Begegnung - Margot Kässmann und Karsten Wächter
Begegnung - Margot Kässmann und Karsten Wächter
Evelyn Dragan
Margot Kässmann und Karsten Wächter über den Afghanistaneinsatz
Ist wirklich gar nichts gut?
Vor 20 Jahren begann der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Zu Recht, sagt Militärdekan Karsten Wächter. Ein Fehler, erwidert die Theologin Margot Käßmann.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
23.05.2022
11Min

chrismon: "Nichts ist gut in Afghanistan" – für diese fünf Worte aus der Neujahrspredigt 2010 gab es massive ­Angriffe auf Sie, Frau Käßmann. Im Nachhinein – fühlen Sie sich im Recht?

Käßmann: Das wäre zynisch. Die Bilder vom Flughafen in Kabul, die Bilder von Menschen, die jetzt noch festsitzen in Abu Dhabi – es ist ein Trauerspiel. Für das Land ist es ein einziges Drama. Ich möchte gar nicht recht behalten.

Warum haben Sie damals so drastisch formuliert?

Käßmann: Viele, die damals ihr Urteil gefällt haben, hatten die Predigt gar nicht gelesen, nur diese fünf Worte herausgegriffen. Es ging um die Jahreslosung "Euer Herz erschrecke nicht". Damals endete Nina Ruge immer ihre Sendung mit den Worten "Alles wird gut". Und dagegen wollte ich etwas setzen. Nichts ist gut in Deutschland, wenn jedes sechste Kind in Armut aufwächst. Bei der Klimafrage. Und in ­Afghanistan. Da habe ich gesagt, mir fehlt der ganze zivile Aufbau in Afghanistan, die Fantasie für den Frieden. Die Zeitung "Die Welt" hat dann diese fünf Wörter hochgezogen, dazu wurde Herr Schäuble gefragt, dann kam die Empörungswelle. Das hat ein paar Tage gedauert.

Tim Wegner

Ursula Ott

Ursula Ott ist Chefredakteurin von chrismon und der digitalen Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH. Sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin bei der "Frankfurter Rundschau", als Redakteurin bei "Emma", als Autorin und Kolumnistin bei der "Woche", bei der "Brigitte" und bei "Sonntag aktuell" sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. 2020 und 2021 wurde sie unter die 10 besten Chefredakteur*innen des Jahres gewählt. 2019 schrieb sie den Bestseller "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren".
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Wächter: Anfang Januar brandete die Welle dann bei uns in Kundus an. Ich habe Ihnen damals einen Brief ge­schrieben. Was mich geärgert hat: ein Satz von ­Ihnen, dass dieser Einsatz "auch mit den weitesten Maß­stäben evange­lischer Friedensethik nicht vereinbar" sei. Da dachte ich: ­Moment! In der Friedensdenkschrift steht was ­anderes. Und ich bin überzeugt nach Kundus gegangen. Das war ja keine Kaserne und kein Feldlager, da wurden zivile ­Kräfte hingebracht – NGOs, technische Kräfte, Aus­wärtiges Amt – und das musste abgesichert werden. Die Absicht war, die Afghanen nach der Taliban-Herrschaft beim Aufbau einer Zivilgesellschaft zu unterstützen. Das militärische Element sollte Sicherheit für die zivilen ­Organisationen bieten. Ab ungefähr 2006 kamen aber viele Taliban zurück, der Druck nahm enorm zu. Im ­Sommer 2009 fragten sich die Soldaten nicht mehr, ob sie heute angegriffen werden, sondern wo und wann. Dass es nicht mehr Opfer unter den Deutschen gab, grenzt für mich an ein Wunder. Aber die Notwendigkeit, sich zu schützen, sich nur noch in gepanzerten Fahrzeugen zu bewegen, das hat diese ganze Idee zunichtegemacht, dass man auf Augenhöhe miteinander reden kann, nicht als Besatzer kommt, sondern als Helfer.

"It's war, what else?"

Tragen Sie da eigentlich Uniform?

Wächter: Im Einsatz trage ich auch Flecktarn und statt Dienstgrad unser Logo mit dem Kreuz. Und natürlich ­keine Waffe.

In Ihrem Brief an Margot Käßmann schreiben Sie von "rechtserhaltender Gewalt" . . .

