben aus einem Kelch getrunken. Der Bürgermeister wird nicht verhaftet. Sie werden keine Freunde. Aber es geht fortan ganz gut in Datteln. Etienne Bach gründet später das Versöhnungswerk "Kreuzritter".
Was ging in diesen beiden Menschen am Altar vor, die der Krieg zu Feinden machte? Es bleibt ein Geheimnis. Fest steht: Hier wirkt etwas, das größer ist als alles, was Feinde voneinander denken und gegeneinander planen.
Es ist die Kraft der Worte und der Gesten des Abendmahls, das Heilige der Gegenwart Gottes. Und diese Macht wirkt. Sie ist unbezwingbar, ohne zu zwingen. Sie bewirkt, dass die beiden Männer sich nicht entziehen, sondern sich anziehen lassen, miteinander zu knien vor dieser Macht, die stärker ist als die erfahrenen Verletzungen und Gewalttaten, stärker auch als ihr Patriotismus und ihr Hass. Sie müssen nicht selbst eine Form schaffen, in der sie zusammenkommen können – sie ist ihnen gegeben. Sie müssen nicht selbst das Friedenswort finden – es wird ihnen gesagt.
Das Abendmahl ist ein Friedensraum, der bereits gebaut ist. In diesen Raum können sie eintreten. Gottlob haben sie es getan: So leuchtet mitten im Karfreitag 1923 an diesem Ort in Datteln Ostern auf.
Daran werden sich dieses Jahr sicherlich einige erinnern, da wir den 60. Geburtstag des Élysée-Vertrags feiern. 1963, im Jahr, als der Vertrag geschlossen wurde, kehrte Etienne Bach noch einmal nach Datteln zurück und stiftete einen Abendmahlskelch zum Gedenken an die "unerwartete Begegnung", die sein Leben entscheidend verändert hat.
100 Jahre liegt sie nun zurück. Wir werden das besondere Jubiläum in Datteln feiern, und ich freue mich darauf, aus dem gestifteten Kelch trinken zu dürfen. Wunder wie diese unerwartete Begegnung gibt es bis heute. Ich gebe die Hoffnung auf Frieden nicht auf.
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