Wächter: . . . und ich ging noch weiter und schrieb: Wir ­haben viel zu wenige Kräfte in Afghanistan. Die Deutschen sind in die Dörfer gefahren mit dem Versprechen: Wir beschützen euch. Aber dafür waren es viel zu wenige deutsche Soldaten! Die Afghanen waren ja selbst massiv von den Gefechten und Sprengstofffallen betroffen, mit denen die Aufständischen die ausländischen Kräfte bekämpften.

Frau Käßmann, was antworten Sie darauf?

Käßmann: Ich bin damals ja kritisiert worden, dass ich gesagt habe: Das ist ein Krieg. Meine amerikanischen Freunde hatten längst gesagt: "It's war, what else?" Nur wir Deutschen taten so, als ob die Bundeswehr zum Brunnenbohren und Mädchenschulenbauen gekommen sei. Aber das war Augenwischerei! Die Amerikaner haben 9/11 als Kriegserklärung interpretiert. Ihre Antwort war der Einsatz in Afghanistan. Und wir haben uns mit der Bundeswehr angeschlossen. Wie kann man das "rechtserhaltende Gewalt" nennen! Ich habe auch immer bezweifelt, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt wird. Der Einsatz in Afghanistan entsprach nicht der Lehre vom gerechten Frieden. Die Lehre vom gerechten Krieg haben wir ja zum Glück zu den Akten gelegt. Und dann geht man mit Armeen in ein Land, dessen Kultur wir nicht kennen. Die Bundeswehr war nicht auf Einladung von Afghanistan da . . .

Wächter: Ich muss Ihnen da widersprechen. Es gibt zwei Mandate. "Operation Enduring Freedom" der Amerikaner. Sie haben Afghanistan erobert mit dem Ziel, sich nach den Anschlägen von 9/11 gegen Terrorismus zu verteidigen . . .

"... und dann machen wir eine Wurzel­behandlung"

Käßmann: Warum ist man dann nicht nach Pakistan ­gegangen?

Wächter: Ja, die Argumentation steht auf tönernen Füßen. Die USA haben sich im Krieg und angegriffen gefühlt, aber es war nicht richtig klar, wo der Feind denn herkommt. Es hieß, die Wurzel des Übels sitzt in Afghanistan, Osama bin Laden, und dann machen wir eine Wurzel­behandlung. Das griff natürlich viel zu kurz. Dann fand die Petersberger Konferenz statt, um zu sehen: Wie kann Afghanistan ein stabiles Land werden? Dazu flankierend gab es das ISAF-Mandat, das muss man auseinanderhalten. ISAF beruhte auf einer UN-Resolution, die auf Bitten der afghanischen Regierung zustande kam. Und ich beziehe mich nur auf ISAF. Leider hat man da zu spät realisiert, dass auch Karsai in die Korruption verstrickt war . . .

Käßmann: . . . und ihn bis zum Schluss hofiert! Das war immer wieder so. Ich seh noch Gaddafi im Park des Élysée-­Palastes zelten. Den hat man auch viel zu lange hofiert. Bis heute haben viele Taliban ihre Familien in Pakistan, sie gehen da zur Schule. Afghanistan war nur ein Schauplatz für die.

Was war los nach "Nichts ist gut in Afghanistan"?

Käßmann: Es gab beides. Viele haben geschrieben, endlich sagt es jemand. Andere sagten, ich lasse die Bundeswehr im Stich. Ich war sogar zum CDU-Präsidium eingeladen. Friedbert Pflüger und Franz Josef Jung sagten, meine Worte erinnerten sie an Pfarrer, die im Talar Demonstrationen anführen. Aber das war in den 1980er Jahren. Ich habe nie im Talar eine Demonstration angeführt, weil ich finde, das wäre ein Missbrauch des Talars. Übrigens bin ich auf das Thema Afghanistan durch einen Soldaten gekommen, der bei mir in der Bischofskanzlei war. Er war bei einem Angriff schwer traumatisiert worden. Ich weiß, die Versorgung ist inzwischen besser geworden, aber damals sagte dieser Soldat zu mir: Ich bin ein psychisches Wrack, Frau Käßmann – wohin kann ich mich wenden? Und nachdem ich die Trauerfeier für den Fußballer Robert Enke gehalten hatte, schrieb mir eine Frau: Ist ja schön, Frau Käßmann. Aber mein Mann ist im Zinksarg aus Afghanistan zurückgekommen, wo waren Sie denn da? Und da dachte ich, warum sind wir so still? Da sind Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, und wir tun so, als wäre es das Technische Hilfswerk. Ich wollte das hinterfragen. Wir können das nicht einfach so hinnehmen, dass wir in Afghanistan – weit ab von Nato-Gebiet – Krieg führen.

"Ich bin ­Pazifistin, ich möchte keine Waffen benutzen"

Würden Sie Ihren Brief eigentlich noch mal schreiben? Sie sind ja auch Theologe und kennen die Bergpredigt . . .

Wächter: Ja. Ich habe bei der Bundeswehr gelernt, dass es Szenarien gibt, die mit der Bergpredigt nichts mehr zu ­ tun haben. Damals konnte ein römischer Soldat jeden x-Beliebigen zwingen: "Du trägst jetzt mein Gepäck" . . .

. . . und Jesus sagt in der Bergpredigt: "Wenn dich jemand eine Meile nötigt, so gehe mit ihm zwei . . . "

Wächter: . . . und wenn ihr zusammen geht, dann passiert was, es entsteht eine Beziehung, und die Feindschaft wird aufgebrochen. Ich merke, das ist ein Mensch. Bei dem Einsatz in Afghanistan war genau das nicht mehr möglich. Man sah sich einer feindlichen Macht gegenüber, die sich nicht mehr an die Genfer Konvention gehalten hat. Es ­wurden ganz gezielt die Schwächen ausgenutzt, zum Beispiel die Sani-Fahrzeuge angegriffen. Da kann ich ­keine Meile mehr zusammen gehen. Ich habe ja auch eine ­Gewissensthematik. Ich habe den Kriegsdienst ­verweigert, weil ich mir als junger Mann nicht vorstellen konnte, auf Menschen zu schießen. In der Verhandlung 1984 das übliche Szenario: Herr Wächter, Sie laufen durch einen Wald mit Ihrer Freundin und eine Gruppe Bewaffneter bedroht Sie und will Ihre Freundin vergewaltigen.

Käßmann: Standardfrage!

Wächter: Ich sitze 2009 in der Kantine mit einem Hauptgefreiten aus der Kampfkompanie. Und er fragt mich: Herr Pfarrer, stellen Sie sich vor, wir haben Deichbruch – Deichbruch ist das Synonym für durchbrochene Sicherheitsanlagen – und alle schießen wild um sich. Ich blute stark. Was machen Sie da? Natürlich antworte ich nicht: Beten und Gesangbücher lesen. Ich werde tierischen Schiss ­haben und hoffe, ich bin dann handlungsfähig, um uns mit einer Waffe zu verteidigen. Dann sage ich doch nicht: Liebe deine Feinde und halte die andere Wange hin.

Käßmann: Genau, denn wenn Sie das sagen würden, wären Sie nicht Militärseelsorger geworden. Ich sage, ich bin ­Pazifistin, ich möchte keine Waffen benutzen. Und gleichzeitig bin ich nicht so arrogant zu sagen: Ich weiß, dass ich in keinem Fall meinen kleinen Enkel verteidigen würde, wenn jemand dem was tut. Es ist eine Grundhaltung, ich möchte keine Waffe in die Hand nehmen und möchte auch nicht, dass andere das tun. Das findet man naiv. Ich weiß.

"Mehr Diplomatie, Gespräche, Sanktionen, aber nicht mehr Waffen"

Sie sprechen von Fantasie für den Frieden, Frau Käßmann – was meinen Sie damit?

Käßmann: Nehmen Sie das Forum Ziviler Friedensdienst, rund 40 Organisationen, die Menschen in Deeskalation und Mediation ausbilden. Das finde ich überzeugend. Der Politikwissenschaftler Markus Weingardt hat an 40 Konflikten gezeigt, wie religiös motivierte Akteure zur Deeskalation beitragen, weil sie vor Ort leben, die ­Menschen kennen, ihnen vertraut wird. In Timor-Leste etwa hat ein katholischer Bischof beharrlich auf dem Weg in die Unabhängigkeit von Indonesien vermittelt. Und in der Zentralafrikanischen Republik gehen ein Bischof und ein Imam zusammen von Dorf zu Dorf und erklären den Leuten: Ihr seid keine Feinde, ihr werdet zu Feinden gemacht. Für diese beiden habe ich die Laudatio beim ­Aachener Friedenspreis gehalten. Wenn man das Geld der Militäreinsätze im Irak und in Afghanistan in Landwirtschaft investiert hätte, in faire Handelsstrukturen, in Bildung, dann sähe die Welt heute anders aus.

Wächter: Verfeindete Parteien zusammenbringen setzt natürlich voraus, dass man noch einen Gesprächskanal hat.

Wie sähe "Fantasie für den Frieden" im Ukrainekrieg aus?

Käßmann: Mehr Diplomatie, mehr Gespräche, mehr Sanktionen, aber nicht mehr Waffen. Finden Sie eigentlich richtig, Herr Wächter, dass die jungen Leute finanzielle Anreize bekommen, um in Auslands­einsätze zu gehen?

Wächter: Sie meinen den Auslandsverwendungs­zuschlag? Natürlich ist das Geld ein Motivationspunkt. Die Kon­firmanden sitzen auch nicht bei uns wegen des Glaubensbekenntnisses. Sondern wegen der Geschenke. Im Lebenskundlichen Unterricht reflektiere ich mit den Soldaten regelmäßig, warum sie genau in den Einsatz ­gehen wollen. Sie sollen sich bewusstmachen, wofür genau sie Leben, Gesundheit oder Partnerschaft riskieren.

Käßmann: Man muss aber auch mal aussprechen, dass das ein Lockmittel ist.
Wächter: Das ist kein Lockmittel. Es ist eine Entschädigung, dass ich vier Monate oder länger weg von zu Hause bin und mein Leben fürs Vaterland riskiere. Jeder Monteur bekommt Schmutz- oder Gefahrenzulage.

"Soldaten setzen sich Gefahren aus, und dann werden sie als Mörder beschimpft"

Was sagen denn die Soldaten jetzt, wenn sie auf ihren Einsatz zurückblicken?

Wächter: Total schwierig. Viele fragen sich, wozu ihre Opfer gut waren, besonders, wenn einer ihrer Kameraden gefallen ist. Und sie sind wütend, dass man nicht früher dafür gesorgt hat, die afghanischen Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen. Aber die 20 Jahre waren immerhin ein Zeitfenster, in dem Mädchen zur Schule gehen konnten, Frauen studieren. Mir war schon 2010 klar, wenn wir abziehen, sind sofort die Taliban wieder da.

Käßmann: Aber Brunnenbohren und Mädchenschulen bauen ist nicht Aufgabe einer Armee. Damit wurde in ­Afghanistan und in Deutschland der Einsatz begründet. Das fand ich immer absurd.

Wächter: Soldaten folgen einem politischen Mandat, selbst wenn sie persönlich keinen Sinn drin sehen. Sie ­setzen sich Gefahren und Belastungen aus, im Auftrag des Bundestages, und dann werden sie zu Hause als Mörder beschimpft – das ist extrem frustrierend!

Sind Sie ernüchtert über friedenserhaltende Gewalt?

Wächter: Ja, ich bin insgesamt ernüchtert. Wir müssen ­sehen, dass es absolut abscheuliche, schreckliche Dinge gibt, die Menschen anderen Menschen antun. Ich finde, es muss jemanden geben, der sich dem entgegenstellt. Angesichts des Angriffs auf die Ukraine stehen wir wieder vor der gleichen Frage. Die Bergpredigt ist da am Ende. Schließlich haben auch alle diplomatischen Lösungs­versuche nichts ­genutzt. Und wir stehen vor einem ­großen Dilemma, weil wir wirtschaftlich so eng mit Russland verwoben sind.

"Du wirst schnell Teil des Systems. Im Auftreten. Mit Uniform"

Gibt es Einsätze, bei denen besser keine Militärseel­sorger mitgehen sollten?

Käßmann: Entschuldigen Sie, aber ich finde generell Militärseelsorge schwierig. Das war bei der Wiedervereinigung ein großes Thema. Ich habe neulich einen alten Pfarrer in Pommern gesprochen, der sagte: Wir haben doch die Soldaten in der DDR auch nicht alleingelassen. Jeder Soldat in der Nationalen Volksarmee (NVA) konnte jederzeit zu mir kommen. Brauchen wir wirklich diese Struktur, in der Sie hauptamtlich tätig sind? Bis vor kurzem war auch der Militärbischof gleichzeitig Bischof einer kleineren Landeskirche und damit eingebunden in die Strukturen der EKD. Ich sehe kritisch, dass sich das geändert hat. Da kommt so eine schleichende Identität. Wer bezahlt Sie eigentlich?

Wächter: Der Staat. Ich bin von meiner Landeskirche für den Dienst bei der Bundeswehr beurlaubt.

Käßmann: Wenn ich höre: "Wenn ich mit den Kameraden rausfahre" – bitte sagen Sie: mit Menschen, die ich betreue. Du wirst doch schnell Teil des Systems. Im Auftreten. Mit der Uniform. Ich habe da ein Unbehagen.

Wächter: Ich sage das nie. Ich bin Pfarrer und kein Soldat, und ich kann auch nicht das, was sie können. In anderen Armeen sind Seelsorger auch Soldaten und haben Dienstgrade, bei uns nicht. Ich bin in meiner Verkündigung frei und nur meinem Bischof rechenschaftspflichtig, so sieht es der Militärseelsorgevertrag vor. Es gibt einen schmalen Grat zwischen Anpassung und Differenz. Ich fühlte mich sehr geehrt, als mir 2004 in Bosnien ein Feldwebel seine Panzerlitzen zum Abschied schenken wollte. Er meinte es als Zeichen der Verbundenheit, wir haben unter einem Dach gewohnt, abends oft zusammengesessen und über Gott und die Welt gequatscht. Natürlich färbt die Umwelt Bundeswehr ab, aber man darf sich nicht anbiedern. Und doch sagen sie auch: "Der ist einer von uns und weiß, wovon wir reden. Zu dem können wir kommen." Dieses Vertrauen ist Voraussetzung für Seelsorge. Im Übrigen: In den 90ern hat man im Osten zehn Jahre lang erprobt, ob wir nicht auch dort Soldaten hauptamtlich begleiten. Das bietet einfach größere Wirkmöglichkeiten. Gemeinde­pfarrer können nicht im Einsatz dabei sein.

"Tut mir einen Gefallen: Tragt nie eine Militäruniform"

Wenn Ihr Neffe zur Bundeswehr will – was sagen Sie?

Wächter: Echt jetzt? Hast du es dir gut überlegt? Ich ­würde nach seinen Gründen fragen, mit ihm die Eides­formel durchdeklinieren und von meinen Erfahrungen im Einsatz und mit den Einsatzgeschädigten erzählen.
Und wenn eines Ihrer Enkelkinder zur Bundeswehr will?

Käßmann: Dann sage ich mit Konstantin Wecker: "Ihr könnt alles machen, aber tut mir einen Gefallen: Tragt nie eine Militäruniform!"

Infobox

Einsätze in Afghanistan

Unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 bekräftigte der UN-­Sicherheitsrat das Recht auf Selbst­verteidigung. Mit Verweis auf diese Resolution bekämpfte die Nato in der Operation ­Enduring Freedom (OEF) Terrorgruppen in ­Afghanistan. Die ­International Security Assistance Force (ISAF) sollte bis Ende 2014 mit afghanischen Behörden Sicherheit im Land schaffen. Von 2015 bis 2021 bildete der letzte Einsatz, Resolute Support (RS), afghanische Sicherheitskräfte aus. Die Bundeswehr war an allen drei Einsätzen beteiligt.

Militärseelsorge

1957 schlossen Bundes­republik Deutschland und ­Evangelische ­Kirche den Militär­seelsorgevertrag: Der Staat bezahlt und ­organisiert die Seel­sorge, die Kirche wählt die Geistlichen aus und beaufsichtigt sie. ­Militärgeistliche unterstehen also ­ keinen Befehlen. Der Vertrag war von ­Anfang an umstritten. Nach der Wieder­vereinigung lehnten die ostdeutschen ­Kirchen ihn zunächst ab. Neben evangelischen und katholischen gibt es auch muslimische und jüdische Militärgeistliche.

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Wir lernen, dass selbst die christliche Nächstenliebe relativ und zweischneidig ist. Mische ich mich nicht ein, hoffe ich Schlimmeres verhindern zu können. Unterstütze ich den Nächsten in seiner lebensbedrohlichen Not, kann das Waffen und persönlichen Einsatz bedeuten. Christlich soll sein: „Liebe und beschütze Deinen Nächsten wie dich selbst“. Die ev. Synode in der Pfalz befindet sich in einem friedensethnischen Dilemma, dass „ein gerechter Friede nicht mit Waffengewalt zu erreichen ist. Andererseits gesteht sie der angegriffenen Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zu“. Ein Recht auf Hilfe steht der Ukraine demnach nicht zu. „Die Synode hat Putin aufgefordert, den Krieg zu beenden. Außerdem spricht sie den Opfern ihr Mitgefühl aus und will sich für die Flüchtlinge einsetzen“. Eine Beerdigungsrede. Ein gerechter Friede? Gibt es denn auch einen ungerechten Frieden und einen gerechten Krieg? Lt. der Diskussion könnte es dann ja auch eine ungerechte Verteidigung geben. Das wäre dann das Ende des Rechts und der Sieg der Gewalt. Die Spirale der Gewalt soll gebrochen werden. Ein Rücksichtsloser klopft mit dem Gewehr an die Tür. Ich will ihr Geld. Verhandlungsergebnis: Ich nehme ihnen ihre Freiheit und das Geld, lass ihnen aber das Leben. Wenn sie sich wehren oder mich anzeigen, verlieren sie alles. Auch ein Einbrecher und Mörder, der nicht gefangen wird, glaubt unangreiflich zu sein. Die Spirale dreht sich unbehindert weiter. Wer ist schuldig? Nicht nur der Agressor, sondern auch der , der ihn durch Gutmütigkeit ermutigt. Wenn Liebe nicht auch Schutz bedeutet, wird alles fraglich und die Hoffnung ist am Ende.

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Was ist denn Krieg? Doch wohl Angriff und Verteidigung. Notfalls auch mit den gleichen Waffen. Wenn eine Abwehr, weil sie der zwingende Teil eines Krieges ist, von Frau Käßmann aus christlichen ethischen Gründen abgelehnt wird, was dann? Denkt man weiter, ist jede Gegenwehr aus ethischen Gründen verwerflich. Konsequent wäre dann auch der Ausbau aller Schlösser. Wenn man aus ethischen Gründen den kriegrischen (>VERBRECHEN) Verlust von Freiheit, Religion und Leben (auch das Derjenigen, die man doch lieben sollte!) hinnimmt, ist das letzlich ein Suizid und eine "bewegungslose" Zustimmung zur Gewalt. Und das alles selbstverständlich mit AT und NT als Vorlage. Hoffentlich nicht mich. Alle Anderen sollten sich meine ethischen Vorgaben zum Vorbild nehmen.

Antwort auf von J. Jasmin (nicht registriert)

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Da war doch was!
War es vor über 80 Jahren nicht auch so, dass man das eigene gute Gewissen (unser Staat und wir sind die Besten) und Wohlbefinden (Konkordat) über das Wohl der Nachbarn stellte? Jetzt möchte man keinen Angriff auf sich selbst provozieren, nimmt aber in Kauf, dass der Nachbar leidet. Wenn das so leicht ist, bekommt Putin noch grösseren Appetit. Machthunger kann man nicht sättigen. Selbst leiden, ohne auf Hilfe hoffen zu dürfen, ist eine Bestrafung durch einen möglichen Nothelfer.

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Auf die Frage nach ihrer "Phantasie für den Frieden im Ukrainekrieg" antwortet Frau Prof. Käßmann: "mehr Diplomatie", mehr Gespräche, mehr Sanktionen". Ich frage Frau Prof. Käßmann:
1.    an welche zusätzlichen Sanktionen denken Sie, die nicht, wie jetzt bei Gas und Öl, Putins Einnahmen für seinen Krieg noch erhöhen, und zu welchen persönlichen Einschränkungen sind Sie bei Sanktionen bereit?
2.    hat es die deutsche Diplomatie, haben Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron es an Diplomatie und Gesprächen mit Präsident Putin fehlen lassen, hat nicht dieser immer wieder den Wunsch Präsident Selenskyis zu einem direkten Gespräch abgelehnt?
3.    was tut die EKD, was tun Sie, Frau Prof. Käßmann persönlich, um Patriarch Kyrill und die Russisch-orthodoxe Kirche von Rechtfertigung und religiöser Unterfütterung des Angriffs auf die Ukraine abzubringen? Haben Sie nicht selber im Jahre 2002 ihre Arbeit im Ökumenischen Rat der Kirchen eingestellt, weil Sie keinen Sinn mehr in Gesprächen mit der Russisch-orthodoxen Kirche sahen?

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In dem beeindruckenden Bericht "Endstation Träume" könnte Frau Käßmann erfahren, dass sie mit ihrem Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" einige Jahre zu früh war. Denn erst seitdem die Anti-Terror-Truppen der NATO aus Afghanistan abgezogen sind, ist wirklich nichts mehr gut in Afghanistan. Frau Käßmann scheint es ja gut zu finden, dass die westlichen Einsatztruppen abgezogen sind. Für junge afghanische Frauen wie Kiana, die ihr Leben riskiert, um in ihrer geheimen Schule Mädchen zu unterrichten, ist es die Endstation ihrer Träume, weil nun die Taliban wieder ungehindert ihr Menschen verachtendes Regime fortführen können.
Vielen Dank für diesen bewegenden Bericht, der ein Kommentar ist zu der für mein Empfinden unerträglichen moralischen Arroganz, mit der Frau Käßmann im Gespräch mit dem evangelischen Militärdekan Karsten Wächter dem NATO-Einsatz in Afghanistan jede Legitimität abspricht und sich auch über die Soldaten der Bundeswehr erhebt, die mit einem demokratischen politischen Mandat ihren Dienst für unser Land tun.

Peter Remy, ev. Pfarrer, Alsfeld

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Sehr verehrte Frau Bischöfin Margot KÄßMANN,
sehr verehrte Frau Ursula OTT,
der deutsche Einsatz in Afghanistan ist an der unglaublichen Korrumpiertheit deutscher Spitzenpolitiker und deren unterirdischer Inkompetenz gescheitert, denn diese Herrschaften haben zwar zwanzig Jahre lang Millionen und Abermillionen Euros an den Hindukusch gepumpt, sich aber um die ordnungsgemäße Verwendung der Gelder überhaupt nicht gekümmert. Ich denke, daß Sie beide darüber sehr gut Bescheid wissen, ich, so gesehen, Eulen nach Athen trage. Außerdem unterstreicht es Ihre Aussage Frau Bischöfin Käßmann, daß "nichts gut ist" in Afghanistan vor allem wenn man die jetzige Situation betrachtet.
Letztlich standen im Licht des politischen Versagens, sowohl die NGOs, als auch die Bundeswehr von vornherein auf verlorenem Posten. Allein in dem Begriff des "Soldaten" steckt doch die Vorstellung, daß sich so jemand für seinen Dienst eine Bezahlung erwartet. Da aber inzwischen unbestritten ist, daß der größte Teil der Gelder aus Deutschland und Europa bei korrupten Beamten und Warlords versackt ist, kam beim einfachen Soldaten kaum etwas an. Medienberichten zufolge mußte die Regierungsarmee zum Teil sogar Hunger leiden. Außerdem konnte ein junger Afghane bei den Taliban mehr verdienen, als bei Karsai, Ghani und Konsorten. Entsprechend hoch war die Rate der Deserteure und die deutsche "Ausbildungsmission" hat im Endeffekt wohl eher den Regierungsgegnern zugearbeitet.
Heute sind die Frauen in Afghanistan die Leidtragenden, die buchstäblich unter die Burke zurückgeprügelt werden und deren Zukunft infrage steht, während sich die Schuldigen in Berlin einen schönen Lenz machen. Leider stehen auf der Liste der Verdächtigen die frühere Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Dorothea MERKEL und der damalige Außenminister und jetzige Bundespräsident Dr. Frank-Walter STEINMEIER ganz oben. Beide und deren KollegInnen waren wohl durch das Kassieren ihrer Boni, Gehälter und Diäten aus der Vielzahl ihrer Ämter so beschäftigt, daß die notleidenden Frauen und Mädchen in Mittelasien keinen Stellenwert haben konnten.
Typisches Politikernarrativ an dieser Stelle ist: "Das sei vergossene Milch", aber im Zeitraum seitdem hat sich ja überhaupt nichts gebessert, denn auch in der aktuellen Situation in Mali und Niger hält der Schlendrian mit den deutschen Hilfsgeldern unverändert an. Jedenfalls ist nichts Gegenteiliges bis zu mir gedrungen.
Nach wie vor gilt der Satz: "Entwicklungshilfe sind Zahlungen, die von armen Leuten in reichen Ländern an reiche Leute in arme Länder fließen."
Mit freundlichen Grüßen und meinen besten Wünschen für Ihre journalistische Arbeit,
insbesondere wünsche ich Ihnen Frau Bischöfin Käßmann: Bleiben Sie wie sie sind!
Lassen Sie sich den Schneid nicht abkaufen!
Stephan JOHN
München

Sehr geehrter Herr John,
man kann ja den auf UNO-Beschluss zustandegekommenen Afghanistan-Einsatz für rückblickend oder schon von Beginn an für falsch gehalten haben. Aber was nicht geht: Für das Misslingen dieses Einsatzes persönliche Korrumpiertheit von Frau Merkel und Herrn Steinmeier verantwortlich zu machen, das ist nicht nur grober Unfug, sondern auch üble Ehrabschneiderei.
Liebe Redaktion von Chrismon: Bitte redigieren Sie Lesermeinungen besser!

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Macht verhandelt nicht.

Macht bedeutet Diktat.
Ohnmacht bedeutet Leid.
Unsicherheit verhandelt.
Wer ohnmächtig verhandelt
diktiert sein eigenes Leid.

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Der Ausspruch von Margot Käßmann löste bei mir sofort zwei Gegenfragen aus: War alles gut in Afghanistan, ehe die Bundeswehr dort eintraf? Und wird alles gut werden in Afghanistan, wenn sie wieder abzieht?
Auch ihre pazifistische Haltung teile ich nicht. Ende der 60er-Jahre habe ich bewusst meinen Wehrdienst abgeleistet, weil ich Krieg/-sdienst verhindern helfen wollte! Denn: Soldaten führen nicht nur Krieg, sie verhindern auch Kriege oder beenden diese. Pazifisten führen selbst zwar keinen Krieg, sie verhindern oder beenden aber auch keine Kriege! Und: Sie sind auch nicht in der Lage, Despoten wie Hitler oder Putin daran zu hindern, Völkern ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Freiheit zu rauben!
Ist es nicht ein schlechter Witz, dass wir in Zeiten der Blöcke NATO und Warschauer Pakt, dem ‚Gleichgewicht des Schreckens‘, in Europa ‚Frieden‘ (genauer ‚nur‘ den ‚Kalten Krieg‘) hatten und heute, da die Bundeswehr nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, haben wir neben dem ‚Kalten‘ auch noch einen schrecklichen und sehr gefährlichen ‚Heißen Krieg‘!
‚Frieden schaffen ohne Waffen‘ ist ein Spruch, der in die Zeit vor dem Sündenfall passt, nicht aber in eine Zeit, in der es Menschen gibt, die ihre politischen Ziele durch Androhung oder Anwendung von Gewalt erreichen wollen!
Mit freundlichen Grüßen
Erwin Beck
Remshalden

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Chrismon 6/ 2022 enthält ein Streitgespräch zwischen Karsten Wächter und Margot Käßmann, das mit dem Titel „Ist wirklich gar nichts gut?“ eine Äußerung Käßmanns zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan vor 12 Jahren zum Ausgangspunkt hat, um mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine zu enden. „Die Lehre vom gerechten Krieg haben wir ja zum Glück zu den Akten gelegt. […] ich möchte keine Waffe in die Hand nehmen und möchte auch nicht, dass andere das tun.“ Auch nicht die ukrainische Armee, die demnach einen ungerechten Krieg führt und besser die Waffen niederlegen sollte, also Platz machen sollte für „Mehr Diplomatie, mehr Gespräche, mehr Sanktionen, aber nicht mehr Waffen“? Dass seit Kriegsausbruch die Diplomatie ununterbrochen aktiv ist, dass sie vor Russlands Angriff am 24. Februar bis buchstäblich zur letzten Stunde wirklich alles versucht hat, auf allen Ebenen, unter Beteiligung vieler Länder, gerade auch von denen der NATO, einen Krieg abzuwenden, scheint Frau Käßmanns Aufmerksamkeit entgangen zu sein. Aber was kann Diplomatie erreichen, wenn Russland der Ukraine die Legitimation abspricht, als eigenständiger Staat existieren zu dürfen? Verträge nicht einhält? Aber sich selbst legitimiert sieht, ein Russland in den Grenzen von 1914 auch mit kriegerischen Mitteln wiederherstellen zu dürfen? Im Zerfall der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts sieht und deshalb die Staaten des früheren Warschauer Pakts zurück in eine von Russland abhängige 'Neutralität' zwingen darf? Angesichts dessen, dass die Ukraine gegen die Garantie ihrer Grenzen massiv abgerüstet hatte, atomar sogar vollständig, kann Frau Käßmanns Schlusszitat „nie eine Militäruniform“ auf vom russischen Angriff Betroffene bestenfalls arrogant wirken, wenn nicht zynisch.